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THEORIE/051: Eine neue Quantentheorie (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 11/13 - November 2013

Quanten-Bayesianismus
Eine neue Quantentheorie

Von Hans Christian von Baeyer



Im Jahr 1926 führte Erwin Schrödinger die Wellenfunktion in die Quantentheorie ein. Wie sie zu verstehen ist, darüber zerbrechen sich die Physiker bis heute die Köpfe. Eine neue Deutung namens QBismus geht davon aus, dass die Wellenfunktion nur die subjektive Erwartungshaltung des quantenmechanischen Beobachters wiedergibt.



AUF EINEN BLICK


 
Rein subjektive Beschreibung?

1. Die Quantenmechanik steckt trotz all ihrer Erfolge voller Paradoxien. Ein neues Modell namens Quanten-Bayesianismus - kurz QBismus - kombiniert Quanten- und Wahrscheinlichkeitstheorie, um die Widersprüche zu entschärfen.

2. Der QBismus interpretiert die Quelle aller Quantenparodoxien - die Wellenfunktion - auf neue Weise. Physiker berechnen mit ihr die Wahrscheinlichkeit, dass ein Teilchen eine bestimmte Eigenschaft hat, dass es zum Beispiel an einem Ort ist und nicht an einem anderen.

3. Dem QBismus zufolge ist die Wellenfunktion nicht real, sondern bloß ein mathematisches Werkzeug, mit dem ein Beobachter seine persönliche Überzeugung ausdrückt, dass ein Quantensystem eine bestimmte Eigenschaft hat. Nach dieser Deutung existiert die Wellenfunktion nicht objektiv, sondern gibt nur die subjektive Befindlichkeit einer Person wieder.


Die Quantenmechanik erklärt das Verhalten der Materie präzise - von subatomaren bis zu astronomischen Größenordnungen. Sie ist die erfolgreichste physikalische Theorie und zugleich die seltsamste: In der Quantenwelt scheinen sich Teilchen an zwei Orten zugleich aufzuhalten; Information pflanzt sich vermeintlich mit Überlichtgeschwindigkeit fort, und Katzen können gleichzeitig tot und lebendig sein. Seit nunmehr 90 Jahren plagen sich Wissenschaftler ohne rechten Erfolg mit solchen Paradoxien herum. Während die Erkenntnisse der Evolutionstheorie und Kosmologie längst fest zu unserem Weltbild gehören, gilt die Quantentheorie sogar vielen Physikern als bizarre Abnormität - eine zwar fast magisch wirksame, aber im Grund unerklärliche Gebrauchsanleitung zum Bau technischer Geräte wie Laser, Transistoren oder Kernspintomografen. Die nach wie vor zutiefst unklare Bedeutung der Quantentheorie verfestigt den Eindruck, für unser Alltagsleben seien ihre exotischen Ergebnisse eigentlich irrelevant.

Doch schon 2001 begann ein Forscherteam ein Modell zu entwickeln, das die Paradoxien eliminiert oder wenigstens entschärft. Der so genannte Quanten-Bayesianismus oder kurz QBismus (gesprochen wie Kubismus) liefert ein neues Bild der so genannten Wellenfunktion, auf der die Seltsamkeit der Quanten letztlich beruht.

Nach der herkömmlichen Auffassung wird ein Quantenobjekt, etwa ein Elektron, durch die Wellenfunktion repräsentiert - durch einen mathematischen Ausdruck, der die Eigenschaften des Objekts beschreibt. Will man vorhersagen, wie sich das Elektron verhalten wird, so berechnet man, wie sich seine Wellenfunktion zeitlich entwickelt. Das Ergebnis liefert die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Teilchen eine bestimmte Eigenschaft haben wird - zum Beispiel, dass es an einem Ort sein wird und nicht an einem anderen. Probleme entstehen, sobald Physiker annehmen, die Wellenfunktion sei real.

