Schattenblick →INFOPOOL →PANNWITZBLICK → PRESSE

BERICHT/323: Abkehr vom Sonderweg (DJI)


DJI Bulletin 3/2009, Heft 87
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Gesund groß werden
Abkehr vom Sonderweg

Von Gisela Dittrich


Kinder und Jugendliche mit Behinderung werden in Deutschland immer noch in separaten Angeboten gefördert. Das soll sich ändern. Doch gute Gesetze allein reichen nicht aus. Um den Heranwachsenden die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, müssen strukturelle Barrieren im Hilfesystem fallen.


Obwohl das Gesetz in Deutschland allen Kindern und Jugendlichen mit Behinderung die volle Teilhabe an kulturellen, sozialen und bildenden Angeboten zusichert (Sozialgesetzbuch SGB IX), stoßen deren Eltern oft auf vielfältige Barrieren, wenn sie die notwendige Unterstützung und finanzielle Hilfe einfordern. Dabei wurden die Rechte der Menschen mit Behinderungen im Januar 2009 durch die Ratifizierung der Konvention der Vereinten Nationen (UN) weiter gestärkt. Diese verlangt neben der erwähnten Teilhabe und Gleichbehandlung ausdrücklich auch »inklusive Strukturen« in den kommunalen Angeboten. Gemeint ist damit die Schaffung offener Zugänge für die Bereiche Bildung, Wohnen, Arbeit und Kultur, so dass die Besonderheiten einer Behinderung nicht den Ausschluss aus den Angeboten begründen kann.

Die Kommission des 13. Kinder- und Jugendberichts hatte unter anderem die Aufgabe, die Lebenslagen von Heranwachsenden mit Behinderung zu beschreiben, nach Angeboten zur Teilhabe an der Gesellschaft zu suchen und der Frage nachzugehen, wie ihre Gesundheit gefördert wird. Während in den zurückliegenden Berichterstattungen für die Bundesregierung diese Gruppe von Menschen stets gesondert betrachtet wurde, entschloss sich die Kommission, die Lebenslage dieser Kinder und Jugendlichen als ein Querschnittsthema zu behandeln. Denn schließlich gilt für sie ebenso wie für alle anderen Heranwachsenden das Ziel, die richtige Balance zwischen Gesundheit und Krankheit zu finden, wie sie im Bericht auf der Grundlage des Konzepts der Salutogenese (siehe Bulletin Plus) gefordert wird. Auch Menschen mit Behinderungen benötigen sogenannte Widerstandsressourcen gegen Stressoren, um Wohlbefinden erfahren zu können.

Über die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen sowie über ihre Familien liegen bisher kaum Forschungsdaten vor. Die meisten Untersuchungen beziehen sich auf eine medizinisch orientierte Diagnostik. Eine Anhörung von einschlägigen Verbänden aus der Behindertenhilfe sowie von Selbsthilfevereinen und Betroffenen machte der Kommission allerdings deutlich, dass es vor allem an den Schnittstellen zwischen den verschiedenen zuständigen Systemen, die Heranwachsende mit Behinderung unterstützen sollen, zu Problemen kommt. Deren Eltern haben demnach erhebliche zusätzliche Belastungen. Schwierigkeiten treten vor allem auf, wenn es um die Finanzierung von Hilfen geht, die den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, reguläre Kindergärten, Schulen und Freizeitangebote zu besuchen. Nicht selten fehlen inklusive Angebote als Alternative zu den stark verbreiteten Sondereinrichtungen. Damit hinkt Deutschland anderen europäischen Staaten, wie zum Beispiel den skandinavischen Ländern, Spanien oder Italien weit hinterher (Bürli 1994). Auch der UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz, der im Jahr 20 06 deutsche Kindergärten, Schulen und Hochschulen inspizierte, kritisiert seitdem wiederholt den Mangel an inklusiven Einrichtungen.


