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BERICHT/302: Dr. Rainer-Uwe Burdinski erstellt forensische Gutachten (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel - Januar 2009

Psychiatrie-Experte Dr. Rainer-Uwe Burdinski erstellt forensische Gutachten
Einschätzung bundesweit bei schweren Delikten gefragt

Von Petra Wilkening


"Ich konnte nicht wirklich teilnehmen am Leben. Dieses schreckliche Gefühl wurde immer stärker. Dann machte ich meinen ersten Suizidversuch." Über sein extremes Leben mit der Borderline-Krankheit hat Peter Detert jetzt das Buch "Auf der Kippe" geschrieben. Nach einer Amokfahrt unter Tabletteneinfluss kam er Ende der 1980er-Jahre als junger Mann in die forensische Psychiatrie. Dr. Rainer-Uwe Burdinski, stellvertretender Leiter der Betheler Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bielefeld, war sein Gutachter.


Seit 25 Jahren erstellt Rainer-Uwe Burdinski forensische Gutachten. Der Betheler Psychiatrie-Experte war der Erste, der der komplexen Erkrankung von Peter Detert einen Namen gab: Borderline-Persönlichkeitsstörung. "Heute gibt es eine klare Definition für die psychische Krankheit, damals waren die Diagnosekriterien unscharf, und es gab vor allem noch keine spezifischen Therapieansätze", blickt Dr. Burdinski zurück. Der Mediziner - im Buch heißt er "Dr. Schneider" - empfahl dem Gericht. deshalb, Peter Detert auf einen therapeutischen antroposophischen Bauernhof zu schicken. "Ihm fehlte aufgrund seiner schwierigen Kindheit eine langfristige Beziehungsstabilität. Der Bauernhof wäre eine Maßnahme zur Nachreifung über Jahre gewesen. Dort hätte er lernen können, Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuhalten, auch in problematischen Zeiten, und er hätte lernen können, seine Ängste, verlassen zu werden, abzubauen", so Dr. Burdinski.


Gehilfe des Gerichts

Das Gericht folgte seiner Empfehlung nicht. Es stellte den Sicherheitsaspekt in den Vordergrund, denn während der Amokfahrt im Tablettenrausch hätte der suizidgefährdete Mann auch Menschen gefährden können. Eine Wiederholungsgefahr konnte nicht ausgeschlossen werden. Nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuches wurde Peter Detert im Maßregelvollzug untergebracht - als schuldunfähiger Straftäter, der aufgrund seiner Erkrankung als gefährlich für die Allgemeinheit eingeschätzt wurde und von dem weitere Straftaten zu erwarten waren. Auch heute noch bedauert Dr. Burdinski die Entscheidung des Gerichts, aber er sieht seine Rolle als forensischer Gutachter ganz klar: "Dem Gericht obliegt die Rechtsprechung. Als psychiatrischer Sachverständiger bin ich nur der Gehilfe, der dem Gericht die Krankheit und ihre Auswirkungen auf die Tat erläutert und medizinische Informationen liefert. Das Urteil zu fällen ist Sache des Gerichts und nicht der Medizin."

Dr. Burdinskis Gutachtertätigkeit begann mit Aufträgen von Amts- und Sozialgerichten, bei denen es zum Beispiel um Diebstahlsdelikte suchtkranker Straftäter, um kleine Brandstiftungen oder um die Erwerbsfähigkeit und den Rentenanspruch psychisch kranker Menschen ging. Inzwischen erstellt der Betheler Experte vornehmlich Prognosegutachten. Mit dieser höchst anspruchsvollen Gutachtertätigkeit beauftragen Land- und Oberlandesgerichte, Strafvollstreckungskammern oder forensische Kliniken nur erfahrene Psychiater mit einer Zusatzausbildung in forensischer Psychiatrie. Diese begutachten zum Beispiel forensische Patienten im Maßregelvollzug dahingehend, ob sie Behandlungsfortschritte gemacht haben und ihre Unterbringungsmaßnahmen gelockert werden können oder ob sie weiterhin für die Bevölkerung gefährlich sind. Für nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuches untergebrachte forensische Patienten wird in Nordrhein-Westfalen alle drei Jahre ein solches Gutachten zur Überprüfung erstellt.


Sexualstraftaten

Dr. Burdinski ist ein zertifizierter forensischer Gutachter der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde; er führt die Schwerpunktbezeichnung "Forensische Psychiatrie" der Ärztekammer.