Darum bestreitet der QBismus die objektive Realität der Wellenfunktion. Indem er Quanten- und Wahrscheinlichkeitstheorie kombiniert, deutet der QBismus die Wellenfunktion als reine Gebrauchsanleitung, als mathematisches Werkzeug, mit dessen Hilfe der Beobachter klügere Entscheidungen über die ihn umgebende Quantenwelt trifft. Das heißt, die Wellenfunktion drückt die persönliche Überzeugung eines Beobachters über eine spezielle Eigenschaft des Quantensystems aus, wobei seine Entscheidungen und Aktionen das System in unbestimmter Weise beeinflussen. Ein anderer Beobachter wiederum verwendet seine eigene Wellenfunktion, welche die Welt so beschreibt, wie er sie sieht. Er mag zu einer völlig unterschiedlichen Schlussfolgerung bezüglich desselben Quantensystems kommen. Ein System -oder ein Ereignis - kann so viele unterschiedliche Wellenfunktionen besitzen, wie es Beobachter gibt. Erst nachdem die Beobachter miteinander kommuniziert und ihre privaten Wellenfunktionen dem neu erworbenen Wissen angepasst haben, ergibt sich ein übereinstimmendes Weltbild.

So gesehen könnte die Wellenfunktion »durchaus die mächtigste Abstraktion sein, die wir je gefunden haben«, meint der Theoretiker N. David Mermin von der Cornell University in Ithaca (US-Bundesstaat New York), der sich kürzlich zum QBismus bekehrt hat.

Die Idee, dass die Wellenfunktion nicht real sei, geht auf einen Mitbegründer der Quantentheorie in den 1930er Jahren zurück: Der dänische Physiker Niels Bohr (1885 - 1962) betrachtete die Wellenfunktion als rein symbolisches Rechenwerkzeug im Rahmen des Quantenformalismus. Der QBismus ist das erste Modell, das Bohrs Behauptung mathematisch untermauert. Es verbindet die Quantentheorie mit der bayesschen Statistik, die der englische Mathematiker Thomas Bayes (1701 - 1761) entwickelte, indem er Wahrscheinlichkeit als den Grad persönlicher Überzeugung definierte. Die bayessche Statistik liefert mathematische Regeln dafür, wie man subjektive Einsichten im Licht neuer Informationen aktualisiert. Die Anhänger des QBismus behaupten nun: Die rätselhaften Paradoxien der Quantenmechanik verschwinden, wenn man die Wellenfunktion als eine subjektive Überzeugung interpretiert, die einer Revision gemäß den Regeln der bayesschen Statistik unterworfen wird.

So wissen wir etwa, dass wir ein Elektron bei jedem Nachweis an einem bestimmten Ort finden. Doch wenn wir nicht nachsehen, kann sich die Wellenfunktion des Elektrons »verschmieren«; das heißt, das Teilchen scheint sich gleichzeitig an vielen unterschiedlichen Orten zu befinden. Nun führen wir erneut eine Messung durch - und finden das Elektron wiederum an genau einem Ort. Nach der Standardinterpretation verursacht die Beobachtung einen augenblicklichen »Kollaps« der Wellenfunktion zu einem eindeutigen Wert.

Da der Kollaps - auch wenn es sich um mehrere Teilchen handelt - überall zu exakt derselben Zeit geschieht, scheint er das Prinzip der Lokalität zu verletzen, dem zufolge jede Veränderung eines Objekts von einem Vorgang in dessen unmittelbarer Umgebung verursacht werden muss. Die Nichtlokalität führt zu den rätselhaften Quantenphänomenen, die Albert Einstein »spukhafte Fernwirkung« nannte.

Seit der Entstehung der Quantenmechanik sehen manche Physiker im Kollaps der Wellenfunktion eine paradoxe und zutiefst beunruhigende Eigenschaft der Theorie. Sie suchen darum nach alternativen Versionen der Quantenmechanik - mit recht gemischten Erfolg (siehe Kasten am Ende).

Doch der QBismus besagt, dass gar kein Paradox vorliegt. Der Kollaps der Wellenfunktion bedeutet nur, dass ein Beobachter auf Grund neuer Informationen plötzlich und sprunghaft seine Wahrscheinlichkeitsaussage revidiert - genau wie ein Arzt, der auf Grund einer neuen Computertomografie die Prognose eines Krebspatienten anders einschätzt. Das Quantensystem hat sich nicht auf seltsame und unerklärliche Weise gewandelt; verändert hat sich die Wellenfunktion, mit welcher der Beobachter seine Erwartungen ausdrückt.

