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BILDUNG/320: Studium mit Behinderung - Es geht mehr, als man denkt (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 3/2011

Studium mit Behinderung
Es geht mehr, als man denkt

von Dr. Sven Drebes


"Ich sitze im Rollstuhl. Was kann ich studieren?" "Ich bin blind. An welcher Uni kann ich studieren?" Solche und ähnliche Fragen nach "behindertengerechten" Studiengängen oder Hochschulen werden von Abiturientinnen und Abiturienten, deren Eltern oder anderen Vertrauenspersonen immer wieder gestellt.


Betrachtet man die Erfahrungen, die sie mit dem Schulsystem und der heute üblichen Berufsberatung durch die Arbeitsagenturen gemacht haben, ist eine solche Herangehensweise verständlich. Eine Antwort darauf ist aber oft unmöglich. Es gibt weder Studiengänge noch Hochschulen, die grundsätzlich für alle Menschen mit Behinderung / chronischer Erkrankung oder Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen besonders geeignet sind. Im Gegenteil, vielfach bekommen behinderte Studieninteressierte nach ersten Recherchen den Eindruck, die Hochschulen würden ihre Bedürfnisse komplett übersehen. Ist ein Studium also nur etwas für wagemutige Menschen mit Behinderung und eine Ausbildung in einem Berufsbildungswerk doch die bessere Alternative? Die Antwort ist ein klares "Nein".


Studium sollte immer möglich sein

Ein Studium ist auch für Menschen mit Behinderung, die das Abitur oder eine andere Form der Hochschulreife geschafft haben, möglich. Das Fehlen von Studiengängen, die für behinderte Menschen besonders gut geeignet sind bzw. zu sein scheinen, geht damit einher, dass auch kein Studiengang generell ungeeignet für beeinträchtigte Menschen ist. Die Auswahl sollte ausschließlich anhand individueller Interessen und Fähigkeiten erfolgen. Denn zum einen gibt es bei jedem Studiengang Arbeitsfelder, die man auch mit diversen Behinderungen ausfüllen kann, so dass jeder seine Nische findet. Zum anderen führt die Wahl eines Studienfachs, das den individuellen Interessen und Fähigkeiten entspricht, zu einem besseren Abschluss. Und dieser erleichtert wiederum den Einstieg in den Arbeitsmarkt.


Wie barrierefrei sind die Hochschulen?

Viele Hochschulen haben eine lange Geschichte. Deshalb sind sie oft in Gebäuden angesiedelt, die damals nicht barrierefrei gebaut wurden. Ein Teil davon wurde inzwischen so umgebaut, dass sie von allen oder vielen Menschen mit Mobilitätseinschränkung genutzt werden können. Bei einigen stehen solche Umbauten noch aus oder sind aufgrund der Bausubstanz unmöglich. Nahezu jede Hochschule verfügt jedoch zumindest über mehrere barrierefreie Gebäude. Dadurch besteht die Möglichkeit, Lehrveranstaltungen, Prüfungen usw. dorthin zu verlegen. Labore und PC-Räume sind nur selten wirklich barrierefrei. Viele Hochschuldozenten sind zudem nicht darauf vorbereitet, Menschen zu unterrichten, die Lehrinhalte anders wahrnehmen als der Durchschnitt. Die Barrierefreiheit der Hochschule sollte bei der Wahl des Studienorts eine Rolle spielen, aber nicht die Hauptrolle.


Rechtsanspruch auf veränderte Prüfungsbedingungen

Studierende, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung eine Prüfung nicht in der allgemein üblichen Weise ablegen können, haben einen Rechtsanspruch auf eine Veränderung der Prüfungsbedingungen. Dabei ist allerdings Bedingung, dass die modifizierte Prüfung gleichwertig zur ursprünglich vorgesehenen ist. Die Durchsetzung dieses Rechtes ist je nach Studienfach und Hochschule, aber auch je nach Art der Behinderung, mit unterschiedlich hohem Aufwand, teilweise auch mit harten Kämpfen, verbunden. Umso schwieriger wird es, je seltener eine Behinderung ist und je schwerer es Nicht-Betroffenen fällt, die Auswirkungen der Beeinträchtigung des Studierenden zu erkennen und abzuschätzen. Leider ist bei vielen Hochschulmitarbeitern kein oder nur wenig Bewusstsein dafür vorhanden, dass viele Beeinträchtigungen, seien sie organisch oder psychisch, zwar nicht direkt erkennbar sind, aber schwerwiegende Folgen für das Studium haben können. Wird von der Hochschule ein verbindlicher Studienplan vorgegeben, sind daran ebenfalls Veränderungen möglich. Auch hier gilt das zuvor Beschriebene.

Einige behinderte Menschen benötigen bereits vor der Aufnahme eines Studiums Anpassungen. So kann es notwendig sein, bestimmte Bedingungen, die die Hochschulen bei der Auswahl der Studierenden anwenden, zu verändern oder zu umgehen. Bei der Zulassung zu Bachelor- und Staatsexamensstudiengängen besteht hierauf bundesweit ein Rechtsanspruch. Für die Zulassung zu Masterstudiengängen gibt es nur in einigen Ländern und an einigen Hochschulen verbindliche Regelungen.


