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ASTRO/142: Der verborgene Bauplan des Kosmos (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 1/11 - Januar 2011

Kosmologie
Der verborgene Bauplan des Kosmos

Von Jonathan Feng und Mark Trodden


Das Universum scheint riesige Mengen einer unbekannten Substanz zu bergen, die sich nur durch die Wirkung ihrer Schwerkraft verrät - die Dunkle Materie. Physiker spekulieren darüber, aus welchen exotischen Teilchen sie aufgebaut ist. Seit Neuestem heiß gehandelt: Super-WIMPs.


AUF EINEN BLICK

Verborgene Welten und Kräfte

1. Zwei voneinander unabhängige Gründe sprechen dafür, dass eine unbekannte Substanz, die Dunkle Materie, den Kosmos erfüllt. Zum einen bewegen sich Sterne, Galaxien und Gaswolken so, als würden sie von der Schwerkraft eines unsichtbaren Stoffes beeinflusst. Zum anderen scheinen gleich mehrere Rätsel der Teilchenphysik nur durch Annahme noch unbekannter Partikel lösbar zu sein.

2. Bisher nahmen die meisten Physiker an, die Dunkle Materie bestehe aus WIMPs. Das sind schwere und träge Teilchen, die kaum mit der sichtbaren Welt interagieren.

3. Neue Modelle postulieren jedoch ein komplexes Innenleben von Super-WIMPs für die Dunkle Materie - mit eigenen Kräften und einer fremden Form von Licht, die für uns unsichtbar ist.


Am 23. September 1846 erhielt der damalige Direktor des Berliner Observatoriums, Johann Gottfried Galle (1812-1910), einen Brief, der in die Geschichte der Astronomie eingehen sollte. Absender war der französische Mathematiker Urbain Le Verrier (1811-1877), der die Bewegungen des Planeten Uranus untersucht hatte und zu dem Schluss gekommen war, dessen Bahn könne nicht durch die bekannten Gravitationskräfte erklärt werden. Le Verrier erklärte die beobachteten Abweichungen mit der Existenz eines bislang unbeobachteten Objekts, dessen Schwerkraft die Uranusbahn störe. Auf Grund von Le Verriers Hinweisen ging Galle noch in derselben Nacht zu seinem Fernrohr - und entdeckte den Planeten Neptun.

Etwas ähnlich Spannendes spielt sich derzeit in der Kosmologie ab. Statt Uranus bewegen sich diesmal gleich Sterne und ganze Galaxien quasi unerlaubt; die Rolle des Neptuns übernehmen unbekannte Substanzen, die zunächst einmal Dunkle Materie und Dunkle Energie getauft wurden. Die Dunkle Materie gilt als unsichtbarer Teilchensee, der den Raum ungleichmäßig ausfüllt; die Dunkle Energie ist hingegen so homogen verteilt, als ob sie eng mit dem Raum selbst verwoben wäre. Eines steht allerdings noch aus: Galles Kunststück, ein Instrument auf den Himmel zu richten und die verborgenen Mitspieler eindeutig zu enttarnen. Immerhin geben Teilchendetektoren erste, noch undeutliche Hinweise auf deren Eigenschaften.

Neptun hat sich inzwischen als faszinierende, eigenständige Welt erwiesen. Werden wir dies dereinst auch über Dunkle Materie und Dunkle Energie sagen? Immer mehr Forscher ziehen die Möglichkeit in Betracht, dass insbesondere die Dunkle Materie nicht nur ein Notbehelf zur Erklärung sichtbarer Materiebewegungen ist, sondern eine bislang verborgene Seite des Universums mit einem vielfältigen Innenleben. Sie vermuten einen wahren Zoo von Teilchen, zwischen denen neuartige Naturkräfte herrschen - eine eigene Welt, die mit "unserem" Kosmos wechselwirkt.