Verwirrende Vielfalt von Vorgaben

Die gesetzlichen Vorgaben für Hilfen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung lassen sich vor allem in den Sozialgesetzbüchern VIII und IX finden. Bis heute besteht damit eine Trennung zwischen den Hilfen für seelisch Behinderte (§ 35a SGB VIII) und für geistig und körperlich Behinderte (SGB IX). Für erstere ist die Jugendhilfe zuständig, für letztere dagegen die Sozialhilfe. Zusätzliche spezifische Hilfen legen außerdem die Sozialgesetzbücher II bis XII fest. Um dieses Dickicht an Vorgaben für Betroffene transparenter zu machen, hat der Gesetzgeber zwar Servicestellen (nach SGB IX) einrichten lassen, die jeden Antrag dem richtigen Leistungsträger zuordnen und die Bearbeitung in einer eng gesetzten Frist sicherstellen sollen. Allerdings gelingt es selbst den Beratenden in den Behörden oftmals nicht, die Vielfalt der Regelungen zu überblicken.

Außerdem sind die Servicestellen kaum bekannt, wie eine bundesweite Umfrage der Selbsthilfeorganisation Kindernetzwerk unter den eigenen Mitgliedern offenbarte. 80 Prozent der Befragten gaben an, die Servicestellen nicht zu kennen. Der Selbsthilfeverband wie die Betroffenen und ihre Familien fordern die Errichtung von unabhängigen Beratungs-, Koordinierungs- und Informationsstellen und sehen die über das SGB IX geschaffene Beratung als gescheitert an (Kindernetzwerk 2007).


Ausgrenzung mit gravierenden Folgen

Wie Berichte aus der Praxis zeigen, führt eine rigide Abgrenzung zwischen den einzelnen Leistungsträgern dazu, dass diese versuchen, Zuständigkeiten abzuschieben. Anträge, beispielsweise auf individuelle Hilfen, verschwinden auf diese Weise in »schwarzen Löchern«, weil sich niemand verantwortlich fühlt oder tatsächlich niemand zuständig ist, da die oder der Beantragende einen Einzelfall darstellt. Oft entsprechen Mehrfachbehinderungen nicht dem vorgegebenen Einordnungsschema und die Sachbearbeitenden sind über Behinderungsformen und ihre Auswirkungen auf die Lebensführung nicht informiert. Daher sind Familien oft gezwungen, die ihren Kindern zustehenden Hilfen vor Gericht einzuklagen.

Bei der Beschäftigung mit der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung wird schnell offensichtlich, dass im aktuellen Hilfesystem weniger die Person als die Behinderung im Mittelpunkt steht. Nicht das Streben nach einer weitgehend selbstständigen Lebensführung bestimmt das medizinische, pädagogische, psychologische Feld, sondern vielmehr die Institutionenlogik, aus der heraus Angebote entwickelt werden. Dabei wird beispielsweise nicht berücksichtigt, dass ein Kind mit Down-Syndrom seinen Eltern möglicherweise auch Schwierigkeiten in der Erziehung bereiten kann, dass ein Jugendlicher mit einer Körperbehinderung psychische Probleme in der Pubertät haben kann oder dass Heranwachsende mit Behinderung auch mit nichtbehinderten Freunden ihre Freizeit verbringen wollen.

Sieht man vom Bereich der Kindertagesstätten ab, in dem integrative Angebote immerhin zu einem Großteil vorhanden sind, ist die Exklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in Deutschland nach wie vor die Regel. Sie werden meist in Förderschulen, Sonderwohnheimen und Werkstätten für Menschen mit Behinderung betreut. Dies führt zu der verbreiteten, aber irrigen Annahme, dass doch alles für diese Heranwachsenden getan werde. Nicht berücksichtigt wird dabei, dass Exklusionen zu massiven Folgeproblemen führen, die es den Betroffenen schwer machen, einen Schulabschluss zu erlangen, einen Beruf zu finden, selbstständig zu werden und ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.


