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FORSCHUNG/618: Large-Hadron-Collider - An den Grenzen des menschlichen Genies (research*eu)


research*eu - Nr. 59, März 2009
Magazin des Europäischen Forschungsraums

An den Grenzen des menschlichen Genies

Von Marie-Françoise Lefèvre


Nach 20 Jahren Bauzeit wurde der LHC, der Large-Hadron-Collider, am 10. September vergangenen Jahres endlich in Betrieb genommen. Doch knapp neun Tage später musste er schon wieder abgeschaltet werden, weil wegen einer defekten Schaltung Helium entwichen war. Diese Zwangsabschaltung könnte noch bis zum Sommer 2009 oder sogar darüber hinaus andauern. Doch die Physiker sind dadurch nicht minder gespannt. Ein Blick hinter die Kulissen dieses neuen Meisterwerks der Spitzentechnologie.


Mit 10.000 Wissenschaftlern und mehr als 80 beteiligten Ländern steht die Europäische Organisation für Kernforschung - CERN - heute an der Spitze der bedeutenden Anlagen für Teilchenphysik. Ihr neuestes Meisterwerk, der Large Hadron Collider - LHC -, lädt zu Superlativen ein. Mit seinem 27 km langen Ring, in dem in Zukunft Kollisionen mit 14 TeV (1) stattfinden sollen, ist er der größte und stärkste Teilchenbeschleuniger der Welt.

In dieser Anlage sollen Protonen so lange aufeinanderprallen, bis die Zustände hergestellt sind, die zur Bildung der Urmaterie beitragen, aus dem vor 13,7 Milliarden Jahren das Universum bestand. In dieser Saga der Wissenschaften wird auch das Higgs-Boson (2) sehnsüchtig erwartet, von dem in den Medien bereits oft zu lesen war. Der Beweis seiner Existenz - der bereits in den 1960er Jahren von Brout und Englert und später unabhängig davon auch von Higgs gefordert wurde - würde nicht nur einen bedeutenden wissenschaftlichen Fortschritt bedeuten, sondern auch eine technologische Spitzenleistung, die vor allem der Schaffenskraft und der Exzellenz der Forschungsgruppen des CERN zur verdanken ist.


Der Magnet, der aus der Kälte kam

Wenn die Teilchen in den LHC injiziert werden, haben sie eine relativ niedrige Energie (0,45 TeV). Mithilfe eines elektrischen Felds erhöht sich diese mit jedem Umlauf. Um die Maximalenergie von 7 TeV und nahezu Lichtgeschwindigkeit zu erreichen, sind mehr als eine Million Umläufe notwendig. Wie kann man auf einer Distanz von ungefähr 10 Milliarden Kilometern ihren Weg perfekt kontrollieren? Diese Aufgabe übernehmen 1600 supraleitende Magnete, die ein Magnetfeld produzieren, das mit wachsender Teilchenenergie an Stärke zunimmt und die Teilchen in eine Bahn zwingt.

"Supraleitend" bedeutet, dass die Spulen dieser Magnete keinerlei Widerstand gegen den sie durchfließenden Strom aufweisen, andernfalls würde der LHC die vierzigfache Strommenge benötigen. Diese elektrischen Ströme erzeugen die Magnetfelder, die nötig sind, um die Teilchen in der Umlaufbahn zu halten. Roberto Saban, der für die Inbetriebsetzung der technischen Systeme des LHC zuständig ist, erklärt es so: "Damit die Niob-Titan-Legierung, aus der die Spulen bestehen, supraleitend wird, müssen die Magnete auf 1,9 K - das sind -271°C - heruntergekühlt und auf dieser Temperatur gehalten werden. Damit ist der LHC der kälteste Ort des Universums!"

Um dies zu bewerkstelligen, werden die Magnete in supraflüssiges Helium getaucht. Mit diesem Helium kann die Wärme optimal abgeleitet werden. Die Magnete sind von Kryostaten umgeben, das sind eine Art Wärme schützer aus Stahl, die diese von der Umgebungstemperatur isolieren. Aber Supraleitfähigkeit ist kein stabiler Zustand: sie kann verschwinden, sobald sich ein Draht punktuell erhitzt. Da die in jedem Sektor gespeicherte Energie ausreichen würde, um einen 1,5 t schweren Kupferblock zu erhitzen und zum Schmelzen zu bringen, werden die Magnete von elektronischen Systemen überwacht, um einen Widerstandsübergang aufzudecken und, falls dies eintritt, ein Verfahren zum Schutz der Magneten einzuleiten.