Immer mehr Forscher vermuten einen wahren Zoo dunkler Teilchen, zwischen denen neuartige Naturkräfte herrschen

Mit diesen Ideen verabschieden Physiker sich von der lange gehegten Überzeugung, Dunkle Materie und Dunkle Energie seien die ungeselligsten Substanzen des Universums. Seit Astronomen in den 1930er Jahren auf die Existenz Dunkler Materie schlossen, galt Reaktionsträgheit als deren hervorstechendste Eigenschaft. Galaxien und Galaxienhaufen sind demnach von riesigen kugelförmigen Höfen oder "Halos" aus Dunkler Materie umhüllt, von der es insgesamt etwa sechsmal so viel wie von gewöhnlicher Materie zu geben scheint. Doch wie kann sich eine derart gewaltige Masse direkter Beobachtung entziehen? Die einzig mögliche Antwort lautet: Sie muss aus Teilchen bestehen, die kaum mit gewöhnlicher Materie wechselwirken - und auch nicht miteinander. Ihre Bausteine tun also nichts anderes, als der leuchtenden Materie das Gravitationsgerüst zu liefern.

Diese Halos bildeten sich sehr früh in der Geschichte des Kosmos. Sie zogen dann gewöhnliche Materie an, die mit ihren vielfältigen Verhaltensweisen komplizierte Strukturen bildete, während die Dunkle Materie wegen ihrer Trägheit in ihrem primitiven Zustand verharrte. Wie die Dunkle Energie scheint sie nur die kosmische Ausdehnung zu beschleunigen und hat sich offenbar seit Anbeginn überhaupt nicht verändert.

Die Vermutung, Dunkle Materie könnte vielleicht doch ein interessanteres Innenleben besitzen als bislang angenommen, entstammt weniger der Astronomie als der Teilchenphysik. Dort ist es schon fast Routine, im Verhalten bekannter Materie unbekannte Partikel zu erahnen, und zwar völlig unabhängig von kosmischen Bewegungen.


Partikel mit der 100-fachen Protonenmasse

Im Fall der Dunklen Materie begannen solche Überlegungen mit der Entdeckung des radioaktiven Betazerfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der italienische Kernphysiker Enrico Fermi (1901-1954) postulierte eine neue Naturkraft und neue Kraftteilchen, um den Zerfall von Atomkernen zu erklären. Die Kraft ähnelte dem Elektromagnetismus, und die Teilchen glichen den Photonen - freilich mit einem entscheidenden Unterschied: Im Gegensatz zu den masselosen und darum höchst beweglichen Lichtquanten mussten Fermis Teilchen vergleichsweise schwer sein. Ihre Masse würde ihre Reichweite begrenzen und erklären, warum die Kraft Kerne zerfallen lässt, aber sonst unbemerkt bleibt. Um die beobachtete Halbwertszeit radioaktiver Isotope zu liefern, müssten die Partikel die 100-fache Masse des Protons haben - rund 100 Gigaelektronvolt in den Standardeinheiten der Teilchenphysiker.

Die neue Kraft heißt heute schwache Kernkraft, und die hypothetischen Kraftpartikel sind die in den 1980er Jahren entdeckten W- und Z-Teilchen. Sie selbst stellen keine Dunkle Materie dar, aber ihre Eigenschaften deuten in deren Richtung. Denn eigentlich sollten sie leichter sein, als es tatsächlich der Fall ist. Ihre große Masse legt nahe, dass bislang unbekannte Teilchen auf sie einwirken und sie gleichsam zur Gewichtszunahme verleiten. Ein Ziel des Large Hadron Collider - des gigantischen Teilchenbeschleunigers von CERN bei Genf - ist die Suche nach solchen Partikeln mit ähnlichen Massen wie die der W- und Z-Teilchen. Tatsächlich vermuten Physiker, dass Dutzende von Teilchensorten auf ihre Entdeckung warten: ein Partnerteilchen zu jedem bekannten Teilchen gemäß der so genannten Supersymmetrie.

Zu diesen hypothetischen Partikeln gehören schwach wechselwirkende Masseteilchen namens WIMPs (weakly interacting massive particles). Wie ihr Name andeutet, beeinflussen sie ihre Umgebung nur über die schwache Kernkraft. Da sie auf die elektrischen und magnetischen Kräfte, welche die Alltagswelt dominieren, nicht reagieren, bleiben sie völlig unsichtbar und üben auf normale Teilchen kaum direkte Wirkung aus. Das macht sie zu idealen Kandidaten für die kosmische Dunkle Materie. Ob sie diese aber wirklich zu erklären vermögen, hängt davon ab, wie zahlreich sie sind.

