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WERKSTOFFE/886: Werkstoffdesign der Zukunft (Spektrum - Uni Bayreuth)


Spektrum 2/2015 - Universität Bayreuth

Werkstoffdesign der Zukunft

Mit Computersimulationen zu neuen Superlegierungen

von Heike Emmerich


Die rasanten Fortschritte auf den Gebieten der Informationstechnologien haben auch die Produkte und Prozesse in der Werkstoffindustrie stark beeinflusst. Insbesondere haben sie innovative Entwicklungen unterstützt, die darauf abzielen, hochbelastbare Werkstoffe maßzuschneidern - mit genau denjenigen Eigenschaften, die für High-Tech-Produkte in der jeweiligen Branche angestrebt werden. Es liegt auf der Hand, dass solche Technologien des Materialdesigns eine Grundlage für erhebliche Wettbewerbsvorteile sein können. Doch andererseits hat sich klar herausgestellt, dass neue Möglichkeiten im IT-Bereich für sich genommen nicht ausreichen, um ein derartiges Materialdesign auf den Weg zu bringen.

Dafür mussten vielmehr zwei weitere Faktoren hinzukommen:

  • Hochpräzise Simulationsverfahren, die auf immer leistungsfähigeren Computern erlauben, immer größere Zeit- und Längenskalen der Werkstoffentwicklung abzubilden.
  • Zunehmend detaillierte und dennoch leistungsfähige Werkstoffmodelle, die auch komplexe Prozesse der inneren Werkstoffumwandlung simulieren können.

Beide Faktoren waren und sind eng miteinander verknüpft: Steigende Rechnerkapazitäten haben es möglich gemacht, Simulationen von Werkstoffen auf immer größere Zeit- und Längenskalen auszuweiten und dadurch zunehmend präzise Informationen über deren Eigenschaften und Verhaltensweisen zu gewinnen. Diese Entwicklung führte dazu, dass die Ergebnisse von Experimenten immer besser vergleichbar wurden. Dies wiederum war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass schrittweise für alle wichtigen Längen- und Zeitskalen der Werkstoffbeschreibung validierte Modelle etabliert werden konnten - im quantenmechanischen und im atomaren Bereich, in mesoskopischen Größenordnungen, bis hin zum Kontinuumsbereich oberhalb von 1 Mikrometer. [1] Zudem konnten übergreifende Modellbeschreibungen entwickelt werden, die diese Skalen miteinander verbinden. [2] Sie tragen heute zur Lösung einer der zentralen Herausforderungen bei, der sich die europäischen Werkstoffindustriebranchen infolge der Globalisierung ihrer Märkte stellen müssen: in immer kürzeren Zeitzyklen leistungsfähigere Werkstoffe zu entwickeln - mit spezifischen Eigenschaften, die noch präziser als bisher auf definierte Anwendungen hin zugeschnitten sind.


Der Blick nach vorn: Fortschritte durch Experimente

Über Jahrhunderte wurden Werkstoffe und die dazugehörigen Prozesse prinzipiell auf die gleiche Weise entwickelt und weiterentwickelt. Die Abfolge von 'Versuch und Irrtum' ermöglichte und beförderte den Erkenntnisfortschritt. Am Beispiel der zunehmend elaborierten Legierungen für antike Schwerter lässt sich das verdeutlichen: Man änderte die Anteile der Materialien, fügte neue hinzu, erprobte verbesserte Schmiedetechniken - und maß das Ergebnis an der resultierenden Werkstoffbeschaffenheit. Die Denkweise war immer nach vorn gerichtet: ausgehend von der Gegenwart des Experimentierens und Machens hin zu einem angestrebten, erst in der Zukunft verifizierbaren Erfolg.

So verfährt im Prinzip noch heute eine rein experimentell ausgerichtete Werkstoff- und Prozessweiterentwicklung - auch nachdem es infolge der Digitalisierung möglich geworden war, immer detailliertere und leistungsfähigere Modell- und Simulationsansätze für neue Materialien zu entwickeln. Denn am Anfang standen jedesmal bekannte Werkstoffeigenschaften, die präzise nachgerechnet wurden. Mit den daraus resultierenden validierten Modellen ließen sich dann zunehmend auch solche Materialzusammensetzungen berechnen, die noch nicht im Labor synthetisiert waren. Deren Eigenschaften konnten in einigen Fällen sogar mit hoher Genauigkeit vorhergesagt werden. Weil die Rechnerkapazitäten, die der Materialforschung zur Verfügung standen, sich beständig vergrößerten, konnten für wichtige Werkstoffklassen Materialzusammensetzungen und Prozessparameter in Simulationen viel umfangreicher variiert werden, als dies in Experimenten je möglich gewesen wäre. So ließen sich - was vorher noch undenkbar schien - wesentliche systematische Beziehungen zwischen Prozessparametern, Materialzusammensetzungen und resultierenden Werkstoffeigenschaften ableiten.

