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BERICHT/358: Mutismus - eine Einführung (ISAAC)


UNTERSTÜTZTE Kommunikation - isaac's zeitung
International Society for Augmentative and Alternative Communication 2-2012

Selektiver Mutismus
Eine Einführung

Von Ursula Braun



In ihrem einführenden Artikel stellt Ursula Braun die wichtigsten Fakten zum Thema Mutismus zusammen und beschreibt derzeit anerkannte Therapieansätze.


Was ist Mutismus?

Selektiver Mutismus (lat.: mutus = stumm) ist die Bezeichnung für eine psychophysiologische Störung, in deren Folge Kinder, Jugendliche und teilweise auch Erwachsene trotz vorhandener Sprechfähigkeit in spezifischen Situationen oder im Umgang mit bestimmten Menschen verstummen und diese Unfähigkeit, lautsprachlich zu kommunizieren, über einen Zeitraum von mehr als 1 Monat nicht aufgehoben werden kann.

Gleichzeitig gelingt es diesen Menschen, in vertrauten Umgebungen, z.B. ihren Familien, weiterhin problemlos zu sprechen (vgl. Remschmidt 1985; Bahr 1996, Hartmann 2012). Neben dem Terminus "Selektiver Mutismus" findet sich besonders in der medizinischen Literatur auch der Ausdruck "Elektiver Mutismus" oder "Partieller Mutismus". Vom "totalen Mutismus" spricht man, wenn Menschen mit intakter Sprechfähigkeit ungeachtet der Umgebung und des sozialen Umfelds vollständig verstummen.

Beim Mutimus handelt es sich um ein komplexes Störungsbild, das in der Regel mit einer Anzahl anderer Beeinträchtigungen einhergeht. Diese so genannten "komorbiden Störungen" können sein (vgl. Hartmann 1993; Katz-Bernstein 2007, Feldmann u.a. 2012):

  • Soziale Ängstlichkeit,
  • Soziale Phobie
  • Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten
  • Depressionen
  • Reaktionen auf schwere Belastungen
  • Regulationsstörung von Schlaf, Essen, Ausscheidungsfunktion oder Verhaltenskontrolle

Bei mehr als 50% der mutistischen Kinder liegt eine Sprachentwicklungsverzögerung vor.


Wie entsteht Mutismus?

Während das Phänomen "Mutismus" zunächst überwiegend psychologisch zu erklären versucht wurde und besonders die Möglichkeit eines traumatischen Erlebnisses als ausschlaggebend hypothetisiert wurde, geht die heutige Forschung sowohl von psychologischen als auch von somatologischen Ursachen bei der Entstehung des Mutismus aus.

Als psychologische Faktoren werden abweichende Problemlösungsmechanismen, Konditionierungsprozesse und Milieueinwirkungen in den Vordergrund gestellt, bei den physiologischen Faktoren psychotische Grunderkrankungen, Entwicklungsstörungen und hereditäre Prädispositionen (vgl. Hartmann 2012). Familien mit mutistischen Kindern weisen nämlich überproportional häufig andere Familienmitglieder auf, die als kommunikativ gehemmt, introvertiert und sozial zurückgezogen beschrieben werden (Katz-Bernstein 2007; Hartmann 2012). Hartmann (2012) weist zudem darauf hin, dass die gehäuft auftretenden Angststörungen und Depressionen, die in diesen Familien vorkommen, ebenfalls in Zusammenhang mit somatogenen Ursachen diskutiert werden, nämlich mit einer Hyperreaktion der Amygdala bei der Angststörung und einer Unterversorgung mit dem Neurotransmitter Serotonin bei der Depression.

Hartmann (2012) formuliert auf der Basis dieser Befunde das Diathese-Stress-Modell als umfassenden Erklärungsansatz für mutistische Störungen: "Das Schweigen lässt sich (...) als Folgeerscheinung von intrapsychischen Insuffizienzpotenzen und Negierungstendenzen gegenüber als bedrohlich empfundenen interaktionalen Geschehnissen interpretieren mit der Diathese der Prädisposition des Betroffenen bzw. der Familie für kommunikative Geschehnisse."

Festzuhalten bleibt: Die Annahme, Mutismus sei in erster Linie psychisch bedingt, lässt sich aus heutiger Sicht nicht mehr halten. Stattdessen wird von einem multifaktoriellen Ursachenkomplex ausgegangen, bei dem familiäre Dispositionen eine zentrale Rolle spielen.


Welche Interventionsmaßnahmen gibt es?

Während zunächst individuumszentrierte Behandlungsansätze bei der Mutismustherapie im Vordergrund standen und je nach Ausrichtung der Therapeuten psychoanalytisch, verhaltenstherapeutisch oder spieltherapeutisch mit dem mutistischen Kind gearbeitet wurde, steht heute auch das gesamte soziale Bezugssystem des mutistischen Menschen im Focus der Behandlung (vgl. Kürschner 1998).

