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ETHIK/001: Vision des Netzwerkes der ökumenischen Anwaltschaft für Menschen mit Behinderung (BEB)


BeB - Informationen, Bundesverband evangelische Behindertenhilfe
Nr. 42, Dezember 2010

"Ich habe einen Traum ..."
Eine Vision des Netzwerkes der ökumenischen Anwaltschaft für Menschen mit Behinderung

Von Brigitte Huber


In den BeB-Informationen 40 vom April 2010 berichteten wir über das Dokument des Ökumenischen Rates der Kirchen "Kirche aller - eine Vorläufige Erklärung". Auf Initiative des BeB waren einige der Autoren des Dokumentes im September beim Diakonie-Bundesverband, dem Deutschen Institut für Ärztliche Mission (als eigentlicher Gastgeber), dem Evangelischen Entwicklungsdienst und Brot für die Welt in Tübingen zu Gast: der Leiter des Netzwerkes (EDAN, Ecumenical Disabled Advocates Network), Samuel Kabue aus Kenia, zusammen mit den Koordinatoren des Netzwerkes für Jamaika, Schweden, Korea, USA und Kuba.


Thema Behinderung im Weltkirchenrat

Die 16 Teilnehmer an der Konferenz diskutierten intensiv an drei Tagen über die Entstehung dieses internationalen Selbsthilfe-Netzwerkes, das dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf unterstellt ist, aber selbstständig arbeitet, über Ansätze einer Theologie der Befreiung und eine Zukunftsvision.

Wie Samuel Kabue berichtete, wird das Thema Behinderung seit 1968 im Weltkirchenrat erörtert. Immer wieder wird betont, dass Menschen mit Behinderung Teil der Kirche sind, sich einbringen und nicht nur Empfänger sein wollen. Als nach dreijähriger Arbeit das Dokument im Jahr 2003 von EDAN dem Weltkirchenrat in Genf vorgelegt wurde, wurde gleichzeitig auf die Notwendigkeit von Disability Studies an theologischen Institutionen hingewiesen. Kabue betonte, dass es in der Schöpfungsgeschichte heißt: "Und Gott sah, dass es gut war" - nicht perfekt! Die Vielfalt des Menschseins ist in der Schöpfung bereits angelegt. Auch der Begriff Ebenbild Gottes darf nicht missverstanden werden. Es ist ein Beziehungsbegriff, das heißt der Mensch ist zum Ebenbild Gottes erschaffen. Wenn in der Bibel von Heilung gesprochen wird, dann ist zwischen "heilen" und "ausheilen" oder behandeln zu unterscheiden. "Heil" hat die innere Wiederherstellung der gestörten Beziehung des Menschen zu Gott zum Ziel.

Die Theologin Esther Bollag von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (stellv. Vorsitzende des Konvents von behinderten Seelsorgern und Behindertenseelsorgern) setzte die theologische Reflexion über den Begriff Behinderung fort: Entschiedenes Nein zur Vorstellung von Behinderung als Strafe Gottes! Leiden und Behinderung sowie den Tod als "der Sünde Sold" zu bezeichnen, habe eine ausgliedernde Wirkung auf Menschen mit Behinderung und komme einer "geistigen Euthanasie" gleich. Behinderung als "Kreuz anzunehmen, das getragen werden muss", öffne der Resignation Tür und Tor. Behinderung als Erziehungsmaßnahme ("Züchtigung") Gottes zu verstehen, ist ebenfalls hoch problematisch und diskriminierend; dahinter ist das Gottesbild eines tyrannischen, autoritären Vaters zu vermuten.

