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STANDPUNKT/002: Ich lebe im Lande des Alters - auf Abruf (Gert Blumenthal)


Ich lebe im Lande des Alters - auf Abruf

von Gert Blumenthal, 8. Januar 2017


Dieses Land hat Eigenheiten, die es zu beschreiben gilt. Es gibt kein anderes derartiges Land.

Jeder muß hier einreisen, obwohl keiner es will. Nur diejenigen sind davon ausgenommen, die die Welt schon früh verlassen haben. Die Grenzen sind halbdurchlässig - alle müssen hinein, keiner kommt lebend wieder hinaus. Jeder erfährt sein Einreisedatum, nicht plötzlich, eher schleichend, aber zuverlässig, und jeder hat seine eigene Aufenthaltsdauer.

Die persönlichen Befindlichkeiten sind höchst unterschiedlich: Manche kommen schon krank an, andere erkranken erst hier und müssen sich oft bis zum Abruf quälen, wieder andere fühlen sich gesund und munter, sind unternehmungslustig, reisen in der Welt umher - und fallen plötzlich um. Es gibt auch Einwohner, die gesund aussehen, aber alles vergessen und anfangen, wunderliches und wirres Zeug zu reden.

Jeder - ohne Ausnahme - wird von den Gegebenheiten dieses Landes geistig und psychisch verändert. Diejenigen, die ihre Sinne noch halbwegs beisammen haben, werden von Furcht vor dem unausweichlich Kommenden befallen, leiden unter den oft plötzlich eintretenden Veränderungen ihres Zustandes und - infolge all dieser Erscheinungen - ziehen sich immer weitgehender in sich zurück. Freundschaften werden aufgegeben, Organisationen und Vereine verlassen, Zeitungen abbestellt.

Sie beginnen, sich immer intensiver mit ihrem vergangenen Leben zu beschäftigen, was allerdings zunehmend erschwert wird durch Gedächtnislücken. Dieser und jener schreibt seine Biographie und merkt dabei, daß Nostalgie wirklich quälend sein kann. Fragen belasten ihn, "wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich dieses und jenes getan oder nicht getan hätte...?" Das bis dahin schlummernde Gewissen erwacht - vor allem des Nachts. "Bei Tage ist es kinderleicht, die Dinge nüchtern und unsentimental zu sehen. Nachts ist das eine ganz andere Geschichte" (Earnest Hemingway). Auch an andere Formulierungen großer Geister erinnert man sich - und wird durch sie meist nicht fröhlich gestimmt, z. B. durch das Goethe-Wort:

"Wer nie sein Brod mit Tränen aß,
wer nie auf seinem Bette weinend saß,
der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte,
ihr stoßt ins Leben uns hinein,
ihr laßt den Armen schuldig werden,
dann überlaßt ihr ihn der Pein,
denn alle Schuld rächt sich auf Erden."

oder durch Friedrich von Schiller:

"Das eben ist der Fluch der bösen Tat,
daß sie fortzeugend Böses muß gebären."

Erwachen Erinnerungen an ernste persönliche oder politische Konfrontationen, stößt man zwischen zusammengebissenen Zähnen das harte chinesische Sprichwort hervor:

"Gutes wird mit Gutem vergolten,
Böses mit Bösem,
nicht ist vergessen,
der Tag der Vergeltung wird kommen."

Auch Gedanken an den Partner oder an etwa gleichaltrige Freunde und Bekannte können deprimieren. Wer wird als Nächster gehen? Wie kann man weiterleben, wenn der Partner nicht mehr neben einem ist? Es gab Ehepaare - beide alt und zumindest einer von ihnen unheilbar krank - die eine "Urlaubsreise" ins Hochgebirge buchten, sich dort an den Händen faßten und in den Abgrund sprangen.