Wir können diese Deutung auf das berühmte Paradoxon von Schrödingers Katze anwenden. Der österreichische Physiker Erwin Schrödinger (1887 - 1961) stellte sich eine Kiste vor, in die eine anfangs quicklebendige Katze sowie ein Giftfläschchen und ein radioaktives Atom gesperrt werden. Das Atom zerfällt nach den Regeln der Quantenmechanik innerhalb einer Stunde mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit. Wenn es zerfällt, zertrümmert ein Hammer das Fläschchen und setzt das Gift frei; andernfalls überlebt die Katze.

Man wartet nun eine Stunde, ohne die Kiste zu öffnen. Gemäß der herkömmlichen Quantentheorie bildet die Wellenfunktion des Atoms nach Ablauf einer Stunde eine Überlagerung von zwei Zuständen: zerfallen und nicht zerfallen. Doch da man den Inhalt der Kiste noch nicht überprüft hat, erstreckt sich die Superposition weiter: Auch der Hammer ist in einem Überlagerungszustand, ebenso auch das Giftfläschchen. Und nach dem quantenmechanischen Standardformalismus ist groteskerweise sogar die Katze eine Superposition - sie ist zugleich lebendig und tot.

Der QBismus löst das Rätsel, indem er darauf beharrt, die Wellenfunktion sei keine objektive Eigenschaft der Katze in der Kiste, sondern eine subjektive Idee des Beobachters. Natürlich ist das Tier entweder am Leben oder nicht, und nicht beides auf einmal. Zwar ist seine Wellenfunktion eine Superposition von »lebend« und »tot«, aber damit werden nur Annahmen des Beobachters beschrieben. Die Aussage, die Katze sei wirklich zugleich lebendig und tot, gleicht dem Kommentar eines Sportreporters, das Spiel sei unentschieden - zugleich »gewonnen« und »verloren« -, bis das entscheidende Tor fällt. Dass der Kenntnisstand einer Person die Welt so oder anders erschafft, ist eine absurde, geradezu größenwahnsinnige Idee.


»Gutartiger Unfriede«
Am Beginn des QBismus stand ein kurzer Artikel unter dem Titel »Quantum Probabilities as Bayesian Probabilities«, den Carlton M. Caves von der University of New Mexico in Albuquerque, Christopher A. Fuchs, damals an den Bell Laboratories in Murray Hill (New Jersey), und Rüdiger Schack von der University of London im Januar 2002 publizierten. Alle drei sind erfahrene Quanteninformatiker, und ihre jeweilige Zugehörigkeit zu einer physikalischen Fakultät, einem Industrielabor und einer Mathematikfakultät illustriert den interdisziplinären Charakters des Forschungsgebiets.

Seither ist Fuchs in das Perimeter Institute in Ontario (Kanada) umgezogen und zum Hauptvertreter des QBismus avanciert. Kollegen, die den humorvollen Texaner kennen, sind nicht überrascht, wenn er einen Artikel mit den Worten eröffnet: »In dieser Arbeit versuche ich ein bisschen gutartigen Unfrieden zu stiften.« Für Fuchs ist Wissenschaft ihrem Wesen nach eine gemeinsame Aktivität, und tiefe Erkenntnisse werden nur in heftigem intellektuellem Streit geboren. Wie ein Wirbelwind fegt er mit seinem Laptop im Rucksack um die Welt, organisiert Konferenzen, leitet Arbeitsgruppen und hält Vorlesungen.

Nebenbei hat Fuchs eine neue Art von Literatur geschaffen. Im Jahr 2011 veröffentlichte Cambridge University Press seine E-Mail-Korrespondenz mit Forschern aus aller Welt als 600-Seiten-Buch unter dem Titel »Coming of Age with Quantum Information«. Es berichtet von den Geburtswehen des QBismus und gibt einen plastischen Eindruck davon, wie Menschen in lebhaften Debatten theoretische Physik betreiben. Das Buch dokumentiert auch, dass Fuchs im Unterschied zu den meisten Wissenschaftlern Philosophie für wichtig hält. Dies nicht nur wegen ihres Einflusses auf die Physik, sondern auch, weil sie ihrerseits von physikalischen Erkenntnissen angeregt wird.

Zum Beispiel ist die Frage, was wir unter Wahrscheinlichkeit verstehen, im Grund philosophischer Natur. Für sie gilt wie für die Zeit: Wir wissen, was das ist, bis wir aufgefordert werden, es zu definieren. Gewiss besagt die 50-prozentige Wahrscheinlichkeit von »Kopf« beim Münzwurf etwas über das Resultat von 100 Würfen - aber was bedeutet die Aussage »Die Wahrscheinlichkeit, dass es heute Abend regnen wird, liegt bei 60 Prozent« oder die Einschätzung von US-Präsident Barack Obama vor der Geheimoperation gegen Osama bin Laden, die Erfolgswahrscheinlichkeit betrage 55 Prozent?

Seit drei Jahrhunderten existieren zwei ganz unterschiedliche Definitionen nebeneinander. Die seit Langem vorherrschende Variante heißt frequentistische Wahrscheinlichkeit; sie ist definiert als die relative Häufigkeit eines Ereignisses bei einer Serie von Zufallsversuchen. Diese Zahl gilt als objektiv und durch wissenschaftliche Experimente direkt verifizierbar. Das typische Beispiel ist der Münzwurf: Bei einer großen Anzahl von Würfen wird ungefähr zur Hälfte »Kopf« herauskommen, und somit beträgt die Wahrscheinlichkeit für Kopf rund 0,5. Genau genommen verlangt die Definition unendlich viele Würfe; erst dann nimmt die Wahrscheinlichkeit den exakten Wert 0,5 an. Leider wird der Wert damit unverifizierbar und büßt seinen Anspruch auf Objektivität ein. Um diese Definition auf Wettervorhersagen anzuwenden, könnte man reale oder simulierte Wettermuster abzählen, doch für Präsident Obamas Vermutung ist die frequentistische Interpretation nutzlos, denn die Aktion gegen Bin Laden war nicht wiederholbar.

Die zweite Variante ist der bereits erwähnte, nach Thomas Bayes benannte Bayesianismus, den der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace (1749 - 1827) später präzisierte und - zusammen mit dem eben skizzierten Frequentismus - in der Fachwelt bekannt machte. Im Gegensatz zum Frequentismus ist die bayessche Wahrscheinlichkeit subjektiv: Sie misst die Stärke der Überzeugung, dass ein Ereignis eintreten wird. Der Überzeugungsgrad gibt an, wie viel eine Person auf das Ereignis wetten würde. In einfachen Fällen wie dem Münzwurf stimmen Frequentismus und Bayesianismus überein. Doch bei Wettervorhersagen oder beim Ergebnis einer militärischen Aktion steht es dem Bayesianer im Gegensatz zum Frequentisten frei, quantitative statistische Daten mit intuitiven Schätzungen zu kombinieren, die auf früheren Erfahrungen beruhen.

Mit Einzelfällen - über die der Frequentismus nichts zu sagen weiß - kommt der Bayesianismus ohne Weiteres zurecht, und er vermeidet es, sich auf im Prinzip unendlich viele Vergleichsfälle wie beim genannten Münzenwerfen zu berufen. Doch sein eigentlicher Vorteil ist, dass Wahrscheinlichkeitsaussagen sich ändern können, da der Überzeugungsgrad nicht feststeht. Ein frequentistischer Meteorologe vermag zwar die Niederschlagswahrscheinlichkeit zu berechnen, wenn das regionale Klima seit vielen Jahren stabil und vorhersagbar ist. Doch im Fall einer plötzlichen Veränderung wie einer Dürre, über die es nur wenige Daten gibt, kann ein Bayesianer die neue Information berücksichtigen und damit das Wetter besser vorhersagen.

Den Kern der Theorie bildet eine einfache Formel, der so genannte Satz von Bayes. Damit wird berechnet, wie sich eine Wahrscheinlichkeitsschätzung unter dem Einfluss neuer Informationen ändert. Besteht beispielsweise bei einem Patienten Verdacht auf Krebs, so bestimmt der Arzt zunächst eine A-priori-Wahrscheinlichkeit, ausgehend von der generellen Häufigkeit des Leidens, der Krankheitsgeschichte der Verwandtschaft des Patienten und anderen Faktoren. Wenn die Testresultate vorliegen, aktualisiert der Arzt diese Wahrscheinlichkeit mittels der bayesschen Formel. Das Resultat drückt nicht mehr und nicht weniger aus als den persönlichen Überzeugungsgrad des Arztes.