Studienfinanzierung

Bei der Studienfinanzierung tun sich Barrieren auf, sobald der Bedarf von dem eines "Normalstudenten" abweicht. Das BAföG sieht lediglich Pauschalen vor, auch für die Wohnkosten. Ein erhöhter Bedarf aufgrund einer Behinderung ist im BAföG nicht vorgesehen. In einigen Fällen besteht die Möglichkeit ALG II zu erhalten, dies ist aber schwierig, da Studierende per Gesetz grundsätzlich kein ALG II erhalten. Ein Teilzeitstudium wird durch das BAföG nicht gefördert. Allerdings kann BAföG länger bezogen werden, wenn sich das Studium aufgrund einer Behinderung verzögert. Je früher die Verzögerung dem BAföG-Amt mitgeteilt wird, desto einfacher wird die Umsetzung.

Menschen, die auf Assistenz oder Hilfsmittel angewiesen sind, haben keinen anderen Kostenträger als die Sozialhilfe. Was zum einen bedeutet, dass sie vorrangig ihr Einkommen und Vermögen dafür verwenden müssen, zum anderen, dass nur das absolut notwendige Minimum finanziert wird. Dies schließt sowohl nicht vorgeschriebene, aber allgemein übliche Zusatzleistungen innerhalb eines Studiengangs als auch viele weiterführende Studiengänge nach dem Bachelor aus. Dadurch wird gerade denjenigen, die wegen ihrer Behinderung eine besonders gute Qualifikation benötigen, um einen Arbeitsplatz zu finden, von staatlichen Stellen die Möglichkeit hierzu genommen.


Was muss sich ändern

Die Hochschulrektorenkonferenz hat sich 2009 zur Schaffung umfassender Barrierefreiheit an den Hochschulen verpflichtet. Hierzu wurden Programme entwickelt, die insbesondere die folgenden Bereiche umfassen:

• bauliche Barrierefreiheit und technische Ausstattung,

• rechtlicher Rahmen des Studiums (Studienzulassung, Studienstruktur, Prüfungen),

• barrierefreie Didaktik (Stoffvermittlung und Aufbereitung der Lernmaterialien) und

• Bewusstseinsbildung bei allen Hochschulangehörigen.

Gleichzeitig lässt die Bundesregierung jeden Willen vermissen, die sozialpolitischen Rahmenbedingungen für ein Studium mit Behinderung zu verbessern. Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention enthält weder Aussagen zu Änderungen im BAföG, noch zu Verbesserungen bei der Finanzierung des behinderungsbedingten Bedarfs im Studium. Hier besteht dringend Handlungsbedarf.


Dr. Sven Drebes Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Behinderung und Studium e.V.

TIPP:
REHACARE INTERNATIONAL
Besuchen Sie die Bundesarbeitsgemeinschaft Behinderung und Studium e.V. auf der Messe REHACARE am Stand D96 in Halle 3.

Informationen

Nahezu alle Hochschulen und Studentenwerke verfügen über Beauftragte für die Belange behinderter Studierender, eine zunehmende Zahl richtet darüber hinaus Beratungsstellen ein. Daneben existieren Beratungsangebote bei vielen Studierendenschaften.

Zentrale Anlaufstellen:

• BAG Behinderung und Studium e.V.:
www.behinderung-und-studium.de

• Kompetenzzentrum Behinderung - akademische Bildung - Beruf Nordrhein-Westfalen:
www.kom-babb.de

• Deutsches Studentenwerk, Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung:
www.studentenwerke.de/behinderung

• Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf:
www.dvbs-online.de

• Bundesarbeitsgemeinschaft hörbehinderter Studenten und Absolventen:
www.bhsa.de

DVBS
BERATUNGSSTELLEN VERZEICHNIS

TIPPS FÜR BEHINDERTE STUDIERENDE

Der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) hat eine Liste mit Beratungsstellen für Studierende mit Behinderung zusammengestellt. Denn um sich vorab einen Überblick über die vielfältigen Studienangebote, die unterschiedlichen Zulassungsvoraussetzungen und die späteren Berufsaussichten zu verschaffen, sollten behinderte Studieninteressierte unbedingt und frühzeitig alle zur Verfügung stehenden Informations- und Beratungsangebote der Hochschulen, der Arbeitsagenturen und anderer Institutionen nutzen.

Die Übersicht des DVBS umfasst Hochschulstandorte in ganz Deutschland. Neben den allgemeinen Beratungsstellen werden auch besondere Angebote für sehbehinderte und blinde Studierende an den jeweiligen Studienorten hervorgehoben.

DVBS
Frauenbergstraße 8
D - 35039 Marburg
Tel.: 06421/948 88-0
Fax: 06421/94888-10
E-Mail: info@dvbs-online.de


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Quelle:
Selbsthilfe 3/2011, S. 32-33
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Tel.: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2011