Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → PHYSIK

GESCHICHTE/026: Explorieren - Entdecken - Testen (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 9/08 - September 2008

Explorieren - Entdecken - Testen

Von Friedrich Steinle


Nach gängiger Auffassung stellen Naturforscher Theorien auf, die dann experimentell geprüft werden. Doch mitunter stoßen sie auf völlig neue Phänomene, für die es noch keine passenden Begriffe gibt.



In Kürze

Zuerst entsteht die Theorie, ihr folgt das Experiment - nach diesem Schema geht die Forschung nicht immer vor.
Oft wird »explorativ« experimentiert: Mangels einer passenden Erklärung für überraschend neue Phänomene tastet sich der Forscher methodisch in Neuland vor.
Ampères Untersuchung des Elektromagnetismus liefert dafür ein historisches Beispiel. Doch auch die moderne Forschung kommt ohne explorative Experimente nicht aus.

*


Seit der frühen Neuzeit gilt das Experiment als zentrales Erkenntnismittel moderner Naturwissenschaft. Doch auf welche Weise gewinnen wir aus Experimenten Erkenntnis? Im 17. Jahrhundert formulierte der britische Lordkanzler Francis Bacon ein induktives Verfahren: Von den Erscheinungen ausgehend wird auf die Theorie geschlossen. Später postulierte man umgekehrt den Primat der Theorie: Das Experiment stellt einen nachträglichen Test von theoretischen Hypothesen dar. Doch schon bald wurde die Frage aufgeworfen, wie ein solcher Test eigentlich auszusehen hätte und ob es so etwas wie strikte experimentelle »Beweise« überhaupt geben kann. Darauf wurde bis heute keine allgemein akzeptierte Antwort gefunden.

Auch war das Interesse an solchen Fragen keinesfalls immer lebendig. Erst seit den 1980er Jahren rückt die Diskussion um das Experiment wieder stärker ins Blickfeld, wobei mehrere durchaus heterogene Richtungen mit dem unscharfen Stichwort »Neuer Experimentalismus« zusammengedacht werden. In den Vordergrund tritt immer mehr die konkrete Arbeitspraxis der Wissenschaft. Die sozialen und materiellen Bedingungen des Experiments werden ebenso betont wie seine kulturelle Bedeutung, und die Eigendynamik von so genannten Experimentalsystemen wird untersucht.

In diesem Artikel steht eine bislang wenig beachtete Form des Laborversuchs im Zentrum: Wie gehen Wissenschaftler vor, wenn überhaupt keine Theorie zur Verfügung steht? Was tun sie, wenn angesichts empirischer Befunde selbst die Ordnungsbegriffe ins Wanken geraten, die noch vor aller Erklärung für das Beschreiben von Experimenten unerlässlich sind? In solchen Fällen kann es nicht um den Test fertiger Hypothesen gehen. Vielmehr müssen die Begriffe, mit denen sich Hypothesen überhaupt formulieren lassen, erst im Zusammenhang mit den Laborversuchen gebildet werden. Wie Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, formuliert und revidiert der Forscher - oder die Forscherin, im Folgenden sind stets beide gemeint - im Verlauf des Experimentierens erst die Begriffe, die das Experimentieren leiten.

Solche Überraschungen hat es in den Naturwissenschaften immer wieder gegeben. Ein markantes historisches Beispiel bietet die Entdeckung des Elektromagnetismus im 19. Jahrhundert. Sie versetzte die Forscher in ganz Europa in Aufregung, aber zugleich in eine bemerkenswerte Begriffs, ja Sprachlosigkeit. Die historische Untersuchung solcher Fälle erfordert, den Blick nicht nur auf die fertigen Resultate zu richten, sondern auf die Forschungspraxis, und sich dabei neuer Methoden und Quellen zu bedienen. Dann allerdings offenbart sich ein charakteristischer Verfahrensablauf, der einen eigenen Namen verdient: exploratives Experimentieren.


Eine wissenschaftliche Sensation

Im Sommer 1820 machte in Europa eine Nachricht die Runde, die sofort als wissenschaftliche Sensation des Jahres galt: Der dänische Physiker Hans Christian Ørsted hatte eine Wirkung der Elektrizität auf Magnetnadeln beobachtet. Seit der Entdeckung des galvanischen Stroms im Jahr 1800 war ein solcher Effekt immer wieder gesucht worden. Dass die Suche nun ausgerechnet im Bereich der später »romantisch« genannten Naturforschung Erfolg hatte, war kein Zufall: Der Zusammenhang unterschiedlicher Naturkräfte bildete in der Ära der Romantik ein Leitmotiv.

Der neue Befund war nicht nur eine Sensation, sondern auch eine grundlegende Herausforderung. Physikalische Wirkungen wurden damals in Begriffen von Anziehung und Abstoßung gedacht, hier aber handelte es sich um eine drehende Auslenkung der Magnetnadel. Besonders überraschend war, dass die Drehrichtung der Nadel sich umkehrte, wenn der Draht nicht oberhalb, sondern unterhalb der Nadel vorbeigeführt wurde - ein Befund, der sich mit Begriffen von Anziehung und Abstoßung nicht verstehen ließ und in den Berichten häufig als rätselhaft hervorgehoben wurde.

Hier lag eine Situation der eingangs geschilderten Art vor: Nicht nur war man von einer erklärenden Theorie des Galvanismus und Magnetismus weit entfernt, sondern sogar die Grundbegriffe von Anziehung und Abstoßung schienen dem neuen Effekt gegenüber zu versagen. Dementsprechend erwies sich schon die bloße Beschreibung der Experimente als schwierig; sie nahm bisweilen ganze Seiten in Anspruch. Das Verhalten der Nadel konnte nur in Bezug auf die Himmelrichtungen formuliert werden. Das war nicht nur höchst umständlich, sondern stand auch jeder Verallgemeinerung entschieden im Wege.

Einer, dem diese Herausforderung keine Ruhe ließ, war André-Marie Ampère, Mathematikprofessor an der Pariser École Polytechnique und eher ein Außenseiter der intellektuellen Szene. In intensiver Arbeit entdeckte er innerhalb weniger Wochen einen neuen Effekt, die Wechselwirkung von Strömen, und formulierte ein Grundgesetz der von ihm so benannten Elektrodynamik. Dieses Gesetz, das heute Ampères Namen trägt, war mathematisch formuliert; das Experiment diente dem Zweck, die mathematisch abgeleiteten Erwartungen zu prüfen. Allerdings wissen wir erst seit Kurzem, dass Ampère keinesfalls von Anfang an auf ein solches Gesetz zielte. Vielmehr hatte er mit einem gänzlich anderen Forschungsziel begonnen, bei dem auch das Experiment eine ganz andere Rolle spielte.

In einem ersten Schritt konstruierte Ampère - vermutlich in Zusammenarbeit mit dem Instrumentenbauer Dumotier - eine so genannte astatische Nadel. Damit trennte er die Wirkung, die der vom Strom durchflossene Draht auf die Magnetnadel ausübte, von der des Erdmagnetismus. Der Magnetnadel wurde durch entsprechende Lagerung ihrer Achse die Möglichkeit genommen, sich wie ein Kompass nach dem magnetischen Nordpol auszurichten. Sie reagierte nur noch auf die vom Batteriedraht ausgeübten Kräfte. Das nutzte Ampère, um zahlreiche Parameter der Anordnung zu variieren - Material, Länge und Gestalt der Nadel, Dicke, Material und Lage des Drahts, Polung und Stärke der Batterie. Ziel war das Auffinden von stabilen Korrelationen zwischen variiertem Parameter und erreichtem Effekt.

Rasch zeigte sich, dass der Draht nur auf magnetische Materialien wirkte und dass Länge und Form der Nadel nicht entscheidend waren. Als problematisch erwies sich hingegen die räumliche Konstellation. Zwar richtete die Nadel sich immer senkrecht zum Draht aus, doch war schwer zu fassen, in welche der beiden möglichen Positionen der Nordpol der Nadel gedrängt wurde. Das Problem, unterschiedliche räumliche Orientierungen wie die von Strom, Nadel und Auslenkung miteinander zu verknüpfen, war zuvor nicht aufgetaucht. Aus seinen Experimenten entwickelte Ampère den neuen Begriff von »rechts und links vom Strom« und konnte damit ein Gesetz für die Ausrichtung des Nordpols der Nadel angeben, das später als Schwimmerregel bekannt wurde.

