Universität Innsbruck - 24.09.2015
Randeffekte in Quantensystem simuliert
Forscher aus Florenz und Innsbruck haben in einem atomaren Quantengas ein physikalisches Phänomen simuliert, das an den Rändern mancher Materialien zu beobachten ist: sogenannte chirale Ströme. Die Forscher berichten nun in der Fachzeitschrift Science über das Experiment, das die Tür für die weitere Aufklärung exotischer Erscheinungen in Festkörpern öffnet.
Die Physik von Festkörpern gibt auch heute noch viele Rätsel auf. Neue
Möglichkeiten ergeben sich durch Fortschritte in der experimentellen
Quantenphysik. Insbesondere haben sich ultrakalte Atome, die in optischen
Gittern gefangen und sehr gut kontrolliert werden können, als ideales
Werkzeug für die Untersuchung von physikalischen Phänomenen in Festkörpern
erwiesen. Eines dieser Phänomene wird im Zusammenhang mit dem
Quanten-Hall-Effekt beobachtet: Werden bestimmte Materialen einem starken
Magnetfeld ausgesetzt, können Elektronen an den Rändern keine ungestörten
Kreisbahnen durchlaufen, stoßen an den Rand und werden dort reflektiert.
Dadurch beschreiben sie "hüpfende Umlaufbahnen". Als makroskopische
Konsequenz sind an den Rändern von Platten dieser Materialien sogenannte
"chirale Ströme" zu beobachten, die an den gegenüberliegenden Rändern in
gegenläufige Richtungen fließen. "Man kann sich das wie einen Fluss
vorstellen, in dem die Fische am einen Ufer nach rechts und am anderen
Ufer nach links schwimmen", beschreibt der Theoretiker Marcello Dalmonte
aus der Arbeitsgruppe von Peter Zoller am Institut für Quantenoptik und
Quanteninformation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und am
Institut für Theoretische Physik der Universität Innsbruck das Phänomen.
Das Team um Peter Zoller hatte bereits vor zehn Jahren einen Vorschlag gemacht, wie chirale Ströme mit neutralen Atomen simuliert werden können. Diese Idee haben nun Physiker am European Laboratory for Nonlinear Spectroscopy (LENS) in Florenz gemeinsam mit den Innsbrucker Theoretikern aufgegriffen und umgesetzt. Die Wissenschaftler fangen dazu im Labor ein stark abgekühltes Gas aus Ytterbium-Atomen in einem aus Laserstrahlen gebildeten, optischen Gitter. Weil sich die Struktur von Platten im Experiment nur sehr schwer nachbilden lässt, haben die Physiker zu einem weiteren Trick gegriffen, den Forscher am Institute of Photonic Sciences in Barcelona entwickelt haben: Sie nutzen für ihre Messungen jeweils eindimensionale Ketten von Atomen und bilden die zweite Dimension synthetisch nach. Dazu verwenden sie zwei oder drei interne Zustände, in die die Atome mit Hilfe von Lasern versetzt werden. "Theoretisch gesprochen ist diese Springen in andere interne Zustände genau das Gleiche wie das geometrische Springen der Elektronen in den Randzonen eines Festkörpers", erklärt Marcello Dalmonte. Gemeinsam mit Marie Rider und Peter Zoller hat er theoretische Vorarbeiten für das Experiment geleistet und wichtige Hinweise gegeben, wie das Phänomen messtechnisch erfasst werden kann. Die nun in der Fachzeitschrift Science veröffentlichten Messergebnisse zeigen, dass sich die Teilchen auf einer Ebene mehrheitlich nach rechts und auf einer anderen Ebene mehrheitlich nach links bewegen. "Dieses Verhalten ist sehr ähnlich den aus der Festkörperphysik bekannten chiralen Strömen", sagt Dalmonte. Mit der Simulation dieser exotischen Effekte eröffnen die Forscher die Möglichkeit zur Untersuchung neuer physikalischer Phänomene. So werden im Zusammenhang mit dem Quanten-Hall-Effekt zum Beispiel Anyonen intensiv erforscht. Diese exotischen Quasiteilchen werden auch als Grundlage für topologische Quantencomputer gehandelt.
Unterstützt wurden die Forschungen unter anderem vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, dem europäischen Wissenschaftsrat ERC und der Europäischen Union.
Publikation:
Observation of chiral edge states with neutral fermions in
synthetic Hall ribbons.
M. Mancini, G. Pagano, G. Cappellini, L. Livi, M. Rider, J. Catani,
C. Sias, P. Zoller, M. Inguscio, M. Dalmonte, L. Fallani.
Science, 25. September 2015
(doi: 10.1126/science.aaa8736)
Weitere Informationen unter:
http://www.uibk.ac.at/th-physik/qo/
- Arbeitsgruppe Quantenoptik
http://www.uibk.ac.at/th-physik/
- Institut für Theoretische Physik, Universität Innsbruck
http://iqoqi.at/
- Institut für Quantenoptik und Quanteninformation, ÖAW
http://www.lens.unifi.it/
- European Laboratory for Nonlinear Spectroscopy (LENS)
Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution345
*
Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Innsbruck, Dr. Christian Flatz, 24.09.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2015
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang