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RAUMFAHRT/787: Swingby-Manöver - Anomale Anomalie (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 9/10 - September 2010
Zeitschrift für Astronomie

Anomale Anomalie

Von Maike Pollmann


Einige Raumsonden erfuhren durch einen nahen Erdvorbeiflug eine rätselhafte Beschleunigung und regten damit die Fantasie der Physiker an. Womöglich ist die Ursache aber viel banaler als erhofft: Schwächen in der Software könnten für die unerklärlichen Abweichungen dieser Raumsondenpositionen verantwortlich sein.


Swingby-Manöver sind fast so alt wie die Raumfahrt selbst: Sonden nutzen Mond, Erde und andere Planeten, um sich auf ihrer Weltraumreise Schwung zu holen und so Treibstoff zu sparen und manche Reise überhaupt erst zu ermöglichen. Das auch Flyby genannte Manöver ist gut verstanden und lässt sich mit der richtigen Software präzise planen. Beim Erdvorbeiflug der Jupitersonde Galileo im Dezember 1990 sollte sich dies einmal mehr beweisen. Die Ingenieure am Jet Propulsion Laboratory (JPL) in Pasadena verfolgten das von der Sonde zurückgesandte Radiosignal, um daraus ihre Geschwindigkeit und die Flugbahn zu bestimmen.

Aber irgendetwas stimmte nicht. Die Geschwindigkeit der Raumsonde war nach dem Manöver fast vier Millimeter pro Sekunde höher als im Vorfeld berechnet. Obwohl es sich dabei nur um rund ein Millionstel ihrer Geschwindigkeit handelt - mit Messungenauigkeiten lässt sich die Differenz nicht erklären. Während Galileo in einem Abstand von rund 1000 Kilometern an unserem Planeten vorbeirauschte, schien also eine mysteriöse Kraft zu wirken. Wissenschaftler bezweifelten das überraschende Ergebnis, denn alle Bemühungen, eine Ursache zu finden, blieben erfolglos.

Zu aller Erstaunen zeigten in den folgenden Jahren weitere, aber längst nicht alle Raumsonden ein ähnlich seltsames Verhalten während ihres Erd-Swingbys; zuletzt die Kometensonde Rosetta im März 2005. Die Asteroidensonde NEAR (Near Earth Asteroid Rendezvous) wies bisher die größten Abweichungen auf: Nachdem sie im Januar 1998 dicht an unserem Planeten vorbeigeflogen war, lag ihre Geschwindigkeit 13 Millimeter pro Sekunde über dem vorhergesagten Wert.


Ursachenforschung

Bis heute scheitern alle etablierten Theorien daran, die mysteriösen Geschwindigkeitsabweichungen zu erklären. Was läge also näher, als ein bisher unbekanntes physikalisches Phänomen dahinter zu vermuten? Schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass zunächst rätselhafte Beobachtungen neue Einsichten in den Ablauf der Welt bringen.

Vielleicht von dieser Hoffnung beflügelt, lockte die Anomalie eine Reihe von ideenreichen Wissenschaftlern. Einige spekulierten, dass Gezeitenkräfte oder Strahlungsdruck die Sonden von ihrem Kurs abbringen mochten. Möglicherweise habe man aber auch gewisse Effekte der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie noch nicht berücksichtigt. Oder Dunkle Materie, die um die Erde herumgeklumpt ist, sei dafür verantwortlich. Andere gehen dagegen rigoroser vor: Sie schlagen zum Beispiel vor, das bisherige Verständnis von Trägheit zu hinterfragen.

Claus Lämmerzahl von der Universität Bremen rief mit vielen anderen Forschern die International Flyby Collaboration am International Space Science Institute (ISSI) ins Leben, um den merkwürdigen Messungen endlich auf den Grund zu kommen. Eine Vielzahl von potenziellen Ursachen für die Anomalien konnten sie bereits verwerfen. Denn die meisten bisher ins Feld geführten Effekte sind viel zu schwach, als dass sie die mysteriöse Beschleunigung erklären könnten.

Gleichwohl findet Lämmerzahl es richtig, dass Wissenschaftler sich in abenteuerlichen Theorien versuchen. Schließlich gibt es viele offene Probleme in der Physik. Beispielsweise dürfte die Gravitation nur in bestimmten Kraftportionen oder Quanten auftreten, wenn man die Quantenmechanik mit der allgemeinen Relativitätstheorie vereinen möchte - ein großes Ziel von Physikern. Sollte es eine solche Quantengravitation tatsächlich geben, müsste die Standardphysik allerdings modifiziert werden. Und eine solche Korrektur würde laut Lämmerzahl wahrscheinlich in der Gravitationstheorie stattfinden. Verständlich also, wenn sich viele Forscher auf eine rätselhafte Messung in diesem Bereich stürzen.