Mit einer zweiten Regel stellte Ampère überdies fest, dass in der dadurch erreichten Stellung der Nadel eine Anziehung zwischen Nadel und Draht stattfand. Beim Ausarbeiten der Regeln kamen weitere neue Begriffe hinzu - zum Beispiel der des Stromkreises, der Batterie und Draht gleichermaßen umfasste. Insgesamt ist die erste Phase von Ampères Arbeit durch die Suche nach phänomenologischen Regeln gekennzeichnet, die er als »allgemeine Fakten« (»faits généraux«) bezeichnete. Er äußerte die Hoffnung, damit letztlich alle elektromagnetischen Effekte erklären zu können.

Diese Erwartung setzte er allerdings nie in die Tat um. Angeregt durch den Erfolg der Schwimmerregel begann Ampère mit Überlegungen anderen Typs und entwickelte die Hypothese, jeglicher Magnetismus werde durch winzige elektrische Kreisströme verursacht. Unter den zahlreichen Experimenten, die er unter dieser Annahme durchführte, wurde eines entscheidend. Wenn die Hypothese richtig wäre, so überlegte er, dann müssten elektrische Ströme ja auch direkt - ohne zwischengeschalteten Magneten - aufeinander wirken. Das wäre ein qualitativ völlig neuer Effekt, der sich direkt nachweisen lassen sollte. Unverzüglich begann Ampère, eine solche Wirkung zu suchen. In seiner - wieder mit dem Instrumentenbauer entworfenen - Apparatur bildeten zwei Spiralen aus Draht das zentrale Element. Die eine war fest montiert, die andere beweglich gelagert; beide sollten sich, so die Erwartung, anziehen oder abstoßen, wenn Strom durch sie floss.

Als der Effekt trotz vieler Bemühungen ausblieb, suchte Ampère die Apparatur zu optimieren: Er behielt die Grundstruktur des Experiments bei, variierte aber Größe und Abstand der Spiralen, die Art der Aufhängung und die Trägheit des Pendelarms. Als immer noch kein Erfolg eintrat, setzte er auf größtmögliche Leistung und suchte nach der stärksten in Paris verfügbaren Batterie. Große Batterien waren sehr teure Einzelanfertigungen und in weit höherem Maße als heute Verschleißteile. Bei einem Instrumentenbauer fand Ampère eine gerade für einen Kollegen fertig gebaute, sehr große Batterie. Kurzerhand bat er den Kollegen, auf die Batterie zu verzichten, und investierte eine hohe Geldsumme - ein halbes Monatsgehalt - in den Kauf. Das zahlte sich aus: Als er mit dieser Batterie an Ort und Stelle sein Experiment unternahm, stellte sich der erwartete Effekt ein, und Ampère konnte ihn wenige Stunden später, bei seinem ohnehin schon angekündigten Akademievortrag, stolz präsentieren.

Dieser Erfolg löste einen abrupten Wechsel der Forschungsrichtung aus. Die vorigen Arbeiten, wiewohl nicht abgeschlossen, blieben liegen, und Ampère fokussierte alle Anstrengung auf den neuen Effekt. Er wies ihn auch für geradlinige Ströme nach und setzte sich das Ziel, dafür ein mathematisch formuliertes Kraftgesetz aufzustellen. Nicht zuletzt ließ sich damit in Paris viel mehr Anerkennung gewinnen als für »bloß« phänomenologische, qualitative Gesetze. Zur Formulierung griff er auf den bewährten Begriff der Zentralkraft zurück, führte das unorthodoxe Element einer Winkelabhängigkeit solcher Kräfte ein und machte sie dadurch für die komplexen Verhältnisse der Elektrodynamik anwendbar.


Die Schwimmerregel

Noch in Lehrbüchern der Nachkriegszeit findet man bisweilen die ampèresche Schwimmerregel dargestellt. Sie gibt an, in welche Richtung der Nordpol der Magnetnadel sich einem gegebenen Strom gegenüber auslenkt. In Analogie zur Orientierung an Flüssen stellte sich Ampère einen Menschen vor, der von den Füßen zum Kopf hin vom Strom durchflossen wird - oder »mit dem Strom schwimmt« - und seinen Blick zur Magnetnadel hin richtet. Die rechte Hand des Schwimmers bezeichnet dann, so der neue Begriff, die Richtung »rechts vom Strom«. Damit ließen sich die experimentellen Befunde in dem Gesetz zusammenfassen: Der Nordpol der Magnetnadel bewegt sich stets nach »links vom Strom«.