Die meisten Physiker vertrauen eher der frequentistischen als der bayesschen Wahrscheinlichkeit, weil sie gelernt haben, alles Subjektive zu meiden. Doch sobald es gilt, eine Vorhersage zu machen, kommt der bayessche Ansatz ins Spiel, meint Marcus Appleby, ein Mathematiker an der University of London. Schließlich finden wir es verrückt, bei einer Lotterie zu wetten, wenn wir wissen, dass seit zehn Jahren Woche für Woche dieselbe Person gewonnen hat - obwohl ein strenger Frequentist darauf beharren müsste, dass frühere Wettergebnisse nichts über künftige Gewinner aussagen. In der Praxis ignoriert aber niemand derart auffällige Erfahrungswerte. Man nimmt den bayesschen Standpunkt ein, aktualisiert den Kenntnisstand und handelt nach bestem Wissen.

Obwohl der QBismus die Realität der Wellenfunktion bestreitet, negiert er keineswegs die Realität an sich. Wie der Mitbegründer Rüdiger Schack betont, ist das von einem Beobachter untersuchte Quantensystem durchaus real. Philosophisch gesprochen, meint Mermin, unterstellt der QBismus eine Spaltung oder Grenze zwischen der Lebenswelt des Beobachters und der Erfahrung, die er mit dieser Welt macht. Nur diese Erfahrung wird durch eine Wellenfunktion beschrieben.


Wellenfunktion und bornsche Regel
Kürzlich brachte Fuchs ein theoretisches Argument vor, das den Anspruch des QBismus untermauern soll, er sei eine stichhaltige Interpretation von Wahrscheinlichkeit und Quantentheorie. Es geht um die so genannte bornsche Regel, benannt nach dem deutschen Quantenphysiker Max Born (1882 - 1970). Nach ihr erhalten wir die Wahrscheinlichkeit dafür, ein Quantensystem mit der Eigenschaft X vorzufinden, wenn wir den Absolutbetrag der zu X gehörigen Wellenfunktion zum Quadrat erheben. Fuchs zeigte nun einen mathematischen Weg, wie sich die bornsche Regel fast vollständig in der Sprache der Wahrscheinlichkeitstheorie ausdrücken lässt - ohne Bezugnahme auf eine der Beobachtung zu Grunde liegende Wellenfunktion. Die bornsche Regel galt bisher als Brücke zwischen Wellenfunktion und Experiment; gemäß Fuchs können wir Versuchsergebnisse allein mittels Wahrscheinlichkeiten vorhersagen.

Für Fuchs liefert die neue Formulierung der bornschen Regel ein weiteres Indiz dafür, dass die Wellenfunktion bloß ein Werkzeug ist, mit dem Beobachter ihre persönlichen Überzeugungen oder Wahrscheinlichkeiten bezüglich der sie umgebenden Quantenwelt berechnen können. »Die bornsche Regel ist so gesehen eine Ergänzung des Bayesianismus«, schreibt Fuchs. »Sie liefert nicht so etwas wie objektivere Wahrscheinlichkeiten, sondern stellt ein zusätzliches Regelwerk für das Verhalten des Akteurs bereit, wenn er mit der physikalischen Welt interagiert.« Die neue Gleichung ist verblüffend einfach. Bis auf ein winziges Detail gleicht sie dem Gesetz der Gesamtwahrscheinlichkeit, welches logischerweise fordert, dass die Wahrscheinlichkeiten aller möglichen Ereignisse zusammen eins ergeben. Beispielsweise muss beim Münzwurf die Wahrscheinlichkeit für Kopf (0,5) plus derjenigen für Zahl (0,5) gleich eins sein. Der einzige Hinweis auf die Quantenmechanik in diesem Rezept zur Berechnung von quantentheoretischen Wahrscheinlichkeiten besteht darin, dass in der Formel die Quantendimension d des Systems auftaucht. Dimension bedeutet in dem Fall nicht Länge oder Breite, sondern die Anzahl der Zustände, die ein Quantensystem einnehmen kann. Zum Beispiel hat ein einzelnes Elektron, dessen Spin aufwärts oder abwärts weisen kann, die Dimension 2.