Wie alle Partikel dürften die WIMPs im Tohuwabohu des Urknalls entstanden sein. Damals wurden sie durch hochenergetische Teilchenkollisionen sowohl erzeugt als auch gleich wieder vernichtet, so dass zu jedem Zeitpunkt eine gewisse Menge von WIMPs vorübergehend existierte. Wie sich diese Anzahl mit der Zeit veränderte, hing von zwei konkurrierenden Wirkungen der kosmischen Expansion ab. Zum einen nahm mit fortschreitender Abkühlung die zur Erzeugung von WIMPs verfügbare Energie ab - und somit deren Anzahl. Zum anderen sank im Verlauf der Expansion die Teilchendichte und daher auch die Häufigkeit von Kollisionen, bis diese praktisch ganz aufhörten. Ab diesem Punkt, rund zehn Nanosekunden (milliardstel Sekunden) nach dem Urknall, blieb die Anzahl der WIMPs konstant. Das Universum hatte von da an weder die zur Erzeugung von WIMPs nötige Energie noch die dichte Massenkonzentration, um sie zu vernichten.

Wie viele WIMPs wären dann noch übrig? Physiker können das leicht berechnen, wenn sie von der mutmaßlichen Masse der WIMPs ausgehen sowie von der Stärke ihrer Wechselwirkung - von der abhängt, wie oft sie einander vernichten. Erstaunlicherweise entspricht diese Zahl - innerhalb der Genauigkeit der Schätzung von Masse und Wechselwirkung - jener, die zur Erklärung der heutigen kosmischen Dunklen Materie nötig ist. Diese bemerkenswerte Übereinstimmung bezeichnen Physiker als WIMP-Koinzidenz. Somit erklären Partikel, die auf Grund eines 100 Jahre alten Rätsels der Teilchenphysik postuliert wurden, zwanglos kosmologische Beobachtungen!

Seit Sie begonnen haben, diesen Artikel zu lesen, hat schätzungsweise fast eine Milliarde WIMPs Ihren Körper passiert

Seit Sie begonnen haben, diesen Artikel zu lesen, hat schätzungsweise fast eine Milliarde WIMPs Ihren Körper ohne merkliche Wirkung durchquert. Im Lauf eines Jahrs dürfte nur ein einziges solches Teilchen an den Atomkernen in Ihren Zellen gestreut werden und dabei ein wenig Energie abgeben. Um derart seltene Ereignisse überhaupt jemals zu entdecken, bauen Physiker aktuell riesige Teilchendetektoren für die langfristige Überwachung großer Volumina einer Flüssigkeit oder anderer Materialien. Zudem halten Astronomen in der Milchstraße Ausschau nach Strahlungsausbrüchen, welche die vereinzelte Kollision und Vernichtung von WIMPs anzeigen. Eine dritte Vorgehensweise versucht, WIMPs in Experimenten auf der Erde zu synthetisieren (siehe Kasten auf S. 44).


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Unsichtbares sichtbar machen

Alles, was Astronomen bisher über Dunkle Materie wissen, stammt von deren Gravitationswirkung auf die sichtbare Materie. Um herauszufinden, woraus die unsichtbare Substanz überhaupt besteht, testen gegenwärtig tausende Forscher weltweit direkte Nachweismethoden. Die meisten konzentrieren sich dabei auf die Vernichtung, Streuung und Erzeugung von WIMPs:

Vernichtung
Wenn zwei WIMPs kollidieren, zerstören sie einander und hinterlassen als Indiz mehrere andere Teilchen - Elektronen, Positronen und Neutrinos. Diese Paarvernichtung kann nicht sehr häufig vorkommen, sonst gäbe es heute keine WIMPs mehr. Die derzeitigen Experimente sind so empfindlich, dass sie selbst sehr seltene WIMP-Vernichtungen entdecken können.

