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KULTUR/145: Kulturloge - Freikarten für Menschen mit geringem Einkommen (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 4/2012

Kostenlos
Freikarten für Menschen mit geringem Einkommen

Von Christine Krauskopf



Plopp, plopp, plopp und plopp - derzeit schießen Kulturlogen in der Republik fast wie Pilze aus dem Boden. Kulturlogen sind gemeinnützige Vereine, die von Veranstaltern Karten erhalten und diese an Menschen mit geringem Einkommen (Kulturgäste) kostenlos weitergeben. Das Ganze geschieht nach einem so einfachen wie neuen Prinzip: Nämlich per Telefon und Gästeliste.


Die Kulturgäste melden sich mit ihren kulturellen Vorlieben in der Regel über soziale Einrichtungen wie der Tafel bei der Kulturloge an. Rock oder Klassik, Kabarett oder Theater, Sport, Museum oder Vogelpark. Die Angebote sind ganz vielfältig und auf die jeweilige Stadt oder die Region zugeschnitten. Stellt ein Veranstalter Plätze zur Verfügung, werden die Gäste mit den entsprechenden Präferenzen angerufen und gefragt, ob sie Zeit und Lust haben, die Veranstaltung zu besuchen. Sagt der Gast zu, dann wird sein Name auf eine Gästeliste gesetzt, die an den Veranstalter übermittelt und an der Abendkasse hinterlegt wird.

Dort nennt der Gast lediglich seinen Namen und bekommt seine Eintrittskarte ausgehändigt. Es kommt zu keiner Stigmatisierung durch einen speziellen Ausweis. Meist weiß nicht einmal der Kassierer, warum die Karte kostenlos abgegeben wird. Und es gibt ein zusätzliches Bonbon für den Gast: Er bekommt eine zweite Karte, mit der er Partner, Freund oder Nachbar einladen kann. Für soziale Einrichtungen wie Frauenhäuser gibt es Gruppenkontingente, dort bleiben die einzelnen Gäste dann anonym.

Direkte Ansprache

Ganz wichtig ist es, dass bei der Vergabe der Kulturplätze die Menschen am Telefon direkt angesprochen werden. Das wissen die ehrenamtlichen Helfer, die die Karten vermitteln. Denn die persönliche Ansprache bietet Gelegenheit für einen kleinen Plausch. Gäste ärgern sich mal über die Ämter, klagen über Krankheiten oder erzählen begeistert von der vorigen Veranstaltung, die sie aus dem tristen Fernseh-Alltag mitten ins Leben katapultiert hat.

Die Ehrenamtlichen können etwas über das Theaterstück erzählen, den Weg zum Theater beschreiben, Fragen beantworten und auch Tipps für die passende Kleidung geben. Das senkt Hemmschwellen und führt dazu, dass auch Menschen, die sich bisher nicht oder nur wenig für Kultur interessierten, Veranstaltungen besuchen. Die Kulturloge erreicht also ganz neue Besuchergruppen.

Diese These ist nicht nur blanke Theorie. Professor Birgit Mandel von der Uni Hildesheim bescheinigte dies 2011 mit einer Untersuchung der Berliner Kulturloge. Gemäß der Studie haben 56 Prozent der befragten Kulturgäste im Jahr vor der Anmeldung als Kulturlogengast höchstens eine oder überhaupt keine kulturelle Veranstaltung besucht, tun dies nun aber in regelmäßigen Abständen. Kultur bleibt damit nicht mehr länger ein Angebot von Wenigen für Wenige.

Der Anfang

Die Anfänge der Kulturlogen liegen in der Kulturredaktion der Oberhessischen Presse in Marburg. Als die Redakteurin Christine Krauskopf ihrem Chef kurz vor Weihnachten 2008 von der Idee erzählte, sagte der: "Wenn du drei Veranstalter findest die mitmachen, versuchen wir es." In den folgenden Wochen und Monaten zeigten sich überraschenderweise alle Veranstalter bereit, kostenlos Plätze für die Gäste der Kulturloge zur Verfügung zu stellen. Im Herbst 2009 wurden die ersten Karten vermittelt. Bald darauf fand die Kulturloge Marburg ihr Domizil in der ehemaligen Stadtredaktion der Oberhessischen Presse. Ein ortsansässiges Schulungsunternehmen ließ ein Computerprogramm als Projektarbeit schreiben, ein Grafikerpaar entwickelte kostenlos ein Logo und den Namen "Kulturloge". Der Schirmherr der Kulturloge fand im Keller noch einen alten Computer samt Bildschirm und Drucker. Und die Uni-Präsidentin schickte Kulturstudenten als Helfer. Kurz: Von überall her kam Unterstützung.