Wie Fuchs betont, ist die Quantendimension eine wesentliche, nicht weiter reduzierbare Eigenschaft, die den Quantencharakter eines Systems charakterisiert - so wie die Masse eines Objekts dessen Trägheit und Gewicht ausdrückt. Obgleich d in allen quantenmechanischen Rechnungen implizit enthalten ist, taucht es nun erstmals explizit in einer Grundgleichung auf. Mit dieser Fassung der bornschen Regel hofft Fuchs den Schlüssel zu einer neuen Deutung der Quantenmechanik zu besitzen. »Ich spiele mit der Idee«, gesteht er, »dass die bornsche Regel das bedeutsamste Axiom der gesamten Quantentheorie ist.«


Eine neue Wirklichkeit
Kritiker des QBismus wenden unter anderem ein, er sei unfähig, im Stil der herkömmlichen Quantenmechanik komplexe makroskopische Phänomene auf tiefer liegende mikroskopische Prozesse zurückzuführen. Dem kann der QBismus am besten begegnen, wenn es ihm gelingt, die Standardtheorie der Quantenmechanik aus neuen, zwingenden Grundannahmen herzuleiten.

Dieser entscheidende Erfolg steht zwar noch aus, doch schon jetzt bietet der QBismus eine neue Ansicht der physikalischen Realität. Indem er die Wellenfunktion als persönlichen Überzeugungsgrad definiert, verleiht er Bohrs Aussage »Die Physik beschäftigt sich mit dem, was wir über die Natur sagen können« eine präzise, mathematische Bedeutung. Die Vertreter des QBismus stehen auf dem Standpunkt, dass das Ergebnis eines Experiments vor dessen Ausführung einfach nicht existiert.

Bevor jemand die Geschwindigkeit oder den Ort eines Elektrons misst, besitzt das Teilchen weder das eine noch das andere. Erst die Messung verhilft der gesuchten Eigenschaft zum Dasein. Mit den Worten von Fuchs: »Mit jeder vom freien Willen eines Experimentators bestimmten Messung wird die Welt ein klein wenig geformt; sie nimmt quasi an einem Geburtsmoment teil.« In dieser Weise tragen wir aktiv zur fortwährenden Erschaffung des Universums bei.


KÄSTEN

Ein Paradoxon löst sich auf

Der Unterschied zwischen der Kopenhagener Standarddeutung der Quantenmechanik und dem Quanten-Bayesianismus lässt sich gut an dem berühmten Beispiel von Schrödingers Katze illustrieren. Hierbei werden eine Katze und ein Giftfläschchen in eine Kiste gesperrt. Ein mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit eintretendes Quantenereignis zerbricht das Fläschchen (oder nicht) und tötet dadurch die Katze (oder nicht). Bevor ein Beobachter die Kiste öffnet, bildet die das System beschreibende Wellenfunktion eine Superposition der Zustände »lebend« und »tot«. Erst durch den Beobachtungsvorgang kollabiert die Wellenfunktion der Katze in einen der beiden Zustände. Hingegen beschreibt die Wellenfunktion im QBismus nur den subjektiven Denkzustand des Beobachters, und die Superposition gilt nur für diesen Zustand: Die Katze ist entweder lebendig oder tot; die Beobachtung klärt dann, was von beidem zutrifft.

Standarddeutung: Der Wellenfunktion zufolge ist die Katze zugleich lebendig und tot.

Quanten-Bayesianismus: Die Katze ist entweder tot oder lebendig. Die Wellenfunktion beschreibt nur den Denkzustand des Physikers.

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Vier Deutungen der Quantenmechanik

Was geht in der Quantenwelt vor sich? Forscher haben ein rundes Dutzend unterschiedlicher Interpretationen für den mathematischen Formalismus angeboten. Der Quanten-Bayesianismus ist die wohl radikalste Deutung. Folgende vier Alternativen wurden unter Physikern und Naturphilosophen besonders intensiv diskutiert.

