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BERICHT/360: Bewegung und Klang - Eine Woche mit dem MotionComposer (ISAAC)




UNTERSTÜTZTE Kommunikation - isaac's zeitung
International Society for Augmentative and Alternative Communication 2-2012

Bewegung und Klang
Eine Woche mit MotionComposer

Von Uwe Billerbeck

Von einem ganz ungewöhnlichen und viel versprechenden Weg, über Bewegungen Klang zu erzeugen und dadurch eine neue Form der Selbstwirksamkeit zu erleben, berichtet Uwe Billerbeck.

Der MotionComposer verschafft nicht nur Schülerinnen und Schülern mit schweren körperlichen und/oder kognitiven Beeinträchtigungen neue Erfahrungsräume, sondern ist auch für die Zielgruppe dieses Schwerpunktheftes, Kinder und Jugendliche mit Mutismus, ein bisher unbekanntes, aber möglicherweise hilfreiches Instrument. Wenn Kinder sich nicht trauen, ihre eigene Stimme in fremden Umgebungen erklingen zu lassen, könnte dann vielleicht der MotionComposer, der ihre Körperbewegungen erklingen lässt, eine Brücke bauen?


"Was wäre, wenn wir unsere Bewegungen als Musik hören könnten? Wenn leise Klänge auf das Spiel mit subtilen Gesten reagierten und sich weiter entfalten würden, je raumgreifender die Bewegungen sich entwickeln. Was wäre, wenn wir den Mund öffneten und Vogelstimmen hörten oder durch einen Raum tanzten, um immer wieder neue Klänge zu entdecken? Wir bekämen ein neues Gefühl für unseren Körper und würden motiviert uns zu bewegen. Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung in ihrer emotionalen / künstlerischen Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt sind, könnte geholfen werden, sich auszudrücken."

Diese Ankündigung des MotionComposerTeams hat uns als Pädagoginnen und Pädagogen einer Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung neugierig werden lassen. Gemeinsam mit unseren Schülerinnen und Schülern wollten wir uns einen neuen Erfahrungsraum erschließen. Dazu luden wir das multiprofesionelle Entwicklerteam um den Tänzer und Choreographen Robert Wechsler zu einem einwöchigen Workshop im Rahmen des Festivals für computergestützte Kunst Cynetart in Dresden an unsere Schule ein. In dieser Woche wollten wir uns auf neue Klangerlebnisse und Ausdrucksmöglichkeiten einlassen. Zudem ging es uns darum, die bei einem Vorbereitungstreffen aufgetauchten Begriffe wie Interaktionsrahmen, Ursache-Wirkungs-Prinzip, nonverbaler Ausdruck, Inklusion und weitere Verdächtige aus dem Vokabularschatz der Unterstützten Kommunikation etwas genauer unter die Lupe nehmen und Ansatzpunkte zur UK überprüfen. Unsere Beobachtungen sollten in die Weiterentwicklung des Projektes mit einfließen.


Der MotionComposer - ein intuitiver Ausdrucksvermittler und Gerät, das Bewegung in Musik verwandelt

Um Bewegungen in Klänge zu wandeln, gibt es bereits eine Reihe von Sensoren und Software-Systemen. Die Herausforderung für das Entwicklerteam um Robert Wechsler bestand darin, eine Möglichkeit zu finden, ausdrucksstarke Bewegungen in eine Musik zu verwandeln, die dem Anwender das Gefühl gibt, den eigenen Körper zu hören. Dieser Hintergrund hat das Team für die Korrelation zwischen Bewegung und Klang und deren Effekte auf unsere Wahrnehmung sensibilisiert.

Unterstützt durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie entwickelte das Entwicklerteam an der Bauhaus-Universität Weimar ein Gerät - speziell für die Bedürfnisse von Menschen mit Einschränkungen ihrer Ausdrucksmöglichkeiten. Dieser sogenannte MotionComposer besteht derzeit aus einem PC-System, einer hochauflöseaden Kamera, einem Soundsystem und der entsprechenden Software. Das System bedient sich der Technologie des Motion Tracking. Diese ist bekannt als ein Werkzeug, das von Animations- und Medienkünstlern benutzt wird, um lebensähnliche Charaktere für Film und Videospiele zu generieren. Dafür ist allerdings eine komplexe und sehr teure Hardware unabdingbar.

Der MotionComposer hingegen arbeitet mit einer anderen, weniger bekannten, dafür kostengünstigeren Anwendung für Live-Performances im Bereich Tanz und Musik.

Am PC werden Raumfelder definiert, denen verschiedene Klänge zugewiesen werden. Diese Klänge können durch minimale Bewegungen in den definierten Raumfeldern, beispielsweise durch Lidschlag ausgelöst werden. Je nach Intensität der Bewegung lässt sich die Klangqualität in Geschwindigkeit und Höhe beeinflussen, um dadurch einen künstlerischen Ausdruck zu erreichen. Diese Technologie erlaubt es, Bewegungen zu nutzen, die Klänge, Musik oder andere Medien in Echtzeit erzeugen und steuern.

