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MEDIZIN/156: Hauptsache gesund? Standpunkte von Eltern behinderter Kinder (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 90 - 2. Quartal 2009
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Hauptsache gesund?

Von Prof. Dr. med. Holm Schneider


Eine aktuelle Studie aus England beleuchtet die Standpunkte von Eltern behinderter Kinder zu den Möglichkeiten vorgeburtlicher Diagnostik.


In vielen Ländern besteht für schwangere Frauen heute ein "flächendeckendes" Angebot an vorgeburtlichen Untersuchungen. Mehrere Ultraschalltermine und die Teilnahme an Screeningprogrammen sind zur Regel geworden, ab einem bestimmten Alter der Schwangeren auch Fruchtwasseruntersuchungen.

Dank vorgeburtlicher Kontrollen lassen sich Entwicklungsstörungen des ungeborenen Kindes, Fehlbildungen und auch Gefahren für die Gesundheit der Mutter frühzeitig erkennen. Mit einer vorfristigen Entbindung, einer Behandlung des Patienten im Mutterleib durch Blutübertragungen, Medikamente oder chirurgische Eingriffe, der Planung seiner Geburt in einer spezialisierten Klinik etc. stehen oft Möglichkeiten zur Verfügung, dem Ungeborenen medizinisch zu helfen. Vorgeburtliche Diagnostik wird jedoch nicht selten mit der vorauseilenden Aufklärung verbunden, dass die Schwangere, würden Normabweichungen entdeckt, sich für eine Abtreibung entscheiden könne. Paare, für die auch im Fall einer schweren Krankheit oder Behinderung ihres Kindes eine solche Option nicht in Frage käme, geraten dabei zunehmend unter Rechtfertigungsdruck.

"Choosing not to choose"

Nur in wenigen wissenschaftlichen Studien wurde bisher untersucht, wie Eltern behinderter Kinder mit diesem Problem umgehen. Neu und besonders interessant ist eine Studie der University of Exeter (Kelly, S.E.: Choosing not to choose: reproductive responses of parents of children with genetic conditions or impairments. Sociology of Health and Illness 2009; 31:81-97). Die Autorin hat 40 eingehende Interviews mit Eltern aus den USA ausgewertet, deren Kinder an einer genetisch bedingten Krankheit oder Behinderung leiden, darunter Kinder mit Down-Syndrom, Lesch-Nyhan-Syndrom und Neurofibromatose. Die Auswertung zeigte, dass die Mehrheit der Befragten nicht Reproduktionstechniken favorisierte, durch welche die Geburt eines weiteren betroffenen Kindes vermieden werden könnte, sondern dazu tendierte, einer durch vorgeburtliche Diagnostik herbeigeführten Entscheidungssituation auszuweichen. Mehr als zwei Drittel der Frauen im gebärfähigen Alter gaben an, wegen der genetischen Belastung auf weitere Kinder verzichten zu wollen. Unter jenen Eltern, die weitere Kinder bekamen, nutzte nur eine Minderheit die Möglichkeiten gezielter Pränataldiagnostik. Die meisten Eltern brachten zum Ausdruck, dass sie sich im Wiederholungsfall gegen den Abbruch der Schwangerschaft entscheiden würden, obwohl sie Abtreibung nicht grundsätzlich ablehnten. Sechs Familien hatten mehrere betroffene Kinder.

Diese Ergebnisse stehen im Gegensatz zur weit verbreiteten Wahrnehmung vorgeburtlicher Diagnostik als Mittel, Familien zu einem gesunden Kind zu verhelfen, d. h. zur Reduktion der mit einer Schwangerschaft verbundenen Risiken beizutragen. Generell geht ein so komplexer Vorgang wie die Entwicklung eines Organismus aus einer befruchteten Eizelle mit unzähligen Risiken einher - und trotz der gewaltigen Möglichkeiten, die der biomedizinische Fortschritt mit sich bringt, bleibt die technische "Machbarkeit" von gesunden Kindern eine Täuschung. Von Wissenschaftlern wurde dies bisher nur selten bestritten, nicht einmal von den Vorreitern der Biotechnologie, denn auch die moderne Biotechnologie ist weit davon entfernt, absolute Kontrolle über entwicklungsbiologische Prozesse zu erlangen. Als anschauliches Beispiel mag hier das Schicksal der Klon-Tiere dienen, von denen die meisten noch vor der Geburt versterben und keines sich normal entwickelt. Selbst das berühmte Klon-Schaf Dolly war mit sechs Jahren so krank, dass es getötet werden musste. Garantieren oder von Menschenhand erzeugen lässt sich Gesundheit also nicht, auch ihre Wiederherstellung gelingt nicht immer, und eine Selbstverständlichkeit wird sie nie sein.

