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KULTUR/141: Barrierefreies Opern-Event - "Die Zauberflöte" im Heidelberger Opernzelt (Retina aktuell)


Retina aktuell 117 - 3/2010
Zeitschrift der PRO RETINA Deutschland e.V.
Selbsthilfevereinigung von Menschen mit Netzhautdegeneration

Ein weiteres barrierefreies Opern-Event
"Die Zauberflöte" von W. A. Mozart im Heidelberger Opernzelt

Von Prof. Dr. Kurt Jacobs


Nach den erfolgreichen und für blinde, sehbehinderte und gehörlose Opernfans barrierefreien Opernaufführungen "Titus" von W. A. Mozart und "Der Troubadour" von Giuseppe Verdi hatten die Vorsitzende von Hörfilm e.V., Anke Nicolai, und ihr Team diesmal "Die Zauberflöte" von W. A. Mozart ausgewählt, die am 17. April 2010 barrierefrei im Heidelberger Opernzelt aufgeführt wurde. Dabei war es wohl nicht zuletzt der große Erfolg der beiden vorangegangenen Opernaufführungen, der als Ursache dafür anzusehen ist, dass diese Veranstaltung bereits sechs Wochen vor dem Veranstaltungsdatum mit ca. 650 Besuchern, von denen nahezu 200 blind, sehbehindert oder hörgeschädigt waren, vollständig ausverkauft war.

Das Rahmenprogramm begann um 13.00 Uhr und wies ein Zeitpolster von mehr als fünf Stunden auf, so dass alle vorgesehenen Programmpunkte entspannt und ohne Hetze absolviert werden konnten und auch noch genügend Zeit für Begegnungen und Gespräche blieb. Den Auftakt machte dabei die musikalische Einführung in das Werk "Die Zauberflöte" im Foyer des Opernzeltes durch den Operndirektor Joscha Schaback. Im Rahmen seiner kulturhistorisch geprägten Ausführungen zog er dabei die Parallele zwischen der ursprünglichen Absicht von Mozart, mit der "Zauberflöte" ein Werk für das Vorstadtpublikum zu schaffen und dem heutigen Spielort in dem außerhalb der Stadt Heidelberg liegenden Opernzelt. Hierbei erfuhren wir weitere, sehr interessante kulturhistorische Einzelheiten über die Entstehung und die Struktur der wohl berühmtesten Oper von Mozart, die man in dieser Art auch nicht einem gewöhnlichen Opernführer entnehmen kann.

Danach wurde die Gesamtgruppe von nahezu 200 blinden und sehbehinderten Besuchern einschließlich ihrer sehenden Begleiter und Führhunde in drei Gruppen aufgeteilt, um anschließend die Opernbühne zu erkunden. Dabei war es vor allem von Interesse, dass die Bühne in ihrer nahezu gesamten Größe als Drehbühne konstruiert war. Unserer Gruppe wurden nicht nur die Technik und die Vorteile einer Drehbühne in Gestalt der Zeitersparnis beim Bühnenumbau erklärt, sondern wir durften mit dieser technischen Attraktion eine Ehrenrunde drehen.

Der Weg führte uns dann zurück in das Foyer des Opernzeltes, wo inzwischen eine ausgewählte Anzahl von Kostümen auf Kleiderständern und Masken, die in der "Zauberflöte" Verwendung finden, ausgestellt waren. Diese konnten wir nicht nur tastend erfahren, sondern die Kostümgestalterinnen Katja Ulrich und Katharina Six-Gerdell und die Maskenbildnerinnen Kerstin Geiger, Anja Dehn und Ute Schweitzer erläuterten uns professionell und gut verständlich das Material und die Herstellungsweise der ausgestellten Kostüme und Masken. Leider war es hier nicht möglich, wie bei der Wiesbadener Vorstellung im Dezember 2009, einzelne Kostüme einmal am "lebenden Modell" tastend zu erleben. Zwischendurch blieb noch genügend Zeit, sich die Geräte zur Übertragung der Audiodeskription (Audio-Guide) an der Ausgabestelle abzuholen - diesmal sogar auf Vertrauensbasis ohne Vorlage des Personalausweises.

Hunger und Durst konnten nach so vielen Stunden des zeitlich vorgeschalteten Rahmenprogramms zwischendurch in der Kantine des Opernzeltes gestillt werden, auch wenn zugegebenermaßen das Angebot etwas kärglich ausfiel.