Detektoren an Stratosphärenballons suchen nach Elektronen und Positronen. Im Jahr 2011 soll der Spaceshuttle das Alpha Magnetic Spectrometer zur Internationalen Raumstation befördern, um von dort aus Positronen aufzuspüren. Das Super-Kamiokande-Experiment in Japan, IceCube in der Antarktis und andere Observatorien halten nach Neutrinos Ausschau.

Streuung
Während die Erde ihre Bahn in der Milchstraße zieht, strömt unbemerkt Dunkle Materie durch sie hindurch. Nur in seltenen Fällen trifft ein WIMP einen Atomkern und versetzt ihm einen fast unmerklichen Rückstoß, der mit empfindlichen und zur Unterdrückung der Atomvibrationen extrem tiefgekühlten Detektoren gerade noch nachweisbar sein dürfte. Die an den Detektor abgegebene Rückstoßenergie gibt Auskunft über die Eigenschaften der Dunklen Materie. Die Experimente DAMA und CoGeNT haben möglicherweise ein Signal entdeckt (unten), doch andere wie XENON und CDMS fanden nichts. Die Empfindlichkeit solcher Experimente steigt derzeit rapide.

Erzeugung
Dunkle Materie könnte in Teilchenbeschleunigern entstehen, insbesondere im Large Hadron Collider bei Genf, wo Protonen mit extrem hohen Energien zur Kollision gebracht werden. Die Erzeugung ist eine umgekehrte Vernichtung: Wenn Dunkle Materie in normale Teilchen zerfallen kann, kann sie auch durch Kollision normaler Teilchen entstehen. Das Kennzeichen für die Produktion Dunkler Materie wären Kollisionen, bei denen scheinbar Energie und Impuls verloren gehen; dabei müssten sich reaktionsträge Teilchen bilden und dem Detektor unbemerkt entkommen.

Vier Experimente, die angeblich Teilchen der Dunklen Materie entdeckt haben
Experiment
CDMS
DAMA
CoGeNT
PAMELA
vollständiger
Name

Cryogenic Dark
Matter Search

Dark Matter


Coherent Germanium
Neutrino Technology

Payload for Antimatter
Matter Exploration and
Light-nuclei Astrophysics
Standort


Soudan-Mine
in Minnesota

unterirdisches
GranSasso-Labor
in Italien
Soudan-Mine


russischer Satellit


Beobachtungen



zwei Rückstoß-
ereignisse


jährliche Schwan-
kung in der
Anzahl der Rück-
stoßereignisse
Rückstoßereignisse



Überschuss an Positronen



Warum das Signal
ein Nachweis für
Dunkle Materie
sein könnte
direktes,
erwartetes
Signal für
Dunkle Materie
statistisch
signifikant


empfindlich für
extrem energiearme
Rückstöße

direktes, erwartetes
Siganl für Vernichtung
Dunkler Materie

Warum das Signal
vielleicht doch
kein Nachweis ist
nicht
statistisch
signifikant
Widerspruch
zu anderen
Resultaten
vielleicht normale
Nuklearprozesse

vielleicht durch
astrophysikalische
Quellen erklärbar
Nachfolge-
experimente
SuperCDMS,
XENON
XENON, MAJORANA
Demonstrator
XENON, MAJORANA
Demonstrator
Alpha Magnetic
Spectrometer

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Die derzeit außerordentlich intensive WIMP-Suche könnte den Eindruck erwecken, diese Partikel seien die einzigen sinnvollen Kandidaten für Dunkle Materie. Doch neuerdings haben Teilchenphysiker andere mögliche Erklärungen entdeckt, in deren Licht die WIMPs nur als Spitze des Eisbergs erscheinen - zum Beispiel Partikel, die noch schwächer reagieren als WIMPs.

Laut dieser Theorie waren die in den ersten Nanosekunden der kosmischen Geschichte entstandenen WIMPs instabil und zerfielen Sekunden bis Tage später in Teilchen mit ähnlicher Masse, die aber nicht mit der schwachen Kernkraft wechselwirken. Nur noch die Gravitation verbindet diese so genannten Super-WIMPs mit der übrigen Natur. Demnach bilden nicht WIMPs, sondern Super-WIMPs die Dunkle Materie des heutigen Universums.