Menschen mit sehr eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten wird somit ein Instrument gegeben, mit dem sie die ihnen eigenen Bewegungsmöglichkeiten ihres Körpers nutzen können, um Musik zu generieren sowie Audioaufnahmen, Texte und ähnliches zu kontrollieren.


Bewegung wird zu Kommunikation

Diese Technologie stellt eine starke Verbindung zwischen Kinästhesie und Klang dar. Sie hat genauso viel mit Kunst und Psychologie, wie mit Sensoren und Software zu tun. Der MotionComposer stellt somit eine Klangumgebung als Interaktionsrahmen bereit, in dem Bewegung automatisch ein Klang-Feedback hervorruft. Die Synästhesie von Bewegung und Klang wird sowohl vom sich Bewegenden als auch von seinem Umfeld wahrgenommen und als zusammenhängend interpretiert - die Bewegungen erhalten also 'einen Sinn'. Sowohl die Reaktion des Umfeldes als auch eigene Erkundungen der Klangumgebungen können dem Nutzer bei der Ergründung des Ursache-Wirkungs-Prinzips und beim Erleben der eigenen Selbstwirksamkeit helfen. Mit den interaktiven Klangumgebungen können also die nonverbalen Ausdrucksmöglichkeiten über Bewegungen stimuliert und verbessert werden.


Erklärungsansatz

Die Entstehung von Geräuschen und Klängen setzt immer eine Bewegung voraus. Aus diesem Grund sind wir es auch gewohnt, dass wir mit unseren Körperbewegungen Geräusche hervorrufen. Musik kann uns hingegen dazu verleiten, uns instinktiv nach ihr zu bewegen. Musik und Tanz sind enger mit einander verbunden, als wir denken - in einigen Kulturen, zum Beispiel bei manchen afrikanischen Sprachen, gibt es für diese beiden Begriffe nur eine gemeinsame Bezeichnung. In der westlichen Welt hingegen fand mit der zunehmenden Formalisierung von Tanz und Musik eine Trennung in zwei eigenständige Kunstformen statt. Der MotionComposer bringt diese beiden Disziplinen wieder zusammen. Da in unserer Sprache kein Wort existiert, dass die zeitgleiche Erfahrung von Musik und Tanz widerspiegelt, wird dieses neue Konzept zur Zeit 'Musik-Bewegung' genannt. Musik-Bewegung bezeichnet also dieses Wahrnehmungsphänomen, welches durch computergestützte Erzeugung von Klängen und Musik durch Körperbewegungen zu erreichen ist. Die körperzentrierte Interaktion mit der Musik ermöglicht eine neue Dimension der Selbstwahrnehmung und Körpererfahrung. Die Spiegelung der Bewegungen über Klänge macht diese dem Anwender bewusst. Durch die Musik hervorgerufene Gefühle können mit Bewegungen verknüpft, besser verstanden und im nächsten Schritt auch bewusst zum Ausdruck gebracht werden. Musik-Bewegung kann auch therapieunterstützend eingesetzt werden, um z. B. Menschen aus der Erstarrung zu holen.

Der spielerische Ansatz und die Selbstwirksamkeit von Musik-Bewegung kann eine starke Motivation sein, den Körper als Ausdruckswerkzeug für die Kommunikation mit der Umwelt (wieder) zu entdecken. Musik-Bewegung ermutigt den Anwender, unterstützt durch schöne oder lustige Klänge, sich darzustellen und erhöht dadurch die Kontaktbereitschaft. Das funktioniert, weil Musik und Tanz von Natur aus 'performative' sind - also sie fördern das gegenseitige Zeigen und den zwischenmenschlichen Austausch.

Auch die kommunikativen Kompetenzen werden gestärkt. Die Kommunikation auf vorsprachlicher und vorsymbolischer Ebene als 'die Basis für das eigentliche Sprachenlernen' - wird durch das "Bewegung-in-Musik-Feedback" stimuliert und ermöglicht. Musik-Bewegung fördert durch das verbesserte Körpergefühl den persönlichen Bewegungsausdruck und das Selbstbewusstsein. Sie sensibilisiert aber auch die Fremdwahrnehmungen, indem sie die Konzentration der Gruppe auf die Bewegungen des Anwenders lenkt. Musik-Bewegung regt zur bewussten Bewegung und der sozialen Interaktion mit der Gemeinschaft an und wirkt damit - bis hin zum Erwerb neuer Handlungskompetenzen bei der Beziehungsgestaltung - über die eigentliche Anwendung hinaus.