All dies konnten blinde und sehbehinderte Besucher barrierefrei selbständig bewältigen, hatte doch Anke Nicolai von Hörfilm e.V. in der Vorbereitung der Veranstaltung den Audio-Guide, der sich bei den ersten Schritten durch die Räumlichkeiten in Gang setzte, in schon gewohnter Professionalität mit einer genauen Beschreibung der Räumlichkeiten und der jeweiligen Wege dorthin besprochen, der sich somit als ein effizientes Leitsystem bewährte.

Gegen 18.30 Uhr nahmen wir dann gespannt, aber zum Teil durch das lange Vorprogramm auch schon etwas erschöpft, unsere Plätze im Opernsaal ein, um vor dem Beginn der Oper um 19.00 Uhr von Anke Nicolai über den Audioguide noch in das Werk eingeführt zu werden. Dabei erhielten wir wertvolle und wichtige Informationen über den Aufbau und den Inhalt der Oper, den Bühnenaufbau sowie über die platzmäßige Formierung des Orchesters. Obwohl mir bewusst ist, dass es durch den Wegfall der nonverbalen Kommunikationsebene immer dort etwas lauter zugeht, wo viele blinde und sehbehinderte Menschen zusammenkommen, hat es mich trotzdem gestört und ein wenig geärgert, dass der Geräuschpegel im Saal während ihrer Ausführungen zum Teil so hoch war, dass ich Schwierigkeiten hatte, Anke Nicolais Ausführungen über den Kopfhörer zu folgen. Das gleiche gilt für die Pause, in der dem Projekt im Foyer des Opernzeltes der Preis von "Deutschland - Ein Land der Ideen -", einer Initiative unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Horst Köhler, durch Überreichung eines Pokals verliehen wurde.

Die über Audio-Guide gesprochenen Worte von Anke Nicolai "Der Dirigent betritt jetzt die Bühne, nimmt den Taktstock in die Hand - und jetzt geht's los!" bewirkten dann schließlich, dass abrupt Ruhe eintrat und man sich dem Genuss der Ouvertüre sowie des ersten und aller weiteren Akte hingeben konnte. Dabei brachte sich Anke Nicolai mit ihren zwar knappen, aber sehr genauen und anschaulichen Beschreibungen während der Oper stets an Stellen ein, an denen dies sinnvoll war und andererseits auch den eigentlichen Operngenuss nicht störte. Leider konnte ich diesen Genuss nur bis zur Pause wahrnehmen, da mein Audio-Guide nach der Pause beschloss, dass jetzt Feierabend für ihn sei und keinen weiteren Laut mehr für den Rest der Oper von sich gab.

Eine große Begeisterung lösten auch die beiden Gebärdendolmetscherinnen aus, die während der gesamten Oper auf der Bühne immer direkt neben den das augenblickliche Geschehen bestimmenden Akteuren standen und deren gesprochene oder gesungene Texte sowie das übrige Operngeschehen für hörgeschädigte Besucher in Gebärdensprache übersetzten. Dabei waren wohl die Emotionalität und Sensibilität der Gebärdendolmetscherinnen in der Gestaltung der Gebärden die hauptsächliche Ursache für den großen und anerkennenden Applaus des Publikums, der ihnen extra gespendet wurde. In diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert, über diese Veranstaltung auch mal einen Bericht von Seiten eines hörgeschädigten Besuchers lesen zu können.

Eine moderierte Diskussionsrunde mit den Künstlern nach Abschluss der Opernaufführung rundete dann schließlich den langen, erlebnisreichen und vor allem barrierefreien Tag ab, an dessen Ende die meisten von uns wohl motiviert waren, Frau Anke Nicolai und ihrem Team von Hörfilm e.V., allen an der Veranstaltung Beteiligten, aber auch den Sponsoren ein "Weiter so und auf ein Neues!" als eindringlichen Wunsch mit auf den Heimweg zu geben.

Prof. Dr. Kurt Jacobs
Vorsitzender des Kommunalen Beirats für die Belange von Menschen mit Behinderung der Kreisstadt Hofheim am Taunus


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Quelle:
Retina aktuell 117 - 3/2010, S. 28-29
Zeitschrift der PRO RETINA Deutschland e.V.
Selbsthilfevereinigung von Menschen mit Netzhautdegeneration
Herausgeberin:
PRO RETINA Deutschland e.V., Ute Palm
Vaalser Straße 108, 52074 Aachen
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Die Zeitschrift Retina aktuell erscheint vier Mal im Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2010