Als Vorreiterin der modernen Mutismustherapie in Deutschland gilt Nitza Katz-Bernstein, die das Sprachtherapeutische Ambulatorium der Universität Dortmund viele Jahre lang geleitet hat und auf die der systemisch ausgerichtete Therapieansatz DorTmuT (Dortmunder Mutismustherapie) zurück geht. Wichtige Bausteine ihres Konzepts sind (vgl. Katz-Bernstein 2007):

  • Safe Place - die Therapie als sicherer Platz für das Kind, in dem seine Grenzen nicht überschritten werden
  • Arbeit mit Handpuppen
  • Möglichkeiten zum Symbolspiel
  • Einsatz non-verbaler Kommunikationsmodi - neben Mimik und Gestik werden auch Instrumente eingesetzt
  • Schrittweiser Aufbau der lautsprachlichen Kommunikation (Verhandeln von Situationen, in denen das Kind sich das Sprechen zutraut, schrittweiser Angstabbau, Erweiterung des Personenkreises)
  • Selbstbestimmung - Kind oder Jugendlicher gibt das individuelle Tempo vor
  • Transferarbeit mit dem sozialen Umfeld des Kindes (Eltern, wichtige Bezugspersonen)

Ähnlich wie Katz-Bernstein, aber mit stärkerer Betonung des kooperativen Aspektes, geht der KoMut-Ansatz (Kooperative Mutsimustherapie) vor, der auf der Basis der Kooperativen Pädagogik von Schönberger, Praschak und Jetter (1987) entwickelt wurde. "In der Kooperativen Mutismustherapie geht es (...) darum, gemeinsam mit dem Kind Bedingungen zu gestalten, die ihm eine eigenaktive Erweiterung seines Handlungsrepertoires ermöglichen" (Feldmann, Kopf, Kramer 2012, 15).

Ebenfalls viel beachtet wird der Ansatz SYMUT (Systemische Mutismustherapie) von Boris Hartmann (u. a. 2007, 2012), der in eine systemisch ausgerichtete Therapie verhaltenstherapeutische Elemente integriert und gegebenenfalls auch durch eine medikamentöse Behandlung flankiert.


Wo gibt es Beratung?

Außer in spezialisierten Sprachtherapiepraxen finden Betroffene und ihre Familien sowie Fachleute Unterstützung und Informationen bei der Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V. (www.mutismus.de) und beim Verein StillLeben e.V. in Hannover (www.selektiver-mutismus.de). Zudem existiert seit 2009 mit der Fachzeitschrift "Mutismus.de" in Deutschland die einzige Fachzeitschrift Europas, die sich ausschließlich mit dem Thema Mutismus beschäftigt.


Literatur:

Bahr, R. (1996). Mutismus: Definitionen, neuere Klassifikationsversuche und verbreitete therapeutische Ansätze. Logos Interdiziplinär 4(1), S. 4-14
Feldmann, D.; Kopf, A.; Kramer, J. (2012): Das Konzept der Kooperativen Mutismustherapie (KoMut). Forum Logopädie 26. Heft 1, 14-20
Hartmann, B. (1993): Mutismus. Zur Theorie und Kasuistik des totalen und elektiven Mutismus. Berlin: Volker Spiess Verlag, Edition Marhold
Hartmann, B. (2007): Systemische Mutismus-Therapie. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lexikon der Sprachtherapie. Stuttgart: Kohlhammer
Hartmann, B. (2012): Was ist Mutismus?
http://www.boris-hartmann.de/sprachtherapie-boris-hartmann/was-ist- mutismus-.php , abgerufen am 05.03.2012
Katz-Bernstein, N.; Meili-Schneebeli, E.; Wyler-Sidler, J. (2007): Mut zum Sprechen finden. Therapeutische Wege mit selektiv mutistischen Kindern. Reinhardt, München/Basel
Katz-Bernstein, N. (2007): Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. 2. Auflage. Reinhardt, München/Basel
Kürschner, U. (1998): Wege aus dem Schweigen Therapie bei selektivem Mutismus. systhema 2/98. 12. Jahrgang, S. 160-171
Remschmidt, H. (1985): Störungen der sprachlichen Kommunikation. In: Remschmidt, H./Schmidt; M.H. (Hrsg.): Kinder- und Jugendpsychiatrie in Klinik und Praxis, Bd. III. Stuttgart: Thieme Verlag, S. 77-82
Schönberger, F.; Praschak, W.; Jetter, K-H. (1987): Bausteine der Kooperativen Pädagogik. Bernhardt-Pätzold, Stadthagen


Kontakt:

Ursula.Braun@gmx.de

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Quelle:
UNTERSTÜTZTE KOMMUNIKATION - ISAAC's Zeitung, 17. Jahrgang 2012, Nr. 2/2012, S. 6 - 8
Herausgeberin: ISAAC, Gesellschaft für unterstützte Kommunikation e.V.
Deutschsprachige Sektion der International Society for Augmentative and Alternative Communication (ISAAC)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2012