Erfahrungen aus dem Workshop

Um es vorwegzunehmen, die Ergebnisse waren im wahrsten Sinne des Wortes 'bewegend'. Die Pädagoginnen und Pädagogen ebenso wie die Workshopleiter waren darüber erstaunt, wie schnell die Schülerinnen und Schüler den Zusammenhang zwischen Bewegung und den dadurch hervorgerufenen Tönen begriffen haben. Mit viel Begeisterung erkundeten sie die Klangumgebungen für sich. Im Laufe der Woche konnten sich unsere Schülerinnen und Schüler sehr intensiv damit auseinandersetzen.

Matthias (alle Namen der Schüler wurden geändert) ist ein stark sehbehinderter Schüler der sich an Lichtquellen orientiert und sich diesen zuwendet. Im Workshop hat er Klänge bewusst wahrgenommen. Er ist immer wieder zu den Feldern zurückgekehrt, die für ihn angenehme Töne erklingen ließen. Waren die Felder weiter weg von ihm, dann hat sich Matthias diesen vorsichtig genähert, hat damit Klänge ausgelöst und diesen ganz bewusst nachgelauscht. Auf Grund seines Handelns stellte er fest: "Da sind Töne. Ich löse sie aus und wenn ich mich bewege, verändern sie sich. Und überhaupt, ist das viel spannender, als das Licht vor den Fenstern und Türen zu suchen."

Lisa, die im Musikunterricht Unterstützung benötigt, um Musikstücke mit einer Rassel zu begleiten, ließ durch ihre Armbewegungen Klavierakkorde erklingen. Nach ein paar Tagen Übung klang es schon fast ein wenig nach Schostakowitsch. Willis Laufübungen wurden dadurch unterstützt, dass er verschiedene Tierklänge im Raum finden konnte und wenn Lucas eigene Choreographien ersann und mit dem Workshopleiter und Tänzer Robert Wechsler durch die Turnhalle tanzte - dann war von seinen Einschränkungen nichts mehr zu merken. "Tanz und Musik, das sind Sprachen, die wir alle verstehen".

Wie oben schon erwähnt, ist es möglich selbst mit kleinsten Bewegungen Klänge zu erzeugen. So konnten Schüler, denen es sonst schwerfällt einen Taster anzusteuern, mit minimalen Gesten, wie einem Augenzwinkern, den Klangraum erkunden und die umstehenden Personen mit den von ihnen erzeugten Klängen und Tönen verzaubern.

Unsere Begeisterung spiegelt sich in den folgenden Aussagen von Pädagoginnen und Pädagogen wider:

"Eigentlich wissen wir, wie intelligent unsere Schüler sind, aber wir brauchen immer wieder neue Anlässe, bei denen sie uns das beweisen können - bei diesem Projekt war das ganz wunderbar der Fall"

"Sehr bewegend, was unsere Schüler geleistet haben."

"Ich war zunächst skeptisch, ob die Anwendung für unsere Schüler geeignet ist. Doch schon beim ersten Ausprobieren zeigte sich, dass fast alle Schüler das Prinzip sofort verstanden und auch noch riesigen Spaß bei der Anwendung hatten."

Die Workshopergebnisse wurden zusammen mit einigen Schülerinnen und Schülern am 19.11.2011 im Festspielhaus Dresden-Hellerau im Rahmen des Festivals für computergestützte Kunst CYNETART des Symposiums 'Behinderung & Körperwahrnehmung in virtuellen Environments' präsentiert und diskutiert. Es war für unsere Schüler ein besonderes Erlebnis, sich gemeinsam mit Künstlern, Tänzern und Musikern, vor fremdem Publikum emotional und kreativ auszudrücken.

Nicht zuletzt zeigten sich die Eltern beeindruckt darüber, ihre Kinder außerhalb des gewohnten Umfeldes mit neuen Kompetenzen wahrzunehmen. "Unser Kind findet hier eine Ausdrucksmöglichkeit, die wir so bis jetzt bei ihm noch nicht beobachten konnten." Da der MotionComposer ein innovatives Ausdrucksmedium darstellt, bietet er die besten Voraussetzungen, dass sich die Anwender in ihren Kompetenzen erfahren. Unter diesem Aspekt sollte er vor allem auch im Hinblick auf die Inklusion in den Blick genommen werden. "Inklusion ist ein Thema, das uns alle bewegt. Der 'MotionComposer' könnte einen guten Beitrag dazu leisten".


Kontakt:

Uwe Billerbeck
Schule am Burkersdorfer Weg
Burkersdorfer Weg 20-22
01189 Dresden
www.foerderschule-dresden.de
uk.beratung@evangelische-behindertenhilfe-dresden.de

Josepha Dietz
"Der MotionComposer"
Bauhaus University
Helmholtzstraße 15, 99425 Weimar
www.motioncomposer.com
dietz@motioncomposer.org

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Quelle:
UNTERSTÜTZTE KOMMUNIKATION - ISAAC's Zeitung, 17. Jahrgang 2012,
Nr. 2/2012, S. 27 - 29
Herausgeberin:
ISAAC, Gesellschaft für unterstützte Kommunikation e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2012