Seine Einschätzung ist bundesweit bei schweren Straftaten gefragt. Sexualstraftaten, Gewaltdelikte und Brandstiftungen sind seine Schwerpunkte. Zu den Aufsehen erregenden jüngeren Fällen, für die sein Gutachten angefordert wurde, gehört auch der des psychisch kranken Bauunternehmers, der im Februar 2008 im ostwestfälischen Bünde gedroht hatte, sich vor dem Amtsgericht mit einer Rohrbombe in die Luft zu sprengen.


Risikoprognosen

Die Prognosegutachten erstellt Dr. Rainer-Uwe Burdinski meistens am Wochenende, denn seine Tätigkeit als stellvertretender Klinikleiter lässt ihm im beruflichen Alltag kaum Zeit für diese Aufgabe. Ein Prognosegutachten zu erstellen ist aufwändig. Dr. Burdinski sucht die Patienten bundesweit an mindestens zwei Terminen auf und führt jeweils mehrstündige Untersuchungen mit ihnen durch. Dazu gehören neben der psychiatrischen Untersuchung und Befunderhebung psychologische Tests, körperliche Untersuchungen ebenso wie die Analyse von kernspin- oder computertomografischen Aufnahmen. Vorher sind die oft umfangreichen polizeilichen, staatsanwaltlichen und gerichtlichen Ermittlungsakten und medizinischen Akten zu studieren.

Den Bünder Handwerker begutachtete Dr. Burdinski wegen dessen schwerer Erkrankung an drei Tagen im wöchentlichen Abstand. Er kam zu dem Ergebnis, dass der Mann unter bestimmten Bedingungen auch zu Hause leben könne und nicht in einer forensischen Klinik untergebracht werden müsse, wenn er sich in einer forensischen Nachsorge-Ambulanz therapieren lasse. Einem Berliner Sexualstraftäter, der seine Taten auch nach langer Zeit in der forensischen Psychiatrie leugnete, konnte der Betheler Psychiatrie-Experte dagegen nur eine ungünstige Gefährlichkeitsprognose ausstellen. "Er wirkte im Gespräch zwar glaubwürdig, aber es gab gegenteilige Zeugenaussagen und letztendlich mehrfache einschlägige Verurteilungen. Der Mann zeigte kein Krankheits- bzw. Störungsverständnis, hielt sich für völlig gesund und verweigerte jede Therapie. Darum musste ich ihn weiter als gefährlich einstufen."

Seine Prognosegutachten erstellt Dr. Burdinski in der Regel alleine. In schwierigen Fällen berät er sich mit befreundeten forensischen Gutachtern. In anderen europäischen Ländern entscheidet ein Gremium aus psychiatrischem bzw. psychologischem Gutachter, Juristen und Behandelnden über die Gefährlichkeit eines Patienten. Dieses Verfahren wünscht sich Dr. Burdinski auch für Deutschland. "Es würde die Prognose sicherer machen. Das wäre besser für den Patienten und die Allgemeinheit und eine Erleichterung für den Psychiater, der keine Einzelbeurteilung mehr treffen müsste!" In Deutschland werde das Thema immer wieder diskutiert, die medizinischen Gutachter seien überwiegend dafür, die Juristen seien sich uneinig, so Dr. Burdinski.


Gefragter Referent

Da jeder psychiatrische Facharzt bzw. jede Fachärztin von den Gerichten für ein Gutachten angefordert werden kann, legt der stellvertretende Chefarzt der Betheler Psychiatrie in Bielefeld großen Wert darauf, die Assistenzärzte und -ärztinnen auch in forensischer Psychiatrie fortzubilden. Rund 20 Gutachten erstellt er jährlich gemeinsam mit ihnen. Aber er setzt sich nicht nur klinikintern für die forensische Psychiatrie ein, sondern ist auch als Referent gefragt. Eines seiner Hauptthemen ist die Behandlung forensischer Patienten in der Allgemeinpsychiatrie. "Sie dort zu behandeln ist keine Frage des Delikts. Entscheidend ist, dass die Sicherung einer Allgemeinpsychiatrie ausreicht, um die Sicherheit der Bevölkerung, der Mitpatienten und der Mitarbeitenden zu gewährleisten, dass die Prognose gut ist und dass die notwendigen Therapiemöglichkeiten gegeben sind."

Die Behandlungsmöglichkeiten für Borderline-Patienten haben sich verbessert seit damals, als die Krankheit bei Peter Detert festgestellt wurde. Er hat seine Therapie erfolgreich abgeschlossen und lebt seit 2003 zusammen mit seiner Lebenspartnerin Martina Rambeaud in Hamm.

Peter Detert:
Auf der Kippe
Wilhelm Heyne Verlag, München 2008
272 Seiten, gebunden. 19,95 Euro
ISBN 978-3-453-15400-1


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Quelle:
DER RING, Januar 2009, S. 12-13
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2009