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BERICHT/345: Leben mit einem behinderten Kind, das eine seltene und unheilbare Krankheit hat (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 4 - Dezember 2010

Wir standen vor einem Rätsel
Leben mit einem behinderten Kind, das eine seltene und unheilbare Krankheit hat

Von Sabine Fornfeist, Brühl


Unsere heute elf Jahre alte Tochter Lili hatte sich in ihren ersten vier Lebensjahren normal entwickelt, bis wir plötzlich kleine Auffälligkeiten bemerkten. Sie fing an zu stottern und blieb in ihrer Sprachentwicklung stehen, hinzu kamen motorische Unsicherheiten. Zuerst maßen wir all dem keine große Bedeutung bei, auch von medizinischer Seite sprach man lediglich von einer Entwicklungsverzögerung, die mit Logopädie und Ergotherapie gut behandelt werden könne. Lili besuchte auch weiterhin mit viel Freude ihren Regelkindergarten, schloss Freundschaften und hatte ganz normale Interessen wie Fahrradfahren, mit Puppen spielen, tanzen, malen, prickeln und Bügelperlen. Leider verschlechterte sich ihr Zustand mit der Zeit, so dass bei der Schuluntersuchung von einer Lernbehinderung die Rede war und Lili in eine Schule für körperliche Entwicklung eingeschult wurde.


Lilis Gesundheitszustand verschlechterte sich schleichend

Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich schleichend. Es wurde klar, dass es sich mittlerweile um eine geistige Behinderung handelte, und was noch viel schlimmer war: Die Ärzte gingen von einer neurodegenerativen Erkrankung aus. In dieser Phase bekamen wir ein regelrechtes Panikgefühl, die Uhr tickte, vielleicht konnte man gerade noch etwas tun, bevor es zu spät wäre. Es begann ein Ärztemarathon. Wir probierten in unserer Verzweiflung viele Therapien aus, gingen viele Wege, aber ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich immer weiter. Lili war schon immer ein gefühlvoller kleiner Sonnenschein, aber plötzlich weinte sie häufig, nässte in der Schule ein, verlor immer mehr ihre sprachlichen und motorischen Fähigkeiten und nicht nur das: Auch ihre Persönlichkeit veränderte sich, sie wurde zunehmend apathisch, verlor ihre Interessen.

Wir standen vor einem Rätsel. Alle Untersuchungen (Rett-Syndrom, Fragiles-X-Syndrom, Stoffwechselscreening, humangenetische Diagnostik, Frühförderzentrum, Kinderneurologie) blieben ohne Diagnose. Verzweifelt mussten wir hilflos mit ansehen, wie sich ein völlig normal entwickeltes, fröhliches Kind zu einem Pflegefall entwickelte. Schließlich musste sie sogar die Schule wechseln und kam auf eine Schule für geistige Entwicklung. Es war auch sehr schwierig, ohne Diagnose Hilfen wie Schwerbehindertenausweis und Pflegestufe zu bekommen, da häufig nur nach "Aktenlage" entschieden wird.


Diagnose lautete schließlich "Niemann Pick Typ C"

Schließlich stießen wir selbst durch Internetrecherchen auf die Erkrankung "Niemann Pick Typ C", die dann auch durch die Uniklinik Münster bestätigt wurde. Es handelt sich hierbei um eine erbliche Speicherkrankheit, bei der durch Fehlen eines Proteins Fette nicht innerhalb der Zelle transportiert werden, was dazu führt, dass Zellen absterben. Diese Erkrankung betrifft sowohl das zentrale Nervensystem als auch innere Organe (Leber, Milz, zum Teil Lunge) und ist gekennzeichnet durch fortschreitende Degeneration und Demenz. Niemann Pick zählt mit einer Häufigkeit von 1:130 000 zu den sogenannten "seltenen Erkrankungen". Oft sind Geschwisterkinder auch betroffen.


Ärgerlich ist vor allem die Bürokratie

Eine schlimme Erkrankung hatten wir zwar erwartet, aber wenn man dann so eine endgültige Diagnose bekommt, ist das erst mal hart. Man wird das geliebte Kind verlieren, die Krankheit ist nicht heilbar, es gibt ein Medikament, das aber lediglich den Verlauf der Krankheit ein wenig verlangsamen kann. Nichtsdestotrotz öffnen sich viele neue Türen, von deren Existenz man vorher noch nie etwas wusste. Man wird immer die kleine Ecke im Herzen haben, die Trauer empfindet, aber das Leben nimmt an Intensität zu. Die sozialen Kontakte werden weniger, dafür tiefer, und man merkt, dass man eben nicht alleine ist. Natürlich erlebt man Enttäuschungen, weil es einem bewusst wird, wie schwierig es für die Umwelt ist, einer Familie zu begegnen, die mit einem solchen Schicksalsschlag konfrontiert ist. Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass man auch viel Hilfe und Unterstützung bekommt, wenn man versucht, offen mit der Erkrankung umzugehen. Ärgerlich ist tatsächlich vor allem die Bürokratie, die es sehr schwierig macht, die Hilfen zu bekommen, die dem Kind von Rechts wegen zustehen. Der Umgang mit Behörden und Krankenkassen kann sehr persönlichkeitsbildend sein. Man lernt, sich durchzubeißen, sich nicht von der ersten Ablehnung abschrecken zu lassen, sondern beharrlich darum zu kämpfen, Rechte und Hilfsmittel in Anspruch nehmen z u dürfen, die dem Kind und der Familie die verbleibende Zeit etwas vereinfachen könnten.


Trotzdem sind wir eine glückliche Familie

Wir würden uns wünschen, dass es anders wäre. Trotzdem sind wir eine glückliche Familie. Jetzt, da wir eine Diagnose haben, wissen wir, was auf uns zukommt. Wir versuchen, jeden Tag zu schätzen und dürfen unsere Tochter lieben, wie sie ist. Wir müssen sie keinem gesellschaftlichen Druck mehr aussetzen, sondern können versuchen, die kostbare verbleibende Zeit mit ihr so schön wie möglich zu verbringen.

Lili selbst macht meistens einen glücklichen Eindruck. Auch wenn sie nicht mehr sprechen kann, so singt sie immer noch gerne und lacht viel. Sie liebt ihren älteren Bruder sehr; glücklicherweise hat er die Krankheit nicht. Durch ihr offenes, strahlendes Wesen bringt man ihr viel Liebe entgegen. Wir haben nicht das Gefühl, dass sie unter ihrer Krankheit besonders leidet - und das tröstet uns als Eltern über vieles hinweg.


Kontakt:
beck_fornfeist@gmx.de
weitere Informationen im Internet unter
www.niemann-pick.de


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 4/2010, 31. Jg., Dezember 2010, S. 3
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
Bundesgeschäftsstelle, Leipziger Platz 15, 10117 Berlin
Telefon: 030/20 64 11-0, Fax: 030/20 64 11-204
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2011