Die Erinnerung führt einen zuweilen zu Gedanken, für die man früher keine Zeit hatte. Es wird erkannt, daß der Mensch sein Leben lang bestimmt wird durch den Kampf zwischen dem "Schicksal" (Außenbestimmung) und dem "Willen" (Eigenbestimmung). Im Mutterleib ist die Frucht vollständig determiniert durch das Schicksal, und das gilt auch für den Säugling und, in abnehmenden Maße, auch noch jahrelang für das Kind. Doch schon bald bildet sich der eigene Wille heraus, begleitet von mehr oder weniger tiefgehenden Auseinandersetzungen mit der Umgebung, vor allem den Eltern. Aber das Schicksal wirkt immer wieder hinein in die Entwicklung durch die Bildungseinrichtungen und den Kontakt mit anderen Menschen. Mit etwa fünfundzwanzig Jahren hat der junge Erwachsene den Gipfel seiner Eigenbestimmung erreicht. Schrittweise beginnt wieder die Fremdbestimmung ihn einzuschränken infolge der Sachzwänge des Berufslebens, sowie, in den meisten Fällen, auch durch den Willen des Partners. Um die fünfzig etwa werden die ersten Wirkungen des Alters spürbar - die Fremdbestimmung wird nun immer eingreifender in Gestalt der Ärzte und der von diesen ausgehenden Verordnungen für Diäten, Medikamente, Prothesen und Verhaltensmaßregeln. Allmählich wird der alte Mensch wieder wie ein Kind - er kann kaum mehr etwas bewirken - er ist dem Schicksal unterworfen.

Mancher Einwohner des Altenlandes wird in einem für seine Umgebung erschreckenden Maße gleichgültig. In seinem Denken und Tun verfällt er immer mehr der Frustration. Er ist nicht mehr fähig, Sinn und Ziel in seinem Leben auszumachen.

Ein besonderes Kapitel ist das Verhältnis der Alten zu ihren jüngeren Verwandten. Kommen beide Seiten aus einer einträchtigen Familie, sorgen die Kinder für ihre Eltern und nehmen ihnen Belastungen ab, die diese nicht mehr bewältigen. Es gibt aber auch Alte, die ihre Kinder nur einmal im Jahr oder auch gar nicht mehr sehen. Das muß nicht immer an Herzlosigkeit der Jüngeren liegen, sondern kann auch den Zeitumständen geschuldet sein, die die Kinder in weitentfernte Länder gezwungen haben. Derartig betroffene Alte weinen nachts in ihre Kissen und sind des Tages auf wohlmeinende Nachbarn angewiesen.

Viele Alte erinnern sich noch vergangener Erzählungen über die hohe Autorität der alten Familienmitglieder, daß die Jüngeren damals mit Wißbegier und Respekt zuhörten, wenn die Alten über ihr Leben berichteten. Hier wurden Erfahrungen an sie übergeben, aus denen sie lernen konnten. Das aber hat sich tiefgehend geändert, denn die Zeit ist so schnellebig geworden, daß die Erfahrungen aus älteren Zeiten längst überholt sind und für die Lebensführung der jungen nicht mehr taugen. "Ach, Opa, das ist doch heute alles ganz anders", und dem Opa werden Umstände und Verfahren aus der Gegenwart geschildert, die er nicht begreifen kann und ihn nur kopfschütteln lassen.

Viele halten diese traurige und ausweglose Gedankenwelt nicht aus und suchen Vergessen im Alkohol. Andere ertragen ihre nun leere Wohnung nicht mehr und leiden darunter, daß sie sich mit niemanden unterhalten können. Sie sind dauernd unterwegs: Zu irgendeinem Arzt, zu Verwandten (wenn solche noch existieren) und Bekannten, in Ausstellungen oder gar auf dem Sportplatz. Eine willkommene Abwechslung bieten Kaffeestündchen mit den Nachbarn. Hier ergießt sich dann ein hemmungsloser, mit Fragen durchsetzter Redeschwall - über die eigenen Gesundheitsprobleme, über Kinder und Kindeskinder, über die Hausbewohner, über die Politik im Lande und im Ausland, über Anschläge, Kriege und Flüchtlinge.