Verzögerte Galaxienbildung

Super-WIMPs wären nicht direkt beobachtbar, würden aber in der Gestalt der Galaxien verräterische Spuren hinterlassen. Die hypothetischen Teilchen hätten sich nach ihrer Entstehung enorm schnell bewegt. Erst nachdem sie mit der Zeit zur Ruhe gekommen wären, hätten sich Galaxien bilden können. Diese Verzögerung hätte der Materie weniger Zeit gelassen, sich in Galaxienzentren anzusammeln, bevor die kosmische Expansion sie wieder verdünnte. Die Dichte im Zentrum der Halos aus Dunkler Materie sollte darum offenbaren, ob sie aus WIMPs oder Super-WIMPs bestehen; genau das überprüfen Astronomen derzeit.

Außerdem müsste der Zerfall von WIMPs zu Super-WIMPs als Nebenprodukt Photonen oder Elektronen erzeugen, und die Teilchen können auf leichte Atomkerne treffen und sie aufbrechen. Es gibt Indizien dafür, dass das Universum weniger Lithium enthält als erwartet, und die Super-WIMP-Hypothese könnte das Phänomen erklären.

Dieses Szenario eröffnet auch neue Beobachtungsmöglichkeiten für Experimentalphysiker. Zum Beispiel muss jedes ursprüngliche WIMP weder dunkel noch schwach wechselwirkend gewesen sein; es könnte sogar eine fast beliebige elektrische Ladung getragen haben. All das hätte die Entwicklung des Kosmos nicht beeinflusst, da das Teilchen schnell zerfiel. Doch zugleich wären WIMPs extrem auffällig, wenn es gelänge, sie experimentell zu erzeugen. Teilchendetektoren würden sie als eine Art Superelektronen registrieren. Mit der Ladung eines Elektrons, aber dessen 100.000-facher Masse würde ein solches Teilchen durch den Detektor rasen und eine spektakuläre Spur hinterlassen.


WIMP-Varianten

Außer den WIMPs ziehen Theoretiker auch so genannte Super-WIMPs als Partikel der Dunklen Materie in Betracht. Super-WIMPs sind noch reaktionsschwächer als WIMPs: Sie treten mit gewöhnlicher Materie nur durch die Gravitation in Wechselwirkung.


baryonisch
WIMP
Super-WIMP
Gravitation
elektromagnetische Kraft
schwache Kernkraft
starke Kernkraft
mögliche dunkle Kräfte
ja
ja
ja
ja

ja

ja

ja
ja



ja

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Im WIMP-Szenario (linke Spalte unten) lösen WIMPs die Galaxienbildung direkt aus. Im Super-WIMP-Szenario (rechts) zerfallen die WIMPs zunächst zu Super-WIMPs, die erst dann - mit Verzögerung - als Galaxienkeime wirken.

Zeitachse:
WIMPs werden beim Urknall erzeugt.
Sie werden langsamer und bilden Galaxienkeime.
Galaxien entstehen.
Galaxien entwickeln sich weiter.
WIMPs werden beim Urknall erzeugt.
Sie zerfallen zu schnellen Super-WIMPs.
Super-WIMPs werden langsamer und bilden Galaxienkeime.
Galaxien entstehen.

Die Super-WIMP-Modelle lehren uns vor allem eins: Die Dunkle Materie muss keineswegs so langweilig sein, wie die meisten Astronomen annehmen. Sobald Partikel denkbar sind, deren Eigenschaften den Rahmen des üblichen WIMP-Szenarios sprengen, eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten. Könnte es am Ende einen ganzen Zoo noch unbekannter Teilchen geben? Existiert vielleicht eine verborgene Welt, die eine exakte Kopie der unsrigen ist, einschließlich verborgener Elektronen und Protonen, Atome und Moleküle, Sterne und Planeten - ja sogar verborgener Menschen?

Diese Möglichkeit wurde ausgiebig erkundet, ausgehend von einer Bemerkung der Nobelpreisträger Tsung-Dao Lee und Chen Ning Yan in einem Artikel von 1956. In letzter Zeit befassten sich unter anderem Robert Foot und Raymond Volkas von der University of Melbourne (Australien) mit dem Rätsel: Könnte das, was wir als Dunkle Materie wahrnehmen, wirklich Indiz für eine verborgene Spiegelwelt sein? Spähen verborgene Physiker und Astronomen dort gerade durch ihre Teleskope und fragen sich, woraus ihre Dunkle Materie besteht - wobei diese für sie geheimnisvolle Substanz in Wahrheit wir sind?