Werkstoffe als Spione

In einem fast absoluten Vakuum bewegen sich die Teilchenpakete in entgegengesetzte Richtungen. Kollidieren sie miteinander, entstehen Myriaden von Elementarteilchen. Um diese zu identifizieren, erfolgen die Kollisionen inmitten von vier riesigen Detektoren: ALICE, ATLAS, CMS und LHCb.

Jeder Detektor besteht wie eine Zwiebel aus mehreren Schichten, die für unterschiedliche Aufgaben zuständig sind. In den Schichten liegt geballte Technologie, wie Yves Schutz, Versuchsleiter von ALICE, erläutert. "Der Spurdetektor, der ganz nahe am Kollisionspunkt liegt, besteht aus Siliziumsensoren, die aus vielen Jahren Entwicklung hervorgegangen sind. In einem einzigen Mikrochip mit 1,8 cm² Fläche sind mehr als 8000 Pixel enthalten, die an sehr feine Drähte angeschlossen sind. Mit dieser Körnigkeit ist es möglich, die Spur jedes einzelnen bei der Kollision entstandenen Teilchens zu unterscheiden. Um eine Kontamination der gesammelten Information durch elektromagnetisches Rauschen zu verhindern, werden die Signale in Lichtimpulse umgewandelt, die über optische Fasern zu den Datenerfassungssystemen geleitet werden. Insgesamt sind mehr als 10 Millionen Sensoren in einer Entfernung von weniger als 50 cm um den Aufprallpunkt herum angeordnet."

Auch die beiden multifunktionellen Detektoren des LHC, ATLAS und CMS, sind mit wertvoller Technologie ausgestattet. "Über dem Spurdetektor liegt ein elektromagnetisches Kalorimeter, das die Energie der ausgestrahlten Elektronen und Photonen misst", führt Daniel Denegri weiter aus, der seit zehn Jahren für das CMS-Experiment verantwortlich ist. "In unserem Fall wird diese Rolle vor allem von rund 80.000 Kristallen aus Bleiwolframat übernommen. Für ihre Herstellung und Auslieferung waren zehn Jahre harter Arbeit notwendig. Und dann müssen Sie sich noch die Fleißarbeit vorstellen, die für die Montage dieses riesigen Kristallleuchters erforderlich war."


Nicht nur Europa

"Das CERN konnte diese Aufgabe nicht allein erfüllen", erläutert Daniel Denegri weiter. "Die Entwicklung des elektromagnetischen Kalorimeters wurde auf zehn Länder aufgeteilt: Russland und China für die Kristalle, die USA, Frankreich, Italien und die Schweiz für die Elektronik und Mechanik und so weiter. Der LHC ist zu einem weltweiten Projekt geworden, denn auch wenn das CERN über die Mitgliedstaaten 6 Mrd. CHF in den LHC investiert hat, wurden doch 10 % der Gesamtkosten von Drittstaaten übernommen. Jeder kommt hier zum Zuge: Wir verfügen über die notwendigen Mittel, um diese Anlagen schnell zu bauen, und die Einrichtungen der beteiligten Staaten erhalten Zugang zu den Versuchsanlagen." Derzeit stellen Forscher aus Drittstaaten ein Drittel des Personals.

"Natürlich passen wir unsere Anfragen an die Expertise jedes Staates an. Kürzlich haben wir mit Ägypten Verträge für die Herstellung von Komponenten abgeschlossen, deren Technologie im Vorfeld keine Forschung erforderlich machte. Außerdem bietet diese internationale Zusammenarbeit auch Zugang zu sehr interessantem, wiederverwertbarem Material. So stammt etwa ein Teil des für das CMS-Experiment verwendeten Eisens von alten russischen Schiffen und das Messing des hadronischen Kalorimeters aus den Geschosshülsen der sowjetischen Flotte! Den krönenden Abschluss bilden die antiseismischen Stützfüße aus den USA, die auf einer Halterung aus Japan stehen, wodurch die gesamte Anlage auch bei Erdbeben bis zur Stärke 7 auf der Richterskala geschützt ist."