Den Blick für Krankheit schärfen

Auffallend ist, dass überwiegend keine Unterscheidungen zwischen Krankheit und Behinderung gemacht werden. Mit dieser fehlenden Differenzierung zwischen krank sein, was durch eigenes Handeln und medizinische Hilfen beeinflussbar ist, und behindert sein, was physisch begründet ist oder sich durch soziale Bedingungen bildet, wird die Chance der Betroffenen, an der Gesellschaft aktiv teilzuhaben, über die Maßen eingeschränkt. Von daher fordert der 13. Kinder- und Jugendbericht einen verstärkten Ausbau inklusiver Angebote und beruft sich dabei auf die UN-Konvention der Rechte Behinderter sowie auf die UN-Konvention der Rechte des Kindes (§ 24) auf Teilhabe an Gesundheit und auf das SGB IX mit seiner Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe als Ziel aller Leistungen.

Voraussetzung für die Schaffung inklusiver Prozesse ist ein Paradigmenwechsel. Das bedeutet eine Abkehr von der Fürsorge für Behinderte, die Entscheidungen über deren Lebensqualität (Gesundheit, Bildung, Arbeit, Wohnen) den Institutionen überträgt und die jungen Menschen damit von vorhandenen Angeboten und Institutioneninteressen abhängig macht. Stattdessen sollten Menschen mit Behinderung in ihren Rechten wahrgenommen und eigene Entscheidungen ermöglicht werden sowie Hilfen auf die individuelle Situation ausgerichtet sein. Von dorther sollten im Sinne eines Disability Mainstreaming (siehe Bulletin Plus) alle vorhandenen und neu zu begründenden Angebote für Kinder und Jugendliche nach ihrem Beitrag für eine Teilhabe ohne Barrieren hinterfragt werden.


Die Jugendhilfe als einzige Anlaufstelle

Im 13. Kinder- und Jugendbericht wird die Forderung nach Teilhabe nicht allein auf Heranwachsende mit Behinderung bezogen. Der Vorschlag lautet, Inklusion und Teilhabe in einem erweiterten Sinn zu verstehen, um so die aus einer sozialen Lage erwachsenden Probleme und Barrieren nicht aus den Augen zu verlieren. Grund dafür ist, dass Heranwachsende mit Behinderung auch einen Migrationshintergrund haben oder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien stammen können. Da sich damit Erfahrungen von Exklusion summieren und Schwierigkeiten kumulieren können, ist es für die Familien wichtig, Hilfen aus einer Hand zu erhalten.

In der Stellungnahme der Bundesregierung zum 13. Kinder- und Jugendbericht werden Überlegungen angestellt, die verschiedenen Zuständigkeiten künftig der Jugendhilfe zu übertragen. Der hier bereits vorhandene fachliche Standard käme allen Kindern zugute. Zudem wäre damit zum Beispiel die Unterscheidung nach Behinderung und Erziehungsschwierigkeit zumindest für die Hilfegewährung unerheblich und eine psychologische, pädagogische sowie rechtliche Begleitung der Eltern möglich. Diese sogenannte große Lösung wurde bereits im 10. und 11. Kinder- und Jugendbericht gefordert. Damit eine solche Zusammenlegung allerdings gelingt, müssen gewaltige Herausforderungen gemeistert werden. Dies kann nur gelingen, wenn die Jugendhilfe gleichzeitig zusätzliche Finanzmittel erhält und Lösungen für personelle und strukturelle Umstrukturierungen gefunden werden.


Literatur :

Deutscher Bundestag (2009):13. Kinder- und Jugendbericht. Drucksache 16/12860. PDF zu beziehen über: www.dji.de, Druckexemplar über:
publikationen@bundesregierung.de

Kindernetzwerk e. V. (Hrsg.; 2007): Familien mit chronisch kranken und pflegebedürftigen Kindern, Dokumentation einer bundesweiten Studie. Aschaffenburg

Bürli, Alois (1994): Integration Behinderter im internationalen Vergleich - dargestellt am Beispiel einiger Europäischer Länder. In: Eberwein, Hans (Hrsg.): Handbuch der Integrationspädagogik. Weinheim

Kontakt: dittrich@dji.de


*


Quelle:
DJI-Bulletin Heft 3/2009, Heft 87, S.14-15
Herausgeber:
Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI)
Nockherstraße 2, 81541 München
Tel.: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de/bulletins

Das DJI-Bulletin erscheint viermal im Jahr.
Außerdem gibt es jährlich eine Sonderausgabe in
Englisch. Alle Hefte sind kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2009