Keine Spiegelwelt

Leider zeigen grundlegende Beobachtungen, dass verborgene Welten keine exakte Kopie unserer sichtbaren Welt sein können. Zum einen gibt es sechsmal mehr Dunkle als gewöhnliche Materie. Zum anderen hätten sich die Halos verflacht und Scheiben wie die Milchstraße gebildet, wenn Dunkle und gewöhnliche Materie sich gleich verhielten - mit drastischen Folgen für das galaktische Schwerefeld, die allen Beobachtungen widersprechen. Und schließlich hätte die Existenz von verborgenen, aber mit unserer Welt identischen Teilchen die kosmische Expansion beeinflusst und die Synthese von Wasserstoff und Helium im frühen Universum verändert. Messungen der Elementhäufigkeit im Kosmos schließen das jedoch aus. Solche Überlegungen sprechen deutlich gegen eine für uns unsichtbare Spiegelwelt.

Dennoch könnte die dunkle Welt durchaus ein kompliziertes Netz aus Teilchen und Kräften bilden. Wie unter anderem einer von uns (Jonathan Feng) und Jason Kumar von der University of Hawaii in Manoa herausgefunden haben, lässt das supersymmetrische Konzept, das zu den WIMPs führt, auch andere Szenarien zu, in denen mehrere andere Teilchentypen an die Stelle der WIMPs treten. Überdies wechselwirken diese Teilchen in vielen WIMPlosen Theorien miteinander durch neu postulierte dunkle Kräfte.

Solche Wechselwirkungen verändern die Erzeugungs- und Vernichtungsrate der Partikel im frühen Universum, aber letztlich ergeben sich wieder die richtigen Teilchenzahlen, um die Dunkle Materie zu erklären. In diesen Modellen wird die Dunkle Materie von einer verborgenen schwachen Kraft begleitet - oder sogar von einer verborgenen Version des Elektromagnetismus. Letzteres würde bedeuten, dass die Dunkle Materie verborgenes »Licht« emittiert und reflektiert.

Dieses Licht ist natürlich für uns unsichtbar, und somit bleibt die Dunkle Materie für unsere Augen weiterhin dunkel. Dennoch könnten neue Kräfte durchaus merkliche Effekte haben. Zum Beispiel würden dadurch Wolken aus dunklen Teilchen verzerrt, während sie einander durch dringen. Die Astronomen suchen nach diesem Effekt in dem berühmten Bullet-Cluster, der aus zwei einzelnen Galaxienclustern besteht, die durcheinander hindurchgegangen sind. Den Beobachtungen zufolge hat die vergleichweise kurze Durchmischung der Cluster die Dunkle Materie allerdings kaum gestört - ein Indiz dafür, dass die dunklen Kräfte zumindest nicht sehr stark sein können.

Über solche Kräfte könnten dunkle Teilchen außerdem Energie und Impuls austauschen; dadurch würden sie homogenisiert, und anfänglich schiefe Halos nähmen Kugelform an. Der Homogenisierungsprozess müsste bei Zwerggalaxien am deutlichsten sein, denn dort bewegt sich die Dunkle Materie langsam. Die Teilchen verweilen länger beieinander, und kleine Effekte haben entsprechend mehr Zeit, sich auszuwirken. Die Beobachtung, dass kleine Galaxien stets runder sind als ihre größeren Verwandten, könnte demnach ein Indiz für neue dunkle Kräfte sein.

Ebenso faszinierend ist die Möglichkeit, dass die Dunkle Materie mit der Dunklen Energie wechselwirkt. Die meisten heutigen Theorien behandeln die beiden zwar als unverbunden, aber dafür gibt es keinen wirklichen Grund. Eine Kopplung zwischen den zwei dunklen Größen könnte einige kosmologische Probleme mildern, insbesondere das Koinzidenzproblem - die Frage, warum sie vergleichbare Dichten haben. Die Dunkle Energie ist rund dreimal so dicht wie die Dunkle Materie, aber das Verhältnis könnte theoretisch ja auch 1000 oder eine Million zu eins betragen. Diese Koinzidenz ergäbe einen Sinn, wenn die Dunkle Materie irgendwie die Entstehung der Dunklen Energie verursachte.