Präzisionsarbeit

Patrick Fassnacht, der für den ATLAS-Detektor zuständig ist, erläutert, dass jede Komponente denselben Qualitätskriterien entsprechen muss, egal woher sie stammt. "Unsere Versuchsanlage ist mit mehreren tausend Myonenkammern ausgestattet. Ob sie nun in Israel oder in Deutschland gefertigt werden, sie müssen auf jeden Fall dieselben technischen Spezifikationen erfüllen."

Er betont auch das Verhältnis zwischen der Größe der Instrumente und der angestrebten Präzision. "Man bedenke, dass ATLAS 7000 t wiegt und jede Komponente auf den Millimeter genau positioniert werden muss. Die Techniker, die manchmal mehr als 30 m unter der Erdoberfläche arbeiten, müssen Geräte installieren, die eine Genauigkeit in Größenordnungen von einem Mikron und einer Nanosekunde erreichen müssen! Wir müssen uns auch harten Zwängen stellen. Sollte im Innern des Detektors eine Panne auftreten, müssen wir in der Lage sein, uns dorthin zu begeben und diese zu beheben. Deshalb haben sich unsere Ingenieure eine vollkommen mobile Architektur ausgedacht, bei der jedes Element auf Luftkissen bewegt werden kann. Außerdem werden diese riesigen Komponenten bewegt, ohne sie außer Betrieb zu setzen (Stromversorgung, Gas), was vor allem für das Kühlsystem der Magneten und die Kalorimeter wichtig ist, weil dadurch eine Erwärmung und damit die Ausdehnung der eingeschlossenen Gase vermieden wird. Andernfalls wären wir gezwungen, diese Gase entweichen zu lassen und sie mit sehr hohen Kosten wieder zu ersetzen."


100.000 Prozessoren

Mit 40 Millionen vorgesehenen Kollisionen pro Sekunde werden den Physikern des CERN die Daten mit Sicherheit so schnell nicht ausgehen. Da die Wissenschaftler glücklicherweise wissen, was sie suchen, haben sie automatische Datenerfassungssysteme entwickelt, die anspringen, sobald ein möglicherweise interessantes Ereignis entdeckt wird. So wird die Menge der gespeicherten Informationen sich auf "nur" drei Millionen CD-Rom pro Jahr beschränken.

"Das CERN verfügt weder über die Geldmittel noch über den Raum, um die notwendigen 100.000 Prozessoren zur Verarbeitung der jährlich 15 Millionen Gigaoktette einzusetzen", betont Frédéric Hemmer, stellvertretender Leiter der IT-Abteilung des CERN. "Deshalb haben wir gemeinsam mit unseren Partnern das LHC-Rechnernetz geschaffen, sodass wir die Arbeit zwischen 150 Einrichtungen in 40 verschiedenen Ländern aufteilen können."

Diesem internationalen Rechnernetz entspricht die Rechenleistung von Tausenden Computern. Vorgelagert ist ihm die Stufe Tier 0 im CERN. Sie überträgt die Daten zur Stufe Tier 1, das sind elf nationale Zentren, die kontinuierlich zur Verfügung stehen und die Kontinuität der Erfassungen garantieren. Nach einer Vorverarbeitung verteilen sie die Informationen an die Stufen Tier 2 und 3, wo Forscher für die Verarbeitung der Daten zuständig sind.

"Der Endnutzer sieht nicht, wie komplex das System ist, weil er Zugriff auf alle Daten hat, unabhängig davon, wo sie sich befinden. Dieser letzte Punkt ist sowohl die Stärke als auch die Schwäche des Rechnernetzes", erläutert Frédéric Hemmer. "Denn der Wissenschaftler ist sich nicht immer bewusst, wie viele Rechenschritte oder Datenübertragungen seine Untersuchung auslösen wird. Wir sind jedoch sehr zuversichtlich, da das Netz weiter ausgedehnt wird. Mehrere Privatunternehmen haben uns bereits angeboten, auf ihre Prozessoren auszuweichen, wenn diese nicht ausgelastet sind."


Und wozu das Ganze?