Nachteilig verändert sich das Ernährungsverhalten der Alleinstehenden. Ein älterer Mann, gefragt, was er sich denn so koche, antwortet: "Ich koche nicht - ich wärme". Er wärmt im Supermarkt gekaufte Suppen - und sicher auch das nicht regelmäßig.

Alleinstehende, ältere Männer laufen Gefahr, schnell einen leicht verkommenen Eindruck zu erwecken. Sie haben niemanden mehr, der ihnen sagt, ob der Mantel paßt, ob Hut und Mantel auch nur halbwegs zusammen getragen werden können - und so sehen manche dieser alten Männer bald wie Vogelscheuchen aus - bedauernswert. Bei fast allen älteren Frauen ist das anders - sie sind immer sauber, adrett gekleidet und häufig sogar schick frisiert. Alte Männer hingegen tragen Glatze, die von den Sorgsamen unter ihnen jeden zweiten Tag mit einer speziellen Creme poliert wird. Manchen von denen gelingt es, ihr Antlitz mehr oder weniger dauerhaft in Falten der Unduldsamkeit und des Zorns zu legen - diese Alten sehen dann gefährlich aus. Man geht ihnen aus dem Weg.

Es gibt natürlich unter den Bewohnern des Altenlandes kluge, lebenserfahrene Menschen. Von ihnen hört man u. a., daß sich oft erst im höheren Alter der wahre Charakter, sozusagen die Grundveranlagung, eines Menschen offenbart. In dieser Hinsicht sollen sich zwei Typen herausschälen: Der Griesgram und der Seniltolerante.

Ersterer beurteilt die ihm bekanntwerdenden Vorgänge in seiner engeren oder weiteren Umwelt mit einer überzogenen Strenge, er meint, daß alles in der Gesellschaft durch Bestrafung, Einsperren, Prügelstrafe und Todesstrafe am günstigsten zu regeln sei. Freisprechungen vor Gericht lösen bei ihm Gefühle des Mißbehagens aus. "Saubande", "alle umbringen" sind bei ihm geflügelte Worte. Kaum jemand verspürt Lust, mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Der Tolerante dagegen sieht mit einem ständigen, milden Lächeln auf das Leben, so grausam in diesem oder jenen Fall dieses auch sein mag. Man hört von ihm kein scharfes Wort der Verurteilung oder der eigenen Stellungnahme. Man unterhält sich gerne mit ihm, er ist allgemein wohlgelitten. Kaum jemand hinterfragt diese Ausstrahlung unerschütterlicher Güte. Nur sehr wenige sagen sich, daß die Toleranz des Alten vielleicht nur scheinbar ist, nichts weiter, als eine wohlkalkulierte Kaschierung von Gleichgültigkeit allem Geschehen gegenüber.

Immerhin kommt es manchmal zwischen diesen beiden Typen zu Meinungsverschiedenheiten, die für die Umstehenden meist recht amüsant zu beobachten sind. Der Gestrenge legt sich sofort voll ins Zeug, nach kurzem Wortwechsel schon steht er da mit hochrotem Kopf, er beginnt zu brüllen, seine Augen schießen Blitze auf den Kontrahenten, und manche der Umstehenden wünschen sich, daß der ewig mild Lächelnde doch nun mal endlich etwas energischer reagieren, sich verteidigen müßte. Doch dieser lächelt weiter, schüttelt fast unmerklich den Kopf - und verläßt den Ring. Die Zuschauer gehen etwas enttäuscht auseinander und kommentieren den Vorfall - eine willkommene Abwechslung in ihrem tristen Alltag.

Der Abruf erfolgt für jeden individuell - für den einen plötzlich und unerwartet - für einen anderen erst nach langem Warten, das in manchen Fällen durch Schmerzen noch unerträglicher wird. Niemand schleppt Erinnerungen an das Altenland mit sich herum. Es ist ein Land, nach dem sich niemand sehnt - ein Land ohne Wiederkehr.

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Quelle:
© 2017 by Dr. sc. nat. Gert Blumenthal
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2017

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