Durch Kopplung mit der Dunklen Energie könnten die Partikel der Dunklen Materie auch anders miteinander wechselwirken als gewöhnliche Teilchen. Neue Modelle erlauben - und erzwingen mitunter sogar -, dass die Dunkle Energie auf Dunkle Materie eine andere Kraft ausübt als auf normale Materie. Unter dem Einfluss dieser Kraft ist die Dunkle Materie bestrebt, sich von jeder Vermengung mit gewöhnlicher Materie zu lösen.


Zwerggalaxie als Nagelprobe

Im Jahr 2006 forderten Marc Kamionkowski vom California Institute of Technology in Pasadena und Michael Kesden, damals am Canadian Institute for Theoretical Astrophysics in Toronto, diesen Effekt bei Zwerggalaxien zu suchen, die von größeren Nachbarn zerrissen werden. Beispielsweise wird die Sagittarius-Zwerggalaxie von der Milchstraße auseinandergezerrt, und nach Meinung mancher Astronomen verstreut sie ihre Dunkle und normale Materie in unsere Galaxis hinein.

Wie Kamionkowski und Kesden vorrechnen, müssten die auf Dunkle Materie wirkenden Kräfte nur um vier Prozent stärker oder schwächer sein als ihr Einfluss auf die übliche Materie, damit die beiden Komponenten um einen beobachtbaren Betrag auseinanderdriften. Bislang ließ sich allerdings nichts dergleichen durch Beobachtung feststellen.

Eine Bindung zwischen Dunkler Materie und Dunkler Energie würde zudem das Wachstum kosmischer Strukturen verändern. Dieses hängt empfindlich von der Zusammensetzung des Universums ab, also auch von dessen dunkler Seite. Mehrere Forscher, darunter einer von uns (Mark Trodden) zusammen mit Rachel Bean, Éanna Flanagan und Istvan Laszlo von der Cornell University (Ithaca, US-Bundesstaat New York), haben diese starke Einschränkung kürzlich genutzt, um eine große Gruppe von Modellen auszuschließen.

Trotz solcher Rückschläge sind die theoretischen Argumente für eine komplexe dunkle Welt heute so überzeugend, dass viele Forscher überrascht wären, wenn die Dunkle Materie nicht mehr sein sollte als ein undifferenzierter Schwarm von WIMPs. Schließlich umfasst die sichtbare Materie ein reiches Spektrum von Teilchen mit mehrfachen Wechselwirkungen, denen elegante Symmetriebeziehungen zu Grunde liegen.

Nichts spricht dagegen, dass das bei Dunkler Energie und Dunkler Materie genauso ist. Höchstwahrscheinlich werden wir niemals dunklen Sternen, Planeten oder Menschen begegnen - doch genauso, wie für uns heute zum Sonnensystem selbstverständlich Neptun, Pluto und ein ganzer Schwarm noch weiter entfernter Objekte gehören, werden wir uns vielleicht eines Tages kein Universum mehr ohne eine fassettenreiche und faszinierende dunkle Welt vorstellen können.


Die Autoren
Jonathan Feng (links) ist Professor für theoretische Physik und Astronomie an der University of California in Irvine. Er erforscht mit den Mitteln von Teilchenphysik und Kosmologie das Wesen der Dunklen Materie.
Mark Trodden ist Kodirektor des Center for Particle Cosmology an der University of Pennsylvania und ein Autor des Physik-Blogs Cosmic Variance: http://blogs.discovermagazine.com/cosmicvariance

Quellen
Feng, J.: What's the Matter? The Search for Clues in Our Cold, Dark Universe. Pagels Memorial Public Lecture, 14. Juli 2010

Feng, J.: Dark Matter Candidates from Particle Physics and Methods of Detection. In: Annual Reviews of Astronomy and Astro physics 48, S. 495-545, 2010