Die Kulturloge in Berlin

Wie viel Pulver in dem Konzept steckt, erkannte auch die Berliner Kulturfachfrau Angela Meyenburg. Der Kontakt zwischen Marburg und Berlin kam durch den Wettbewerb "startsocial" zustande. Im November 2009 informierte sich die Berlinerin eingehend bei den Marburgern. Zu Hause angekommen machte sie sich gleich an die Arbeit. Auch hier überraschte die Bereitschaft der Veranstalter, kostenlos Karten abzugeben. Manche Häuser nehmen gleich eine Klausel in ihre Verträge auf, nach denen ein bestimmter Anteil an Karten an die Kulturloge geht. Im April 2010 ging die Kulturloge Berlin offiziell an den Start. Heute ist sie mit 5.500 registrierten Gästen, 170 Kulturpartnern und 70 freiwilligen Helfern die größte bundesweit. Allein im Jahr 2011 wurden etwa 20.000 Plätze weitergegeben. Nur bei den staatlichen Einrichtungen hapert es in Berlin noch. Mit der Begründung, man könne hochsubventionierte Plätze nicht einfach verschenken, unterstützen landeseigene Kulturinstitutionen mit wenigen Ausnahmen die Kulturloge bislang nicht. Andere Städte sind hier zugänglicher.

Kultur für alle

Die Verantwortung dafür, dass die Gesellschaft nicht noch mehr zwischen Arm und Reich auseinanderdriftet, liegt bei allen Menschen. Die Armen bleiben heute weitgehend unter sich und die Reichen ebenso. Im Publikum dagegen sind alle Menschen gleich. Sie lachen an den gleichen Stellen und lassen sich an den gleichen Stellen berühren. Die persönliche Einladung ist gleichsam eine Einladung, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und miteinander ins Gespräch zu kommen.

Armut ist eine Form der Behinderung. Sie verhindert den Zugang der Menschen mit geringem Einkommen zur Kultur. Die Kulturloge hilft mit, das Publikum zu durchmischen und jedem die Chance zu geben, seinen Horizont mit Kultur zu erweitern.

Neu an der Kulturloge ist auch, dass sie soziale Einrichtungen und die Kultur zusammenbringt, zwei Gruppen, die bisher keine Berührungspunkte hatten. "Für die ehrenamtlichen Helfer bringt diese Verbindung zwischen eigenem Interesse an der Kultur und sozialem Engagement die Motivation", sagt Miriam Kremer, Pressesprecherin der Kulturloge Berlin. Sie selbst ist studierte Kulturmanagerin.

Die Forderung "Kultur für alle", die einst der damalige Kulturdezernent Hilmar Hoffmann formulierte, ist mittlerweile mehr als 30 Jahre alt. Die Bemühungen der Kulturbetriebe und der Politik, allen Menschen Kultur zugänglich zu machen, sind weitgehend gescheitert. Mit der Kulturloge bekommen sie eine neue Chance, ein paar Schritte in Richtung "Kultur für alle" zu gehen. Das Instrument hierfür sind die - bisher wertlosen - leeren Plätze.

Mittlerweile haben sich zwei Verbände zusammengefunden: die bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Kulturlogen, in der die meisten Kulturlogen locker verbunden sind und der kleine Bundesverband der Kulturlogen.

Kontakt: ag@kulturlogen-deutschland.de
Kontakt zum Bundesverband: info@ku1turloge.de


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KONTAKT
Kulturloge Herborn-Dillenburg-Haiger
Christine Krauskopf
35745 Herborn
Tel. 02772-63658
info@kulturloge-hdh.de
www.kulturloge-hdh.de

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Quelle:
Selbsthilfe 4/2012, S. 16 - 17
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
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Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2013