Nach einer Begegnung mit einem zerebral gelähmten Mädchen kam Bollak zu der Erkenntnis, dass die Allmachtsträume des Menschen durch die Konfrontation mit einer Behinderung jäh zerstört würden und zwar sowohl bei Menschen mit als auch ohne Behinderung. Der Umgang mit Grenzsituationen sei die Bewährungsprobe für Menschen in einer Situation der Versuchung. Der nichtbehinderte Mensch stehe in der Versuchung, Allmachtsgefühle gegenüber dem Menschen mit Behinderung vorzutäuschen, müsste aber seine eigenen Grenzen anerkennen. So habe die Vorstellung, Behinderung als Versuchung zu begreifen, die Chance der Solidarisierung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Sie warnte davor, aus der Forderung nach Inklusion von Menschen mit Behinderung ein Dogma zu machen. Brigitte Huber, Bioethik-Beauftragte des BeB, beschäftigte sich eingehend mit dem Dokument "Kirche aller - eine vorläufige Erklärung". Viele Fragen tauchten auf: Warum ist das Dokument kaum bekannt innerhalb von Kirche und Diakonie? Warum ist es kein Thema innerhalb der Verbände der Behindertenhilfe? Warum wird darüber nicht diskutiert unter Menschen mit Behinderung? Warum gibt es keine gedruckte Version und ist nicht auch in Leichter Sprache verfügbar oder in einem Format, das blinden und sehbehinderten sowie hörbehinderten Menschen zugänglich ist? Das Dokument enthält eine Reihe von Kritikpunkten an den Kirchenleitungen (siehe BeB-Informationen 40, S. 14, Spalte 2). Die mit guter Absicht gegründeten diakonischen Einrichtungen des 18. und 19. Jahrhunderts sahen in den "Elenden und Armen" hilfebedürftige Menschen und nahmen sie gewissermaßen in die "Schutzhaft der Nächstenliebe" (K. Dörner), was schließlich zu ihrer Entfremdung und Abhängigkeit geführt hat. Heute ist die Versorgung von Menschen mit Behinderung eine von der Gesellschaft an Diakonie und Caritas delegierte Aufgabe und ein gewinnbringender Markt geworden, mit dem Ergebnis, dass an Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung gespart wird.


Fortschrittsglaube verführt zur Utopie

Kirche und Gesellschaft müssen sich heute wieder an den Propheten Hosea erinnern lassen: "Eure Liebe ist wie eine Wolke am Morgen und wie der Tau, der frühmorgens vergeht." (Hos 6,4). Sie sind ohnmächtig angesichts der immer mehr um sich greifenden "liberalen Eugenik" (J. Habermas) durch pränatale Diagnostik und Präimplantationsdiagnostik. In einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft haben Freiheit, Autonomie und Unabhängigkeit einen hohen Stellenwert. Der Fortschrittsglaube verführt zu der utopischen Vorstellung, durch Gentechnik und Selektion eine weitgehend behinderungs- und leidfreie Welt zu schaffen. Dies macht die Gesellschaft blind für die kulturellen Beiträge und besonderen Begabungen, die Menschen mit Behinderung einbringen. Was können wir aus dem Neuen Testament über Jesu Umgang mit Menschen mit Behinderung lernen? Da ist die namenlose Frau, die 18 Jahre lang unter einer schweren körperlichen Behinderung gelitten hat (Lukas 13), die Jesus ihrer Selbstentfremdung entrissen und zu einem sinnvollen Leben zurückgebracht hat - gegen den Protest der Herrschenden, die sie wegen ihrer Behinderung ausgeschlossen hatten, da diese in ihren Augen ja Resultat eines sündigen Lebens war.


Kurskorrektur in der Biopolitik nötig

Lukas berichtet auch von einem kleinwüchsigen Gauner namens Zachäus (Lukas 19), der wegen seiner Betrügereien am Zoll ebenfalls von der Gesellschaft gehasst und verstoßen war. Auch er passte nicht in die gesellschaftliche Norm hinein. Jesus ruft ihn herunter von seinem Baum. "Steig eilend herunter!", das gilt nicht nur dem Zachäus-Typ, sondern auch der modernen gewinn- und leistungssüchtigen Gesellschaft. Steigt eilend herunter von euren größenwahnsinnigen Träumen. Eine Kurskorrektur in der Biopolitik ist nötig, wo die ethischen Folgen von selektiven Methoden und riskanter Forschung auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin nicht ausreichend durchdacht sind.