Mit dieser scheinbar einfachen Regel konnte Ampère erstmals die Experimente unabhängig von den Himmelsrichtungen formulieren. anschaulicher als die spätere und heute geläufigere Dreifingerregel eröffnete die Schwimmerregel mit ihrem Zentralbegriff »rechts und links vom Strom« neue Denkmöglichkeiten für die Physik und Mathematik der Zeit.



Unterschätzte »allgemeine Fakten«

Zwei Monate später, Anfang Dezember, konnte er sein mathematisch formuliertes Gesetz der Wechselwirkung von Strömen vorlegen. Damit fokussierte er seine Bemühungen nur noch stärker auf die mathematische Entwicklung. Auf seine »allgemeinen Fakten« kam er nie mehr zurück und erwähnte sie auch in seinen Veröffentlichungen nur am Rand. Dass er wochenlang alle Anstrengung auf sie gerichtet und darin sein eigentliches Ziel gesehen hatte, war schon für seine Zeitgenossen nicht erkennbar und fiel auch der historischen Forschung bis vor Kurzem nicht auf. Dennoch wurde das Resultat der Arbeit an den »allgemeinen Fakten« rasch zum festen Bestandteil der Elektrodynamik - in Form neuer Begriffe, die in die Fachsprache eingingen.

An den beiden skizzierten Versuchsreihen zeigen sich Charakteristika zweier unterschiedlicher Experimentierweisen. In der ersten Versuchsreihe stand das systematische, breit angelegte Variieren vieler Parameter im Vordergrund - mit dem Ziel, stabile Korrelationen aufzufinden. In der zweiten Serie ging es hingegen um gezieltes Optimieren einer im Prinzip unveränderten Apparatur in Hinsicht auf einen erwarteten Effekt. Die zweite Versuchsreihe war von Anfang bis Ende durch eine spezifische Erwartung bestimmt, während die erste auf möglichst viele Änderungen angelegt war. Dementsprechend ergaben sich als Resultat der ersten Reihe allgemeine Regeln oder Gesetze, die möglichst viele Einzelbefunde umfassten. Hingegen stand am Ende der zweiten Serie ein einzelnes erfolgreiches Experiment: Es diente als »Beweis« der Magnetismustheorie, die zu der getesteten Erwartung geführt hatte.

Nur die zweite Versuchsreihe lässt sich als experimentelle Überprüfung einer theoretischen Erwartung verstehen. Wie aber charakterisieren wir dann das ganz andere Vorgehen in der ersten Versuchsreihe?

Offenbar handelt es sich keinesfalls um zufälliges Herumprobieren. Vielmehr werden viele experimentelle Parameter systematisch abgeändert, um zu ermitteln, welche Faktoren den untersuchten Effekt - bei Ampère die elektromagnetische Wirkung - bedingen oder modifizieren. Wenn sich dabei so etwas wie ein Raster von Bedingungen für den Effekt ergibt, lassen sich empirische Korrelationen und Gesetze formulieren. Solche Verfahren, die aus Ketten von Einzelbeobachtungen zur Formulierung kausaler Zusammenhänge voranschreiten, hat der englische Philosoph John Stuart Mill 1843 in seinen »Vier experimentellen Methoden« erstmals systematisiert.

Was aber, wenn alles Variieren zu nichts führt, weil sich keine stabilen experimentellen Regeln ergeben? In solchen Fällen - die Mill nicht berücksichtigte - geben manche Forscher auf und gehen von der realen oder vermeintlichen Sackgasse zu anderen Themen weiter. Andere dagegen wagen es, die Kategorien, in denen bisher Gesetze formuliert wurden, in Frage zu stellen, zu verändern oder ganz neue Begriffe vorzuschlagen. Genau das tat Ampère mit »rechts und links vom Strom«. Er stieß in begriffliches Neuland vor und praktizierte ein »exploratives«, das heißt systematisch probierend-entdeckendes Experimentieren.

Eine solche Arbeitsweise kontrastiert zu dem üblichen Testen, Verfeinern oder Extrapolieren einer bereits ausformulierten Theorie, bei dem, um mit dem polnischen Immunologen und Wissenschaftsforscher Ludwik Fleck zu sprechen, stets »ein ganzes System voriger Entscheidungen ... mitgeschleppt« wird. Experimentelles Überprüfen von Hypothesen und Erwartungen setzt eine feste begriffliche Ordnung voraus, während sie bei explorativem Experimentieren als Resultat am Schluss des Prozesses steht. Theoriebestimmtes und exploratives Experimentieren unterscheiden sich aber nicht nur bezüglich des Erkenntnisziels und der Laborpraxis, sondern auch durch den Charakter der Instrumente: Das Testen einer Theorie erfordert hochspezifische Geräte, doch das geht meist auf Kosten der für Explorieren notwendigen Variabilität. So wurde Ampères Instrument zur Anziehung elektrischer Spiralen mit fortschreitender Optimierung immer empfindlicher für den erwarteten Effekt. Doch zugleich ließ das apparative Design andere theoretisch mögliche Effekte immer weniger zu, etwa seitliche Bewegungen oder Verdrillungen der beweglichen Spirale.