Gates, E.: Einstein's Telescope: The Hunt for Dark Matter and Dark Energy in the Universe. Norton, London 2009

Silvestri, A., Trodden, M.: Approaches to Unterstanding Cosmic Acceleration. In: Reports on Progress in Physics 72, 096901, 2009

Trodden, M.: Modern Cosmology and the Building Blocks of the Universe. Penn Alumni Weekend Lecture, 15. Mai 2010

Weblinks
www.mpa-garching.mpg.de/galform/presse/
Das Millennium-Simulation-Projekt des Max-Planck-Instituts für Astrophysik zeigt Bilder und Filme der simulierten großräumigen Galaxienverteilung.
http://vod.grassrootstv.org/vodcontent/9251-1.wmv
Öffentliche Vorlesung von Jonathan Feng über das dunkle Universum (auf Englisch)


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Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Abb. S. 38:
Mit ihrer Schwerkraft formt die Dunkle Materie das Weltall zu einem Netz von Galaxien. Einige Physiker vermuten, dass die unsichtbare Substanz auch andere Kräfte ausübt. Das Bild entstammt einer Computeranimation im Rahmen des Millennium-Simulation-Projekts des Max-Planck-Instituts für Astrophysik in Garching. Es zeigt ein Gebiet von rund 1,6 Milliarden Lichtjahren Durchmesser mit leuchtenden Sternregionen und dunklen Zwischenräumen.

Abb. S. 41:
- Schaubild: Hypothesen über dunkle Substanzen
Moderne Instrumente haben die Existenz unsichtbarer Masse und Energie im Universum enthüllt (ganz rechts). Doch woraus diese bestehen, ist noch weit gehend unbekannt.

Dunkle Energie: 73 Prozent (daraus)
- Quintessenz
 Eine dynamische Energieform - könnte durch Wechselwirkung mit Materie entstanden sein.
- Vakuumenergie
 Der scheinbar leere Raum enthält Energie durch die Quantenfluktuationen von Materieteilchen.

Dunkle Materie: 23 Prozent
Exotische Materie reagiert nur auf einen Teil der bekannten Kräfte - und übt eigene Kräfte aus.

baryonische Materie: 4 Prozent
Gewöhnliche Materie, das Baumaterial der Atome. Es kann alle bekannten Naturkräfte ausüben und darüber reagieren. All das, was wir direkt sehen, ist baryonische Materie.

Hinweis der Schattenblick-Redaktion: Weitere Differenzierung und Erläuterungen siehe in der Printausgabe von Spektrum der Wissenschaft.

Abb. S. 42:
Das große Erkalten
In der heißen und dichten Frühphase des Universums standen Erzeugung und Vernichtung der WIMPs in einem dynamischen Gleichgewicht. Mit der kosmischen Expansion kühlte das All jedoch ab und vermochte schließlich keine neuen Partikel mehr zu erzeugen. Die vorhandenen wurden wegen der immer geringeren Dichte nicht mehr durch Kollisionen vernichtet. Die theoretisch vorhergesagte Menge der übrig gebliebenen WIMPs passt zu den Beobachtungen der Astrophysiker.

Abb. S. 45:
Kronzeuge: Der Bullet-Cluster
Dieser spektakuläre Galaxienhaufen gilt unter Astronomen als das stärkste Indiz für Dunkle Materie. Eigentlich besteht er aus zwei Galaxienhaufen, die kollidiert sind. Der Zusammenstoß hat die einzelnen Sterne der Galaxien nicht tangiert, da sie dafür zu kleine Stoßziele sind. Doch die interstellaren Gaswolken sandten bei der Durchdringung Röntgenstrahlen aus (rot). Die Dunkle Materie (blau) verrät sich, weil ihre Gravitation das Licht der Hintergrundobjekte verzerrt; sie selbst bleibt wie die Sterne vom Stoß unbeeinflusst. Somit müssen die Partikel der Dunklen Materie extrem reaktionsträge sein.


© 2011 Jonathan Feng und Mark Trodden, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 1/11 - Januar 2011, Seite 38 - 46
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69126 Heidelberg
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Redaktion:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2011