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ächtet Instrumentalisierung und Ausgrenzung von Menschen, das ÖRK-Papier bezeichnet die Haltung einer rein marktwirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaft als höchst bedenklich, ja als Sünde. Nicht Menschen mit Behinderung seien hilfebedürftig, sondern die Kirche als ganze. Mit einer Haltung der Nächstenliebe habe sie zwar für die Integration von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft gekämpft und auch für bessere Bedingungen gesorgt, aber deren Ausgrenzung toleriert. Dabei sei sie blind geworden für die eigenen Fehler.

Huber betonte, dass sich Gott durch die Menschwerdung Jesu Christi auch selber verwundbar gemacht hat. Jesus wurde zu Tode verletzt und starb am Kreuz, um den Menschen mit Gott zu versöhnen. Die amerikanische Theologin Nancy Eiesland (gestorben 2009) sprach deshalb von dem "behinderten Gott".

Was bleibt also für, Kirche und Diakonie zu tun? Huber gab Impulse zur Weiterentwicklung des ÖRK-Papieres. Da der englische Untertitel abgeändert wurde in "An Interim Theological Statement", wird besonders deutlich, dass an der "Vorläufigen Theologischen Erklärung" weitergearbeitet werden muss. Die Autoren wollen deutlich machen, dass die Erklärung Ausgangspunkt sein will für weiterführende Gedanken. An einigen Stellen sollte die deutsche Übersetzung präzisiert und überarbeitet werden, danach muss das Dokument zur Diskussion in Kirche und Diakonie verbreitet werden, nicht nur in Printversion, sondern auch barrierefrei für Menschen mit Beeinträchtigungen. Auch die römisch-katholische Kirche sollte für die Mitarbeit gewonnen werden. Das "Wort der Deutschen Bischöfe" von 2003 ("Unbehindert Glauben und Leben teilen") und das ÖRK-Papier könnten Ausgangspunkt für eine ökumenische Stellungnahme sein. Anlässlich des Ökumenischen Kirchentages in München wurde von Huber jeweils eine Version beider Dokumente in Leichter Sprache vorgelegt. An den theologischen Fakultäten sollten Lehrstühle für theologische Disability Studies und eine Theologie der Befreiung für Menschen mit Behinderung eingerichtet werden, aber auch in der kirchlichen Erwachsenenbildung. Hubers Vorschläge wurden aufgegriffen und führten zu der Überlegung, ob das Netzwerk der ökumenischen Anwaltschaft für Menschen mit Behinderung innerhalb des ÖRK nicht einen eigenen Koordinator für Deutschland berufen sollte.

Dass die Situation für Menschen mit Behinderung in den Ländern des industrialisierten Westens, verglichen mit den Ländern der sogenannten Dritten Welt, noch relativ gut ist, darf uns keineswegs davon abhalten, überall auf der Welt für noch mehr Gerechtigkeit zu sorgen. In der Schlussandacht wies Pastor Fernandez aus Kuba darauf hin, dass der Psalmsegen "dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen" (Psalm 85) ganz nah an Jesu Seligpreisung der Friedfertigen liegt, ebenso wie Martin Luther Kings Traum. "Ich habe einen Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben wird und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich erschaffen sind." Der Protestsong gegen die Sklaverei sowie Hymne christlicher wie nicht-christlicher Menschenrechtsaktivisten "Amazing Grace" bildete den Abschluss der begegnungsreichen und anregenden Konferenz in Tübingen.


Brigitte Huber
b.huber-beb@gmx.de


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Quelle:
Verbands-Informationen, Nr. 42, Dezember 2010, S. 15-16
Herausgeber: Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe e.V. (BEB)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2011