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KULTUR/149: Venezuela - Kinderchor der weißen Hände überwindet Grenzen, 'El Sistema' in Salzburg gefeiert (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 9. August 2013

Venezuela: Kinderchor der weißen Hände überwindet Grenzen - 'El Sistema' in Salzburg gefeiert

von Humberto Márquez und Corina Kolbe


Bild: © Nohely Oliveros/Fundamusical Bolívar

Im 'Chor der Weißen Hände' drücken taube Kinder Musik durch Gesten aus
Bild: © Nohely Oliveros/Fundamusical Bolívar

Salzburg, 9. August (IPS) - Zahlreiche kleine Hände in weißen Handschuhen recken sich in die Höhe, um mit ebenso grazilen wie energischen Bewegungen dem Rhythmus eines lateinamerikanischen Liedes zu folgen. Bei den Salzburger Festspielen, wo die venezolanische Jugendorchesterbewegung 'El Sistema' noch bis zum 11. August eine Residenz hat, zeigt ein Behindertenchor auf beeindruckende Weise, wie groß die therapeutische Wirkung von Musik sein kann. Taube und andere schwer hörgeschädigte Kinder empfinden den Klang durch Gesten nach. Neben ihnen singen Blinde, die die Choreografie nicht sehen können.

Im Salzburger Mozarteum feierte der 'Chor der Weißen Hände' am 8. Juli sein internationales Debüt vor großem Publikum. 38 Jahre nachdem der Ökonom und Musiker José Antonio Abreu die Bewegung gegründet hat, spielen inzwischen landesweit etwa 400.000 Kinder und Jugendliche in staatlich finanzierten Orchestern. Von Anfang an ging es Abreu darum, durch Musik die Gesellschaft zu verändern und sozial ausgegrenzten Kindern einen Ausweg aus dem Elend zu bieten. Junge Slumbewohner werden ebenso in das 'System' aufgenommen wie Behinderte und Strafgefangene, für die Sonderprojekte geschaffen wurden.

Die etwa 120 Mitglieder des Chors sind darüber begeistert, ausgerechnet an einem so renommierten Ort wie Salzburg eine Bühne zu finden. "Es ist sehr bewegend, dass wir in der Geburtsstadt von Mozart auftreten und zeigen können, wie auch Taube Musik machen können", sagt Jessica Montes de Oca, die sich nur durch die Gebärdensprache ausdrücken kann. "Wir überschreiten Grenzen."

Der Chor, dessen schwarze Kleidung sich wirkungsvoll von den weißen Händen abhebt, wurde vom Publikum mit großem Applaus bedacht. Auf dem Programm stand zunächst geistliche Musik, wie das 'Ave Maria' des britischen Komponisten John Rutter und 'Gloria' des Argentiniers Athos Palma.


Anerkennung von Tenor Plácido Domingo

Für besonderen Jubel sorgten dann Interpretationen venezolanischer Stücke, etwa 'Canto a Caracas' von Billo Frómeta, 'Los dos gavilanes' und 'Las cosas bellas de Lara' von Adelis Freitas oder 'Alma Llanera' von Pedro Elias Gutiérrez. Nicht wenigen Zuhörern standen am Ende Tränen in den Augen. Neben Abreu saß auch der bekannte spanische Tenor Plácido Domingo im Publikum, der den Sistema-Gründer beglückwünschte: "Ich bin überrascht von dem, was aus der großen Liebe eines Maestro entstanden ist, der diesen Kindern sein Leben gewidmet hat."

Abreus Abenteuer hatte 1975 mit einer Handvoll Kinder begonnen, die sich zur ersten Probe in einer Tiefgarage in Caracas trafen. Die Geschichte der Bewegung in Venezuela und anderen Teilen der Welt dokumentieren Stefan Piendl und Michael Kaufmann in ihrem 2011 im Irisiana Verlag erschienenen Buch 'Das Wunder von Caracas'. Mittlerweile gibt es über das südamerikanische Land verteilt fast 400 Kinder- und Jugendorchester sowie 280 Musikschulen ('núcleos').

"Dies ist nicht nur ein künstlerisches, sondern vor allem ein Bildungs- und Sozialprojekt", sagte Abreu in einem Interview mit IPS: "Dieses Programm, an dem 400.000 Familien beteiligt sind, richtet sich gegen die Armut, die nicht nur materielle, sondern auch spirituelle Auswirkungen hat."


Integration Behinderter soll Normalität werden

Naybeth García, die den Chor der Weißen Hände leitet, erklärt, dass insgesamt 2.004 Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in die Chöre von El Sistema aufgenommen worden sind. Seit 20 Jahren bemühe man sich, Behinderte und Nichtbehinderte in dem System zusammen auszubilden.

"Wir wollen diese Kinder nicht in die Normalität integrieren, sondern erreichen, dass die Integration zur Normalität wird", sagt García. "Behinderte Menschen geben hier Lektionen über Musik und das Leben, um uns Nichtbehinderte zum Nachdenken zu bringen."

"Ohne so viel Arbeit wären wir jetzt nicht hier, um zu zeigen, dass ein Rollstuhl keine Barriere ist", meint John Jairto Rojas, der motorische und sprachliche Probleme hat. Alfredo Briceño ist selbst nicht behindert, hat sich dem Chor aber aus künstlerischem Interesse und Kameradschaft angeschlossen. Briceño singt als Tenor, spielt außerdem Schlagzeug und bringt sich zudem als Animateur in die Gruppe ein.

Dass El Sistema international so viel Anerkennung erhält, ist vor allem dem 'Aushängeschild' der Bewegung, dem Simón-Bolívar-Orchester und seinem jungen Dirigenten Gustavo Dudamel zu verdanken, der inzwischen Musikdirektor des 'Los Angeles Philharmonic Orchestra' ist. Mit ihm und bekannten Solisten führten die Venezolaner die monumentale Achte Sinfonie von Gustav Mahler und weitere große Werke des Österreichers sowie eine Messe von Mozart auf.

Außer dem Simón-Bolívar-Orchester und dem Chor der Weißen Hände kamen sechs weitere Formationen von El Sistema nach Salzburg, darunter auch Kammerensembles. Damit konnten sich insgesamt rund 1.400 junge Musiker und Sänger bei den Festspielen präsentieren, die alljährlich zu den Höhepunkten des europäischen Musiksommers zählen. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.salzburgerfestspiele.at/konzert/el-sistema-2013
http://www.youtube.com/watch?v=Frh79ICkATs
http://www.youtube.com/watch?v=VTjfx2mp-XI
http://www.fesnojiv.gob.ve/
http://www.ipsnoticias.net/2013/08/venezuela-exhibe-en-salzburgo-la-fuerza-social-de-su-musica/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 9. August 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2013