Der Lehrstuhl für Material- und Prozesssimulation (MPS) an der Universität Bayreuth treibt diese Entstehung neuer Werkstoffe sowohl in der Grundlagenforschung als auch in Zusammenarbeit mit Industriepartnern weiter voran - beispielsweise durch die Koordination des von der Europäischen Union geförderten Projekts SIMCHAIN. Das Ziel des Forschungsverbunds ist es, die Entwicklung von Mikrostrukturen und die daraus resultierenden Eigenschaften zu simulieren - mit dem Ziel, die daraus gewonnenen Erkenntnisse in industriellen Fertigungsprozessen von Turbinenschaufeln umzusetzen. Diese Forschungsarbeiten stehen in engem Zusammenhang mit dem computergestützten Design neuer Superlegierungen. Diese setzen sich aus exakt definierten Anteilen unterschiedlicher Metalle zusammen und zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbst bei sehr hohen Temperaturen härter als Stahl sind. Sie besitzen eine hervorragende Oberflächenstabilität und sind nicht anfällig für Korrosions- oder Oxidationsprozesse.

Das technische und wirtschaftliche Interesse an derartigen Hochtemperaturwerkstoffen ist enorm, beispielsweise in der Flugzeugindustrie und der Raumfahrt. Denn die Wirkungsweise von Kraftwerken, Turbinen, Motoren und weiteren Systemen der Energietechnik kann mit neuen Materialien, welche die Eigenschaften von metallischen Werkstoffen und Keramiken extrapolieren, erheblich verbessert werden. Eine Vielzahl von Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet ist im DFG-geförderten Graduiertenkolleg "Stabile und metastabile Mehrphasensysteme bei hohen Anwendungstemperaturen" entstanden, das gemeinsam vom Lehrstuhl für Metallische Werkstoffe mit einem Forschungspartner an der Universität Erlangen-Nürnberg geleitet wird.

Bei allen diesen Forschungserfolgen war und ist die Denkweise grundsätzlich 'nach vorn' gerichtet: ausgehend von Prozessparametern und Materialzusammensetzungen hin zu den resultierenden Werkstoffeigenschaften.


Ein neues Paradigma in Forschung und Industrie: Inverses Materialdesign

Der weltweite Konkurrenzdruck auf dem Gebiet neuer, hochbelastbarer Funktionsmaterialien fördert heute aber eine "inverse" Denkweise. Diese geht von den gewünschten funktionalen Eigenschaften aus, die ein Material besitzen soll, und führt zurück zu einem maßgeschneiderten Material, das genau diese Eigenschaften besitzt. Der 'Rückweg' aber führt nicht über Experimente im Labor, sondern wird von Hochleistungsrechnern bewerkstelligt. Diese sollen aufgrund umfassender materialphysikalischer Daten imstande sein, auf der Basis der gewünschten Eigenschaften zurückzurechnen und ein möglichst kostengünstiges Material zu identifizieren, das tatsächlich alle diese Eigenschaften aufweist. Zugleich sollen sie einen möglichst kostengünstigen Prozess identifizieren können, der zur Herstellung des Wunschmaterials führt.

Genau dies ist das Paradigma des inversen Materialdesigns, das sich heute in der Forschung zu etablieren beginnt. Es gilt unter wissenschaftlichen wie unter ökonomischen Aspekten als große Herausforderung und wird in den nächsten zwei Jahrzehnten voraussichtlich mit neuen Entwicklungen verbunden sein.

Was sind die wichtigsten Schritte, die bei einem solchen inversen Materialdesign durchlaufen werden müssen, und welcher Rechenaufwand ist dabei erforderlich? Das folgende Beispiel soll diesen Prozess verdeutlichen. Es geht dabei um sogenannte "superharte Beschichtungen". Rund 90 Prozent aller Schneidewerkzeuge werden heute so beschichtet, was die enorme wirtschaftliche Bedeutung zeigt. Angenommen nun, man würde ein neuartiges, extrem hartes Werkzeug herstellen wollen, das ein ganz spezielles Eigenschaftsprofil besitzt. Dann startet man eine Computersimulation, die zunächst einmal eine möglichst große Zahl potenzieller Materialzusammensetzungen daraufhin überprüft, welche von ihnen das angestrebte Eigenschaftsprofil besitzt. Besonders hilfreich sind dabei Data Mining-Methoden aus der Informatik. [3]

Wenn man diese Verfahren anwendet, um extrem harte Werkstoffe herzustellen, arbeitet man in der Regel mit Materialmodellen auf der Elektronen- und der Atomskala. Ein Material, das sich dabei als besonders vielversprechend erweist, ist dies aber nur insofern, als man so zunächst lediglich seine idealisierten Härtewerte kennt: also die Härtewerte eines unbelasteten, thermisch nicht angeregten Materials. Denn nur diese Werte werden auf der Elektronen- und der Atomskala erfasst. Tatsächlich beobachtet man jedoch, sobald das betreffende Material im Experiment getestet wird, andere Werte. Dies hängt mit physikalischen Phänomenen zusammen, die sich nicht auf der Elektronen- und der Atomskala, sondern auf einer weit größeren Skala abspielen.