Zwischen explorativem und theoriebestimmtem Experiment erstreckt sich ein ganzes Spektrum zunehmender begrifflicher Stabilität. Beim explorativen Vorgehen entwickeln sich Handeln und Konzeptualisieren in engem Kontakt, sie stabilisieren oder destabilisieren einander. Erkenntnistheoretisch betrachtet sind das prekäre Situationen: Das experimentelle Handeln stellt gerade die Begrifflichkeit in Frage, die eben jenes Handeln ermöglicht und leitet.


Vom explorierenden Laborversuch zur mathematischen Feldtheorie

Hier wird ein grundlegendes Problem erkennbar. Beim Experimentieren können wir, wie der Philosoph Immanuel Kant schon im 18. Jahrhundert betont hat, stets nur auf von uns gestellte Fragen Antwort bekommen - und übersehen dabei vielleicht die eigentlich wichtigen Fragen. Noch dramatischer ist, dass wir die Antwort, um in Kants Bild zu bleiben, nicht in begrifflich-sprachlicher Form bekommen, sondern quasi in Gestalt stummer Gesten. Die Aufgabe, sie zu deuten, ihnen eine begriffliche Form zu geben, liegt wiederum beim Experimentator. Das wirft das zentrale, aber selten explizit reflektierte Problem auf, ob die Terminologie, die wir zur Beschreibung von Experiment und Resultat verwenden, überhaupt angemessen ist. Nur in Situationen begrifflicher Unsicherheit kommt diese Frage bisweilen auf - und dann wird explorativ experimentiert.

Exploratives Experimentieren findet sich in vielen Forschungsfeldern und Perioden. Im Fall des Elektromagnetismus war Ampère, ohne es zu wissen, mit seinen Arbeiten der ersten Wochen in bester Gesellschaft: Fast überall in Europa, wo man sich mit Ørsteds Befund befasste, geschah dies auf explorative Weise. Allerdings ging kaum jemand so intensiv und kreativ vor wie Ampère mit dem Resultat der Schwimmerregel. Theoriegeleitet experimentierte hingegen zunächst nur sein Pariser Kollege und Konkurrent Jean-Baptiste Biot, der eine fest gefügte Vorstellung hatte, wie mathematisch formulierte Naturgesetze auszusehen hätten und wie sie durch Messung zu ermitteln wären. Für den Elektromagnetismus bestimmte Biot - zusammen mit seinem Assistenten Félix Savart - in experimentell schwierigen Präzisionsmessungen den Exponenten des Kraftgesetzes; dies war der einzige Parameter, den die vorgegebene Form des Kraftgesetzes noch offen ließ.

Die räumliche Komplexität hingegen, welche die meisten in Europa so irritierte, wurde durch die Anordnung ausgeklammert. Gemessen wurde in einer hochsymmetrischen Position, variabel war als einziger Parameter nur der Abstand zwischen Draht und Magnet; erst später kam als zweiter Parameter ein Winkel hinzu. Der Gewinn einer mathematischen Formel - das Gesetz von Biot-Savart - war erkauft durch erheblichen Verlust an empirischer Breite.