Welches Ziel wird mit dieser Spitzeninfrastruktur verfolgt? Es sollen grundlegende theoretische Modelle überprüft werden, und dazu gehört auch der Nachweis des berühmten Higgs-Bosons. "Aber vor Ablauf von zwei bis drei Jahren erwarte ich keine Ergebnisse, es sei denn es zeichnet sich eine außergewöhnliche Wende ab", sagt der Physiker Patrick Fassnacht voraus. "Man muss zunächst das überprüfen, was man bereits weiß, und nach einem Jahr, wenn man die Leistungen der Detektoren beherrscht, kann man an die feinere Physik gehen. Hadronengeräte (3) wie der LHC verfügen über ein riesiges Entdeckungspotenzial, aber nur die Elektronenbeschleuniger, wie der alte LEP (Large Electron-Positron Collider), erlauben eine genauere Überprüfung der Gültigkeit von Theorien. Deshalb wird der Nachfolger des LHC sicherlich ein Elektronen-Positronen-Speicherring sein. Die Zeiten, in denen man zwei bis drei interessante Entdeckungen pro Jahr machte, sind vorbei. Man hat jetzt so komplexe Ebenen erreicht, dass man Geduld haben muss."


MEHR EINZELHEITEN

Von der Forschung zum Alltag

Im Hinblick auf seine Kommunikationspolitik geht das CERN sehr gezielt vor. Es benutzt verschiedene Medien, angefangen bei den Comics zum ALICE-Experiment bis zu anspruchsvolleren wissenschaftlichen Texten, die sich mit der Entwicklung der Detektoren befassen. Aber der Wissenstransfer hört an dieser Stelle nicht auf, weil die Anwendungen, die aus jahrelangen wissenschaftlichen Untersuchungen hervorgegangen sind, sich bei Weitem nicht auf die Teilchenphysik beschränken. Auch in der Medizin haben mehrere Techniken von dem gewonnenen Wissen profitiert. Bei der Hadronentherapie werden Protonen und Kohlenstoffionen zur Behandlung von Tumoren eingesetzt. Die Positronenemissionstomografie ist heute eine geläufige Scannertechnologie. Außerdem gibt es zahlreiche Industriepartner, die ihre Produktionsverfahren wegen der hohen Qualitätsanforderungen des CERN verbessern.

Das World Wide Web, das unsere Gesellschaften revolutioniert hat, wurde von einem Ingenieur des CERN entwickelt und war eine Reaktion auf das Bedürfnis der Physiker, Daten in verschiedenen Formaten über weite Entfernungen austauschen zu können. Das verteilte Rechnernetz, das LHC Computing Grid, hat Nebenbuhler erhalten: Diese gemeinsame Nutzung von Rechenleistung wird etwa in der Biochemie verwendet, um die Interaktion komplexer Moleküle mit Proteinen zu testen. Auf der Grundlage theoretischer Modelle probieren die Prozessoren alle möglichen Molekülkombinationen aus, was die Notwendigkeit des mühsamen Herantastens in In-vitro-Experimenten reduziert. Hier ist beispielsweise der Fall der Vogelgrippe zu nennen, wo 20 % der erzeugten Mittel besser als Tamiflu wirken.


Anmerkungen

(1) TeV (= 1 Tera-Electronvolt = 1012 eV = 1.6 x 107 Joules) entspricht ungefähr der Energie einer fliegenden Mücke. Sie wird hier auf ein Proton angewendet, dessen Masse eintausend Milliarden Mal kleiner ist.

(2) Siehe Sonderausgabe RTD Info Februar 2007, Das Abenteuer der Materie und des Lebens.

(3) Hadronen sind eine Klasse von Elementarteilchen, zu denen die Protonen gehören.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Simulation des Zerfalls eines Higgs-Bosons mit vier Myonen, die im CMS-Detektor des LHC im CERN isoliert wurden. Die Spuren weisen auf Teilchen hin, die durch den Zusammenprall eines hoch energiereichen Protonenpaars entstanden sind. Die von den Teilchen im Detektor hinterlassene Energie ist blau markiert.

Ein 27 km langer ringförmiger Tunnel unter der schweizerisch-französischen Grenze, in dem der LHC es ermöglichen soll, den Urzustand der Materie wiederherzustellen.

10. September 2008, in Erwartung der Inbetriebnahme des LHC. Der anfänglich gelungene Start wird allerdings neun Tage später gestört.

ALICE detector


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Quelle:
research*eu - Nr. 59, März 2009, Seite 23-25
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2009
Herausgeber: Referat Information und Kommunikation der
GD Forschung der Europäischen Kommission
Chefredakteur: Michel Claessens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2009