Was folgt daraus für die Hochleistungsrechner, die Materialsysteme identifizieren sollen, die unter realen Bedingungen - also auch im Zustand der thermischen Anregung - eine extreme Härte aufweisen? Gefragt sind Simulationen, die nicht bei der Elektronen- und der Atomskala stehen bleiben, sondern überdies auch die Dislokations- und Korngrenzbewegungen auf der größeren Skala erfassen. Sie sollen in der Lage sein, mit Bezug auf eine möglichst große Vielzahl von Materialsystemen die Unterschiede zwischen idealen und realen Härtewerten zu erkennen. Auf dieser Basis wird es dann in weiteren Schritten möglich sein, die systematischen Beziehungen zwischen idealen und realen Kenngrößen möglichst exakt zu beschreiben. Je besser dies gelingt, desto eher ist gewährleistet, dass die Simulationen letztlich zu Ergebnissen führen, die im Industriemaßstab für neue Hochtechnologien genutzt werden können.

Damit aber wird klar: Ein inverses Materialdesign verlangt hochkomplexe Verknüpfungen von verschiedenen Rechenmodellen. Selbst wenn man sich zunächst darauf zurückziehen würde, das 'Data Mining' auf einige gut bekannte Materialsysteme zu beschränken: Die durch ein 'Zurückrechnen' ermöglichte Identifikation von Materialien, die sich durch reale und daher industriell relevante Eigenschaftsprofile auszeichnen, bliebe immer noch sehr aufwändig. Allein schon die Berechnung idealisierter Härtewerte verlangt hohe Rechenleistungen. So würde man beispielsweise 700 Prozessoren eines leistungsstarken Parallelrechenclusters benötigen, um basierend auf kleinsten Längen- und Zeitskalen die elastischen Konstanten und die daraus resultierenden idealisierten Härtewerte für rund 28.000 Materialsysteme in einem Jahr zu berechnen. Erst damit aber bekommt man einen umfassenden Überblick über alle binären und ternären Systeme.

Gleichwohl gibt es bereits wichtige Forschungserfolge auf dem Weg zu einem inversen Materialdesign - wie beispielsweise die Studien, die von Leslie T. Mushongera in seiner Dissertation am Lehrstuhl für Material- und Prozesssimulation an der Universität Bayreuth durchgeführt wurden. Darin geht es um die Sensitivität von Legierungsvariationen. Kürzlich wurden die beiden Superlegierungen CMSX4 und CMSX6 miteinander verglichen und extrapolierend eine sogenannte Sensitivitätsstudie durchgeführt. Dabei wurde untersucht, wie die Konstituenten optimal zu verändern wären, um in einem neuen Materialverband die mechanischen Eigenschaften zu optimieren. [4]

Die Entwicklung in Richtung eines inversen, computerbasierten Materialdesigns hat gerade erst begonnen, und die Universität Bayreuth zählt in Deutschland zu den Pionieren, die daran mitwirken. Es wird spannend sein zu verfolgen, wie Fortschritte bei der Verkürzung notwendiger Rechenzeiten und bei der Identifikation hochleistungsfähiger Materialien in den nächsten zwei Dekaden ineinander greifen werden.


Prof. Dr.-Ing. Heike Emmerich ist Inhaberin des Lehrstuhls für Material- und Prozesssimulation an der Universität Bayreuth.


Anmerkungen

[1] Dierk Raabe (Hg.): Computational Materials Science: The Simulation of Materials Microstructures and Properties. Weinheim (u.a.), 1998; ebenso Sidney Yip (Hg.): Handbook of Materials Modeling. Berlin 2005.

[2] Z. Xiao Guo (Hg.): Multiscale Materials Modeling - Fundamentals and Applications. Cambridge 2007.

[3] G.H. Johannesson et al.: Combined Electronic Structure and Evolutionary Search Approach to Materials Design, in: Phys. Rev. Lett. 88, 255506 (2002).

[4] Leslie Mushorenga et al.: Effect of Re on directional-coarsening in commercial single crystal Ni-base superalloys: A phase field study, Acta Materialia, 93, S. 60-72 (2015).

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Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 2 - November 2015, Seite 34-37
Universität Bayreuth
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Spektrum erscheint ein- bis zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2016

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