Bezogen auf die Pränatalmedizin bedeutet das: Viele der mit einer Schwangerschaft verbundenen Unsicherheiten und Risiken gehören einfach zur menschlichen Fortpflanzung dazu und sind nicht eliminierbar. Bestenfalls lassen sich einzelne, konkrete Ängste mindern.

"Keiner von uns ist perfekt"

Angeborene Auffälligkeiten sind relativ häufig und genetische Besonderheiten, die zur Übertragung oder zum Ausbruch von Krankheiten führen können, trägt jeder Mensch in sich. Dies scheinen Eltern behinderter Kinder instinktiv zu erfassen."Keiner von uns ist perfekt", sagte eine der in der Studie befragten Mütter. Humangenetiker geben das bei jeder Schwangerschaft bestehende Basisrisiko für schwerere Fehlbildungen oder Behinderungen in der Allgemeinbevölkerung mit ca. drei Prozent an. Ein höheres individuelles Risiko trägt meist zur Beunruhigung des Paares bei und kann während der Schwangerschaft zu einer erheblichen psychischen Belastung werden. Gut verständlich ist deshalb der Wunsch, frühzeitig mehr über den gesundheitlichen Zustand des Kindes zu erfahren.

Aber auch das sicherste vorgeburtliche Wissen würde nicht alle Belastungen von der Schwangeren nehmen. Die aktuelle Studie von Susan Kelly zeigt, dass Pränataldiagnostik oft sogar das Gegenteil bewirkt: Für viele der befragten Eltern waren vorgeburtliche Interventionen wie z. B. ein Gentest mit zusätzlicher Unsicherheit verbunden und wurden als Verlust der Kontrolle über einen Bereich, in dem Dritte normalerweise keine Entscheidungen treffen, angesehen.

Die Erfahrung der Geburt eines behinderten Kindes hatte manchen Eltern vor allem die Grenzen der Medizin vor Augen geführt, während Alltagserfahrungen mit dem Kind offenbar das Bewusstsein stärkten, dass auch kranke und behinderte Menschen ihre Lebensumstände akzeptieren, sich sogar wohlfühlen und ihr Leben trotz Krankheit positiv gestalten können. Betroffene Eltern erklärten, dabei selbst Wichtiges gelernt zu haben. Dazu gehörte die Überzeugung, im Blick auf die bereits bewältigten Probleme auch noch größeren Herausforderungen gewachsen zu sein, sowie die Fähigkeit, die Stimme des Gewissens wahrzunehmen. Ein behindertes Kind zu lieben, es als zugehörig zur Familie zu erleben, hilft vielen Eltern zu verstehen, wie sehr es der menschlichen Liebe widerspricht, solches Leben willkürlich zu beseitigen.

Die persönlichen Erfahrungen der Eltern beeinflussten in hohem Maße ihre Standpunkte zu vorgeburtlicher Diagnostik. Eine Mutter mit bereits zwei kranken Söhnen, die während einer weiteren Schwangerschaft von ihrer Ärztin zur Fruchtwasseruntersuchung gedrängt wurde, lehnte diese mit den Worten ab: "Warum sollte man das Risiko eingehen, ihn (mit der Nadel) zu verletzen, wenn doch eine Blutprobe nach der Geburt für die Diagnose genügt?" Eine andere Mutter argumentierte, dass im Fall ihrer bewussten Entscheidung für ein weiteres Kind vorgeburtliche Tests mit dieser Entscheidung unvereinbar wären. Die Mehrzahl der befragten Eltern betrachtete pränatale Diagnostik als etwas, das Risiken eher in den Vordergrund schob als auflöste.

Viele Erbkrankheiten sind heute noch unheilbar. Ist eine solche Krankheit in der Familie bekannt, wird den Studiendaten zufolge die Option einer "Schwangerschaft auf Probe" meist nicht als hilfreich empfunden. Dies deckt sich mit eigenen Erfahrungen des Autors (H.S.) aus langjähriger ärztlicher Begleitung von Familien, die von schweren Erbkrankheiten betroffen sind. Die Entscheidung, einer moralisch hochproblematischen Entscheidungssituation von vornherein aus dem Weg zu gehen, wird von Susan Kelly als "Strategie verantwortlicher Elternschaft" gedeutet, welche die Ambivalenz gegenüber den Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin widerspiegelt.


IM PORTRAIT

Prof. Dr. med. Holm Schneider
Der Autor, Jahrgang 1969, arbeitet als Kinderarzt und Leiter der Abteilung für Molekulare Pädiatrie am Universitätsklinikum Erlangen. Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Vorgeburtliche Untersuchungen: Mehrere Ultraschalltermine und Screeningprogramme sind die Regel.
- Nicht Lebenswert? Kranke und behinderte Menschen können ihr Leben positiv gestalten.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 90, 2. Quartal 2009, S. 9 - 10
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2009