Möglich war das nur in Paris, wo die Mathematisierung deutlichen Vorrang vor der Empirie genoss. In London hingegen waren die Erkenntnisprioritäten anders verteilt, und dort entwickelte sich das andere Extrem: Ab 1821 befasste sich Michael Faraday, damals Assistent im großen chemischen Labor der Royal Institution of London, mit dem Elektromagnetismus; er experimentierte explorativ mit einer Intensität und Ausdauer wie niemand sonst in Europa. Faraday kannte Ampères Arbeiten gut und setzte genau dort an, wo jener sein Explorieren abgebrochen hatte: bei der Untersuchung unsymmetrischer Konstellationen zwischen Draht und Magnet. Das führte Faraday nicht nur rasch zur Entdeckung elektromagnetischer Kreisbewegungen - und damit zu einer ernsten Herausforderung für Ampères zu diesem Zeitpunkt schon weit gediehenes Theoriesystem -, sondern vor allem zu neuen, unkonventionellen Konzeptualisierungen: Im Lauf von zwei Jahrzehnten und auf Grund von zehntausenden Experimenten bildete Faraday zahlreiche neue Begriffe wie Diamagnetismus, spezifische Induktionskapazität - heute relative Dielektrizitätskonstante - und vor allem den Begriff der magnetischen und elektrischen Kraftlinie sowie des elektromagnetischen Felds. Als Maxwell sich in den 1850er Jahren der Elektrodynamik zuwandte, fand er bereits Faradays hoch differenzierte Begrifflichkeit vor und machte sich daran, ihr eine mathematische Form zu geben. Ohne dass Maxwell selbst viel experimentiert hätte, fußt die von ihm mathematisch formulierte moderne Feldtheorie auf breitester und meist explorativer experimenteller Arbeit.


Der Wandel der Begriffssprache

Gerade der Fall der Feldtheorie macht deutlich, wie weit die Folgen solcher Begriffsverschiebungen reichen können. Wenn sich die Sprache verändert, in der Experimente geplant und durchgearbeitet werden, erscheint ein Forschungsfeld in neuartigem Licht. Zunächst mühsam geschaffene und stabilisierte Begriffe werden zu selbstverständlichen Elementen der Sprache, zum Grundwortschatz eines Erscheinungsfelds, und entziehen sich dadurch weiterer Revision.

Dazu ein älteres Beispiel aus der Elektrizitätsforschung des 18. Jahrhunderts. Als Charles Dufay, brillanter Akademiker am Pariser Jardin Royal, sich des umstrittenen Problems der elektrischen - heute würden wir sagen elektrostatischen - Anziehung und Abstoßung annahm, gelang es ihm trotz vieler Mühe nicht, die verwirrende Vielfalt seiner experimentellen Resultate in eine Regel zu fassen. Erst als er mit dem traditionellen Begriff einer einheitlichen Elektrizität brach, hatte er Erfolg. Er schlug vor, von zwei Elektrizitäten zu sprechen, die er Glas- beziehungsweise Harz-Elektrizität nannte. Damit konnte er das - uns heute selbstverständlich scheinende - Gesetz formulieren: Gleichnamig geladene Körper stoßen sich ab, ungleichnamige ziehen sich an. Obwohl die mikroskopische Erklärung der elektrischen Effekte noch bis ins 20. Jahrhundert kontrovers blieb, hat sich der Begriff der Bipolarität von plus und minus rasch eingebürgert und ist heute festes, fast trivial anmutendes Element jeder Beschäftigung mit Elektrizität.

Auch in den Arbeiten, mit denen die deutschen Forscher Alexander von Humboldt, Johann Wilhelm Ritter und Christoph Heinrich Pfaff ab 1790 auf Luigi Galvanis spektakuläre Entdeckung von Muskelzuckungen reagierten, finden sich wichtige Phasen explorativen Experimentierens - sowie später bei Wilhelm Conrad Röntgen in den ersten Wochen, nachdem er 1895 eine »neue Art von Strahlen« entdeckte. Chemiker wie Jean-Baptiste Dumas und Justus Liebig, die in den 1830er Jahren das neue und als »Urwalddickicht« charakterisierte Feld der organischen Chemie bearbeiteten, gingen explorativ vor. Auch als der Physiologe Hans Krebs 1932 erstmals das Konzept einer zyklischen Reaktionskette in organischem Gewebe präsentierte und damit die Biochemie auf eine neue begriffliche Basis stellte - solche Reaktionszyklen sind heute Bestandteil jedes Oberstufenlehrbuchs -, war dies das Resultat einer langen Phase explorativen Arbeitens. Ähnliches gilt in den 1940er Jahren für den Mikrobiologen Jean Brachet mit seinen grundlegenden Arbeiten zur Proteinbiosynthese.

Nicht zuletzt hat Goethes Versuch, die newtonsche Farbenlehre zu widerlegen, viel mit unterschiedlichen Erkenntnismethoden und zielen zu tun: Goethe verfolgte eine rein explorative Experimentierweise, die er polemisch von Newtons theoriebestimmten Zielsetzungen absetzte - ein Punkt, den wohl Goethe selbst nicht richtig gesehen hat. Exploratives Experimentieren gibt es jedenfalls, wie die Beispiele zeigen, nicht nur in Anfangsphasen einer Wissenschaft, sondern auch in hoch entwickelten Forschungsfeldern.