John Anderson vom Jet Propulsion Laboratory, der ebenfalls der International Flyby Collaboration angehört, näherte sich dem Problem mit einigen Kollegen auf eine andere Weise: Sie stellten im Jahr 2008 eine empirische Formel auf, um die Anomalie zu beschreiben. Auf der Suche danach hatten die Forscher die Daten sämtlicher Erdvorbeiflüge analysiert. Entscheidend schien zu sein, auf welchem Himmelsbreitengrad sich die Raumsonde der Erde näherte und wieder von ihr entfernte.

Zwar konnte die Gleichung nicht erklären, was physikalisch hinter dem Phänomen steckt, doch ließen sich damit tatsächlich viele mysteriöse Flugdaten reproduzieren und zudem das Verhalten zukünftiger Flybys vorhersagen. Die beiden Erdvorbeiflüge der Sonde Rosetta 2007 und 2009 machten den Wissenschaftlern dann allerdings einen Strich durch die Rechnung: Sowohl beim zweiten als auch beim dritten Rosettavorbeiflug an der Erde war nichts Ungewöhnliches zu beobachten. Anderson und Kollegen hatten in beiden Fällen jedoch eine Abweichung von einem Millimeter pro Sekunde prognostiziert. Die Formel sei damit tot, bringt es Lämmerzahl auf den Punkt.

Neben all den fantastischen Ideen rücken schnöde systematische Fehler meist in den Hintergrund. Doch mögliche Ursachen gäbe es auch hier genügend. Die Positionen der Beobachtungsstationen auf der Erde könnten beispielsweise nicht hundertprozentig korrekt auf das Koordinatensystem des Sonnensystems umgerechnet worden sein. Manche Wissenschaftler vermuten auch, dass die Software im entscheidenden Moment nicht alle möglichen physikalischen Effekte berücksichtigte. Denn die Ingenieure mussten einen Kompromiss zwischen der Computerleistung und der Komplexität des Algorithmus finden.

Ein solches Vorgehen hat zwar in 99,9 Prozent aller Satellitenmanöver keinen Einfluss, doch bei Flybys ist nicht nur das Tempo, sondern auch die Geschwindigkeits- und Richtungsänderung sehr hoch - im Gegensatz zum eher ruhigen Flug durch den interplanetaren Raum handelt es sich also um eine physikalische Extremsituation. In diesem Fall könnten vernachlässigte Terme in der Bahnberechnungssoftware die Ergebnisse sehr wohl verfälschen.

Ein grober Softwarefehler sei aber wohl ausgeschlossen, meint Frank Budnik vom ESOC in Darmstadt, der für die Flugdynamik von Rosetta verantwortlich ist. Denn obwohl verschiedene Programme - etwa vom Jet Propulsion Laboratory, vom Goddard Space Flight Center oder der ESOC - unabhängig voneinander entwickelt wurden, ergeben sie für die Flugdaten von NEAR und Rosetta das gleiche Resultat. Allerdings basieren die Programme auf ähnlichen Algorithmen, und so könnten sie alle ein und dieselbe winzige Schwachstelle aufweisen.


Abwarten und genau beobachten

Die Schwierigkeit an der Sache: Der Algorithmus für eine Bahnbestimmung interplanetarer Sonden ist enorm komplex. Es gibt eben unzählige Dinge, die man darin berücksichtigen muss, aber unter Umständen weggelassen oder genähert hat. Verschiedene Faktoren im Programm ein- und auszuschalten, um dann zu schauen, ob die Anomalie noch da ist, dürfte Monate dauern.

Hinzu kommt, dass der Algorithmus bereits Ende der 1960er Jahre entwickelt wurde. Die Grundlagen sind bis heute im Wesentlichen gleich geblieben - auch wenn im Lauf der Jahre hier und da noch einige Dinge dazugekommen sind. Jemanden zu finden, der sich mit der Materie auskennt und dann auch noch finanziert wird, sei schwierig, so Budnik. Denn so interessant die wissenschaftliche Ursachenforschung auch sein mag, für die Navigation von Raumsonden stellen die unerklärbaren Flugdaten kein Problem dar.

Für Frank Budnik zählt ein bisher unbekanntes physikalisches Phänomen jedenfalls nicht zu den Favoriten. Antworten können wohl nur zukünftige Erdvorbeiflüge liefern: Zeigen die nächsten zwei, drei Flybys wieder kein anomales Verhalten, so Lämmerzahl, dann gibt und gab es diese mysteriöse Beschleunigung wohl nie.



Literaturhinweise

Kippenhahn, R.: Die Schwerkraft in der Krise? In: Sterne und Weltraum 6/2006, S. 42 - 43
Preuss, O., Dittus, H.-J., Lämmerzahl, C.: Überraschungen vor der Haustür. In: Sterne und Weltraum 4/2007, S. 27 - 34.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Am 13. November 2007 passierte Rosetta in 5300 Kilometer Distanz die Erde zum zweiten Mal, um sich weiteren Schwung für ihre Reise zum Kometen 67P/Tschurjumow-Gerasimenko zu holen (künstlerische Darstellung).

© 2010 Maike Pollmann, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Sterne und Weltraum 9/10 - September 2010, Seite 28 - 29
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2010