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BILDUNG/358: Schritte zur inklusiven Hochschule (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 1/2015

Inklusion
Schritte zur inklusiven Hochschule

Von Angelika Scherwitz-Gallegos


Eine inklusive Gesellschaft ist nicht denkbar ohne Hochschulen, die die Rechte aller Menschen auf Teilhabe an Bildung mittragen. Unter dem Einfluss der politischen und rechtlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre von der "Hochschule für Alle" (2009) über die "Behindertenrechtskonvention" (2009 Ratifizierung Deutschland) und den Leitlinien für die Bildungspolitik der Deutschen UNESCO-Kommission e.V. (2014) mit den daraus folgenden Maßnahmen wurde die Richtung eingeschlagen. Was Umsetzung und Konsolidierung angeht, bleibt noch ein gutes Stück Weg zu gehen.


Das Recht auf Bildung ist grundlegendes Menschenrecht. Unbestritten sind der Ausbau von Bildung und eine Öffnung des Denkens, sowie das tägliche Erleben von Vielfalt und den unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen hilfreich, um Toleranz zu fördern und damit den Grundgedanken der Demokratie zu garantieren. Der Gesellschaft im Ganzen entsteht ein Mehrwert - auch in wirtschaftlicher Hinsicht - und jedem Einzelnen. Das ist hinlänglich bekannt.

Beeinträchtigungen von Studierenden sind nicht immer offensichtlich

Menschen mit Beeinträchtigung - ob sichtbar, unsichtbar, angeboren oder erworben im Verlauf des Lebens durch Erkrankung oder Unfall - gibt es viele. 8% aller Studierenden in Deutschland sind betroffen, weist die Sondererhebung zur Situation von Studierenden mit Behinderung und chronischer Krankheit 2011 "beeinträchtigt studieren" nach. Sie können ihr Studium nicht ohne Hilfe bewältigen. Psychische Erkrankungen machen dabei den größten und schnellst anwachsenden Anteil aus. Hilfen sind sehr unterschiedlich. Beispiele sind die Nutzung von Hilfsmitteltechnik, Mobilitätshilfen oder Studienassistenz, Nachteilsausgleiche in der Studienzulassung oder im Studienverlauf in Form von unterschiedlichsten Flexibilisierungen und Anpassungen zum Beispiel der Prüfungsmodalitäten, der Lehrmaterialien - oder der gesamten Studiendauer. Die Verbesserung von Barrierefreiheit in baulicher Infrastruktur und der Lehre, vor allem die Sensibilisierung hin zu einer wertschätzenden und achtsamen Haltung untereinander sind dauerhafte Anliegen mit einer Fülle von Arbeitsfeldern. Ziel ist, unterschiedlichen Lernbedürfnissen in ihrer Vielfalt gerecht zu werden und Teilhabe zu gestalten. Um Bedarf und vor allem das individuelle Potenzial des Einzelnen ans Licht zu bringen und zu nutzen ist meist eine ausführliche und zugewandte Beratung wichtig. Die jeweils individuellen Möglichkeiten werden mit den Rahmenbedingungen, Inhalten und Ressourcen jedes Studienganges abgeglichen sowie Strategien und Vorgehensweisen seitens der Studierenden und erforderliche Anpassungen seitens der Hochschule erarbeitet. Wichtige Partner in der Umsetzung sind neben Hilfesystemen von Außerhalb die beteiligten Mitglieder und Angehörigen der Hochschule mit Hausmeistern, Lehrenden, Administration, Prüfungskommissionen, Hochschulleitung und, ganz wichtig, Mitstudierenden.

Jeder Bedarf ist individuell und selten übertragbar

Beauftragte für Studierende mit Behinderung und chronischer Krankheit, inzwischen gibt es sie wie in den Landeshochschulgesetzen gefordert an jeder Hochschule, sind in ihrer Querschnittsaufgabe die Drehscheibe, wo die verschiedenen Anliegen und Perspektiven aufeinandertreffen. Oft sind sie der erste Kontakt, der in Fragen zum Thema Studium mit Beeinträchtigung aufgesucht wird. Um Anpassungs- und Entwicklungsprozesse kontinuierlich abstimmen zu können, ist eine möglichst offene, flexible, vertrauensvolle und kreative Haltung aller Akteure erforderlich. Denn nur so kann das Studium auch gelingen. Jeder Bedarf ist situativ und selten übertragbar, häufig wird improvisiert und experimentiert. Mit der Zeit steigt die Kompetenz aller Mitwirkenden durch wertvolles Erfahrungswissen und - allmählich - kann das Stigma überwunden werden und eine Kultur des Miteinanders wachsen.