Der Fall Supraleitung

Wie steht es heutzutage um explorative Experimente? Als die Physiker Johannes Georg Bednorz und Karl Alexander Müller 1986 eine Substanz vorstellten, die schon unterhalb 35 Kelvin supraleitend wurde, war das nicht nur wegen der Hoffnung auf neue technische Anwendungen äußerst spektakulär, sondern auch, weil es der etablierten Theorie der Supraleitung zentral widersprach: Bei solch relativ hohen Temperaturen dürften wegen der thermischen Gitterschwingungen so genannte Cooper-Paare von Elektronen nicht auftreten. Ob der Begriff Cooper-Paare hier überhaupt anwendbar war, stand völlig offen. Auch heute, mehr als 20 Jahre später, gibt es keine theoretische Erklärung für das Phänomen. Die experimentellen Arbeiten, die weltweit einsetzten und seither zu Materialien mit noch viel höheren Sprungtemperaturen geführt haben, sind nicht durch Theorieprüfung gekennzeichnet, sondern durch breites Explorieren und den Versuch, überhaupt erst diesem Phänomenbereich angemessene Begriffe zu entwickeln. Auf völlig anderem theoretischem, technologischem und organisatorischem Niveau stehen die Physiker hier vor einer ähnlichen Herausforderung wie Ampère und die Physiker Europas, als sie 1820 mit Ørsteds Befund konfrontiert wurden.

Die Möglichkeiten explorativen Arbeitens sehen anders aus, wenn es nicht um Experimente auf dem Labortisch geht, sondern um Großanlagen mit hohem Finanzbedarf und vielen Wissenschaftlern. Am neuen Large Hadron Collider (LHC), dem riesigen Teilchenbeschleuniger, der im Herbst dieses Jahres bei Cern in Betrieb gehen soll, wird Explorieren sicher nicht ablaufen wie in einem überschaubaren Labor - zumal der LHC, zumindest in der öffentlichen Darstellung, ganz im Dienst der Prüfung einer Theorie steht. Doch genauer besehen ergibt sich ein komplexeres Bild: Viele Physiker erhoffen neue Perspektiven über das Standardmodell hinaus. Zudem sind Experimentieranlage, Detektoren und Datenauswertung so komplex, dass in der Tat viel Spielraum für Überraschungen bleibt. Allein schon beim Auswerten der ungeheuren Datenmengen werden die vielen weltweit verstreuten Arbeitsgruppen auf Explorieren angewiesen sein.

Schließlich beeinflusst die allgemeine Wissenschaftskultur die Experimentierweise. Dass sich die Forschung zunehmend in Projekte verlagert, die beantragt und bewilligt werden müssen, ist dem explorativen Experimentieren nicht förderlich. Angenommen, Ampère müsste zwei Anträge stellen: erstens experimentelle Prüfung der Kreisstromhypothese, zweitens Explorieren der verwirrenden elektromagnetischen Erscheinungen. Die Bewilligungschancen beider Anträge wären sehr ungleich verteilt, wenn man Kriterien wie Präzision der Fragestellung, Machbarkeit in vorgegebener Zeit und Qualifikation des Antragstellers heranzieht. Viele offene Fragen, begriffliche Unsicherheit, unkonventionelle Ansätze, schwer absehbarer Zeitaufwand - all das charakterisiert exploratives Experimentieren in höherem Maße als ein strikt theoriegeleitetes, wird aber in unserer Antragskultur negativ bewertet. Mit ihrem höheren Risiko gedeiht diese Form des Experimentierens besser in einem weniger durchgeplanten Milieu mit offeneren Zeithorizonten.

Naturwissenschaft hat viele Gesichter. Der Genetiker und Nobelpreisträger François Jacob stellt der »Tagwissenschaft«, die uns in Veröffentlichungen, Lehrbüchern und populären Darstellungen begegnet, eine verborgene »Nachtwissenschaft« gegenüber. In der ersten »greifen die Beweisführungen ... ineinander und ihre Resultate haben die Kraft der Gewissheit«, die zweite dagegen »zögert, stolpert, weicht zurück«, sie ist die »Werkstatt des Möglichen, in der das künftige Material der Wissenschaften ausgearbeitet wird«. Der Unterschied zwischen Selbstdarstellung und Forschungspraxis, auf den Jacob hier verweist, ist praktizierenden Wissenschaftlern wohl geläufig, wird aber bei wissenschaftstheoretischen Überlegungen oft übersehen.