Die Kopenhagener Deutung wurde vor allem von dem dänischen Physiker Niels Bohr (1885 - 1962) und seinem deutschen Kollegen Werner Heisenberg (1901 - 1976) entwickelt. Sie ist die orthodoxe Version der Quantenmechanik. Die messbaren Eigenschaften eines Atoms oder eines anderen Systems bilden demnach dessen Quantenzustand. Dieser wiederum wird entweder durch eine Matrix oder eine Wellenfunktion beschrieben, die alle möglichen Messresultate umfasst. Den Kontakt zur Realität stellt die bornsche Regel her, benannt nach Heisenbergs Lehrer Max Born (1882 - 1970); sie liefert zu einem gegebenen Quantenzustand messbare Wahrscheinlichkeiten. Durch die Messung verursacht der Beobachter den »Kollaps der Wellenfunktion« zu einem neuen Zustand, der das tatsächliche Messergebnis beschreibt. Der augenblickliche Kollaps erlaubt Wirkungen, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten.

Die Führungsfeld-Deutung: Einige Physiker, darunter vorübergehend auch Albert Einstein (1879 - 1955), versuchten ein reales Quantenfeld einzuführen, das die Bewegung eines Teilchens steuert. Leider verliert dieses Modell jede Anschaulichkeit, sobald mehrere Teilchen beteiligt sind: N Teilchen bewegen sich in einem abstrakten Raum mit 3N Dimensionen. Außerdem übt auch hier das Führungsfeld eine augenblickliche Fernwirkung über beliebige Distanzen aus.

Die Vielwelten-Deutung, die in den letzten Jahren starken Zulauf erfährt, verzichtet auf den Kollaps der Wellenfunktion. Man postuliert einen einzigen Quantenzustand der Welt, der sich kontinuierlich und deterministisch entwickelt. Stellt ein Experiment beispielsweise fest, welchen Teil eines Doppelspalts ein Elektron passiert hat, so kollabiert nicht der Quantenzustand auf einen Spalt, sondern die Welt spaltet sich in zwei Zweige auf. Wir, die Beobachter der realen Welt, existieren in dem einen Zweig und nehmen vom anderen nichts wahr. Somit spaltet sich das Universum wie ein Baum in ein riesiges Multiversum auf, in dem jedes mögliche Ergebnis in einer unendlichen Vielfalt separater Universen real existiert. Der größte Nachteil dieser Deutung - neben ihrer Zumutung für unsere Vorstellungskraft - ist, dass es ihr schwerfällt, in der verzweigten Welt die Wahrscheinlichkeit eines Versuchsresultats zu definieren.

Theorien mit spontanem Kollaps: In solchen Modellen wird der Kollaps nicht durch die Beobachtung ausgelöst, sondern ist ein natürlicher Vorgang, der in jedem Quantensystem auftritt - insbesondere, wenn es mit einem makroskopischen Objekt wechselwirkt. Allerdings muss dafür ein völlig neuer Kollapsmechanismus erfunden werden. Solange sich dieser nicht experimentell beweisen lässt, bleibt er eine neue Annahme, die ebenso rätselhaft ist wie der vom Beobachter ausgelöste Kollaps in der Kopenhagener Deutung.


DER AUTOR
Hans Christian von Baeyer ist theoretischer Teilchenphysiker und emeritierter Professor am College of William and Mary, einer staatlichen Universität in Williamsburg (US-Bundesstaat Virginia). Er ist Mitglied der American Physical Society und hat sechs populärwissenschaftliche Bücher verfasst, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde.


QUELLEN
Fuchs, C.A.: Interview with a Quantum Bayesian. http://arxiv.org/abs/1207.2141
Fuchs, C.A.: QBismus, the Perimeter of Quantum Bayesianism. http://arxiv.org/abs/1003.5209
Mermin, N.D.: Quantum Mechanics: Fixing the Shifty Split. In: Physics Today 6, S. 8, 2012

Dieser Artikel im Internet:
www.spektrum.de/artikel/1201696


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Abb. S.46-47:
Nach Überzeugung der Quanten-Bayesianer beschreibt die Wellenfunktion nicht die physikalische Realität, sondern allein die Überzeugungen eines potenziellen Beobachters.


© 2013 Hans Christian von Baeyer, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 11/13 - November 2013, Seite 46 - 51
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2014