Am KIT gibt es neben der professionellen und vertraulichen Beratung zu allen Themen rund um das Studium mit Beeinträchtigung weitere Angebote. Auch diese orientieren sich in der Regel und wo immer möglich am geäußerten Bedarf der Betroffenen. Das monatliche Angebot "Treffpunkt Studium barrierefrei" ist moderierter Info- und Erfahrungsaustausch, der Betroffene, Studierendenvertretung sowie die Beauftragten von Studierendenwerk und KIT vernetzt. Das Studienzentrum für Sehgeschädigte (SZS) bietet vielerlei individualisierten Service, Dienstleistung und Forschung für die Zielgruppe Studierende mit Blindheit und Sehbehinderung.

Eigeninitiative der Studierenden ist eine Schlüsselkompetenz

Neben der Verantwortung, die die Hochschule und deren Akteure tragen, haben Studierende oder zukünftige Studierende mit Beeinträchtigung Einfluss auf die Gestaltung "ihres Studiums". Eigeninitiative ist eine Schlüsselkompetenz für universitäres Lernen und davon bedarf es viel, um ein Studium mit Beeinträchtigung erfolgreich und als persönlich bereichernd zu erleben. Folgende drei Fragen können Betroffene reflektieren und klären, um durch eigenverantwortliche proaktive Selbstorganisation in einen beidseitig konstruktiven Diskurs zu kommen.

Was brauche ich, um mich mit meiner Beeinträchtigung bestmöglich auf die Studieninhalte konzentrieren zu können?

Unter individuellen Erfordernissen zu prüfen wären Themen wie Mobilität, Wohnen, Assistenz, Studienorganisation, optimale Ausstattung mit Hilfsmitteln, Finanzierungsfragen, Selbstorganisation im Studium, soziale Kontakte, Freizeitgestaltung, Beratungsangebote und selbstreflexiver Umgang mit der Beeinträchtigung.

Welche Bedingungen und Anforderungen erwarten mich an der Hochschule, der Fakultät und meinem Studiengang?

Wie steht es um Barrierefreiheit des Campus, Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel, Studienplanung und den genauen Leistungsanforderungen des Studienfachs (Prüfungen, Hausarbeiten, Praktika, Exkursionen, Laborarbeit etc.)?

Wo brauche ich Unterstützung und wer oder was hilft mir dabei?

Immer sind die Beauftragten für Studierende mit Beeinträchtigung Ansprechpartner, kennen die Strukturen und können bei Bedarf weiter verweisen. Daneben gilt es, Beratung und Hilfesysteme zu suchen und anzunehmen, beispielsweise Infos auf Webseiten zu recherchieren (Studienfachberatung, Beratungsangebote der Fachschaften und Studierendenvertretungen, Psychotherapeutische Beratung der Studierendenwerke, Zentrale Studienberatungen u.a.).

Verwaltungsgefüge contra notwendige Flexibilität?

Die Hochschule kann sich erleben als Ort einer Kultur des Miteinanders, des Dialogs und des aufeinander Zugehens auf der Suche nach gemeinsamen Lösungen für stets neue Herausforderungen. Die Umsetzung des Inklusionsgedankens ist eine sinnhafte Aufgabe, die befriedigend für alle Mitwirkenden sein kann, hohe Anforderungen an Flexibilität und Kreativität stellt sowie reflektiertes Wirken voraussetzt. Dem stehen knappe Ressourcen im Bildungssektor entgegen und Strukturen, die zwar im Umbruch befindlich, dennoch historisch zäh in Veränderungsprozessen sind.

Es braucht Zeit. Vor allem braucht es eine offene Haltung. Immer noch fehlt das Erleben von Beeinträchtigung als "Normalität", als "Selbstverständlichkeit" in unserem Alltagsleben. Ein neues spannendes Lernfeld tut sich auf, für die Studierenden - mit und ohne Beeinträchtigung - und für das gesamte Umfeld. Weitere Informationen zum Studium am KIT sind unter www.studiumundbehinderung.kit.edu verfügbar.


Angelika Scherwitz-Gallegos ist Beauftragte für Studierende mit Behinderung und chronischer Krankheit des KIT, Karlsruher Institut für Technologie

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Quelle:
Selbsthilfe 1/2015, S. 26 - 27
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren
Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Telefon: 0211/3 10 06-0, Fax: 0211/3 10 06-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2015

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