Geheimnisse der Nachtwissenschaft

Da exploratives Experimentieren kaum je den Weg in die veröffentlichten Aufsätze oder gar Lehrbücher findet, geriet es lange nicht ins Blickfeld philosophisch-historischer Forschung. Allgemein gilt: Wenn man einmal sicheren Boden erreicht hat, erinnert man sich ungern an Irrungen und Sackgassen, an das Tappen im Dunkeln. Im Besitz neuer Begriffe und Sichtweisen fällt es schwer, sich in eine Situation zurückzuversetzen, in der man manche Denkmöglichkeiten gar nicht hatte; der Blick auf die Erscheinungen hat sich unwiderruflich verändert. Veröffentlichungen werden aus der neuen Sicht heraus geschrieben, der unsichere Weg, der zu ihr führte, gerät in Vergessenheit. Um exploratives Experimentieren am Werk zu sehen, muss man also die Aufmerksamkeit auf Jacobs »Nachtwissenschaft« richten.

Das stellt methodische Ansprüche an die Wissenschaftsgeschichte: Forschungspraxis lässt sich nicht an ihren Resultaten ablesen, sie muss rekonstruiert werden. Veröffentlichungen können allenfalls als Eckpunkt dienen; viel wichtiger sind historische Quellen, die Einblick in unfertige, offene Forschungssituationen gewähren. Das können Laborbücher, Ideenskizzen oder erste Aufsatzentwürfe sein, Korrespondenzen, Gesprächsnotizen, Materialrechungen, Arbeitsaufträge an Hilfspersonal - aber auch nichtschriftliche Dinge wie Instrumente, Präparate oder Materialien. Der Aufwand für solche Rekonstruktionen zahlt sich aus. Wie Einstein einmal betonte, muss man, um die Arbeit der Wissenschaftler zu verstehen, dem Grundsatz folgen: »Höret nicht auf ihre Worte, sondern haltet euch an ihre Taten!« Weit über die theoretische Physik hinaus, um die es ihm ging, hat er damit einen entscheidenden Punkt getroffen.


Friedrich Steinle ist Professor für Wissenschafts- und Technikgeschichte sowie geschäftsführender Leiter des Interdisziplinären Zentrums für Wissenschafts- und Technikforschung an der Bergischen Universität Wuppertal. Er studierte Physik an der Universität Karlsruhe, promovierte in Wissenschaftsgeschichte an der Universität Tübingen und habilitierte sich an der Technischen Universität Berlin. Bevor er 2004 nach Wuppertal ging, forschte und lehrte er in Paris, Göttingen, Cambridge (US-Bundesstaat Massachusetts), Berlin, Bern, Stuttgart und Lyon.


Literatur:

Einstein, A.: Zur Methodik der Theoretischen Physik. In: Albert Einstein, Mein Weltbild. Ullstein, Frankfurt 2005.

Fleck, L.: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Suhrkamp, Frankfurt 1980.

Jacob, F.: Die Maus, die Fliege und der Mensch: Über die moderne Genforschung. Berlin Verlag, Berlin 1998.

Steinle, F.: »Das Nächste ans Nächste reihen«: Goethe, Newton und das Experiment. In: Philosophia Naturalis 39, S. 141 - 72, 2002.

Steinle, F.: Exploratives Experimentieren. Charles Dufay und die zwei Elektrizitäten. In: Physik Journal 3(6), S. 47 - 52, 2004.

Steinle, F.: Explorative Experimente. Ampère, Faraday und die Ursprünge der Elektrodynamik. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2005.


Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter www.spektrum.de/artikel/962045


© 2008 Friedrich Steinle, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


*


Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 9/08 - September 2008, S. 34-41
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69126 Heidelberg
Telefon: 06221/91 26-600, Fax 06221/91 26-751
Redaktion:
Telefon: 06221/91 26-711, Fax 06221/91 26-729
E-Mail: redaktion@spektrum.com
Internet: www.spektrum.de

Spektrum der Wissenschaft erscheint monatlich.
Das Einzelheft kostet 7,40 Euro, das Abonnement 79,20 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2008