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MEDIZIN/166: Geistliche Begleitung für Menschen in Grenzsituationen (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel - Oktober 2009

Geistliche Begleitung für Menschen in Grenzsituationen
Wie gelingt die Kommunikation mit Koma-Patienten?

Von Heike Lepkojis


Frank Buchert hält ein Stofftier im Arm. Er liegt in seinem Bett und hat die Augen geschlossen. Er atmet gleichmäßig, sein Gesicht wirkt entspannt. Seit sechs Jahren lebt der Wachkoma-Patient in der Betheler Einrichtung Elim. Sechs Jahre, in denen seine Kinder groß geworden sind und sich die Welt verändert hat.


Wie viel er davon wahrnehmen kann, weiß niemand. Frank Buchert kann nicht reden, aber er kann mit seinen Augen Zeichen geben. "Und wenn ihm etwas nicht gefällt, dann brummt er", sagt Halina Kottsieper. Sie ist die Pflegedienstleiterin des Bereichs für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen in Elim. Täglich stehen sie und ihre Kollegen vor der Herausforderung, die Wünsche und Bedürfnisse von Patienten im Wachkoma zu erahnen. Wie groß aber der Unterschied ist zur Kommunikation mit Menschen, die tief sediert im Koma auf der Intensivstation liegen, hat Halina Kottsieper überrascht.

Sie war eine von 14 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Seminars "Die Intensivstation - Prozessorientierte Vorgehensweisen und geistliche Begleitung in vitalen Grenzsituationen", das im September im Haus der Stille in Bielefeld-Bethel stattfand. Veranstaltet wurde das Seminar vom Pastoralkolleg der Evangelischen Kirche von Westfalen, dem Westfälischen Konvent für Krankenhausseelsorge und dem Evangelischen Krankenhaus Bielefeld (EvKB).

Eine Woche lang setzten sich Theologinnen und Theologen, Mitarbeitende aus der Pflege und der Ärzteschaft damit auseinander, wie eine Verständigung mit Koma-Patienten gelingen kann und welche Rolle die Spiritualität spielt. Dabei standen nicht nur Diskussionen, Vorträge und Supervisionen auf dem Programm, sondern auch tägliche Besuche auf Intensivstationen. Fast alle Bielefelder Krankenhäuser hatten den Teilnehmenden ihre Türen geöffnet.


Zuspruch wichtig

Es sind rund 2.800 Patienten, die jedes Jahr auf den Intensivstationen des EvKB versorgt werden. Das Traumazentrum für die Behandlung von Patienten mit sehr schweren Verletzungen gehört zu den führenden in Europa. "Unser Prinzip ist, keinen Schwerstverletzten abzulehnen, denn mit jeder Minute, die vergeht, sinken die Überlebenschancen um rund ein Prozent", betonte Prof. Dr. Fritz Mertzlufft, Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv-, Notfall-, Transfusionsmedizin und Schmerztherapie. Die Arbeit auf den Intensivstationen sei geprägt von der Notwendigkeit, schnell zu handeln, dabei eine Hochleistungsmedizin zu erbringen und zugleich auf Kosten achten zu müssen. Für Menschen, die in diesem Spannungsfeld arbeiteten, sei die Seelsorge wichtig. "Man muss mit jemandem reden können und sagen dürfen, was man fühlt", so Prof. Mertzlufft. Ebenso brauchten die Patienten und ihre Angehörigen jemanden, der ihnen Zuwendung, Zuspruch und Hoffnung gebe, bestärkte der Mediziner die Seelsorger in ihrem Auftrag.

Dass Menschen, die im Koma liegen, diesen Zuspruch brauchen, wurde nicht immer so gesehen. "Früher ist man mit den Patienten nicht angemessen umgegangen. Inzwischen wissen wir, dass sie in einem rätselhaften Traumland leben", sagte Seminarleiter Pfarrer Peter Frör. Er war 20 Jahre lang als Seelsorger am Münchner Klinikum Großhadern tätig und hat viele Menschen erlebt, die ihm von ihren Albträumen im Koma berichtet haben: "Ein Mann sah sich im Schnee nackt auf ein Brett gefesselt. Er war umkreist von wilden Tieren, die ihn zerfleischen wollten. Nur sein treuer Hund hat ihn verteidigt." Anhand solcher Berichte ist Frör überzeugt, dass sich Koma-Patienten in einer archaischen Welt befinden, in der sich der Kampf ums Überleben spiegelt. "Aber es gibt eine Vernetzung zwischen dem Traumland und unserer Alltagswelt. Wir müssen da sein für diese Menschen. Wir müssen ihnen zeigen, dass ihre Signale bei uns ankommen. Vielleicht wird es dann leichter für sie, auf diese Welt zurückzukehren", so Pfarrer Frör.

Wie aber kann man die Signale erkennen? "Es geht nicht mit unserer üblichen Sprache", erklärte der Seminarleiter. "Es ist eine Sprache des Körpers. Es sind minimale Zeichen. Ein Zucken der Hände. Eine Bewegung der Augen unter den geschlossenen Lidern. Eine Veränderung des Atems. Man muss sich Zeit nehmen und genau beobachten."


Mut für Gebete

Halina Kottsieper hat sich die Zeit genommen. "Ich sollte Kontakt zu einem Mann bekommen, der im Koma lag", erzählte die Seminarteilnehmerin. "Ich habe zweimal bei ihm gesessen und keine Reaktion bemerkt. Am dritten Tag sprach ich ihn auf seine kalten Hände an. Ich habe sie umschlossen. Als ich ging, waren sie warm." Bei ihrem nächsten Besuch habe sie das Zeichen erneut bekommen. "Das ist anders als bei der Arbeit mit Wachkoma-Patienten in Elim. Bei uns reagieren die Menschen viel schneller und geben mit ihrer Mimik deutlichere Zeichen", berichtete Halina Kottsieper. Sie ist froh über die Erfahrungen, die sie auf der Intensivstation gemacht hat. "Ich verstehe jetzt besser, was Patienten durchgemacht haben, bevor sie zu uns nach Elim kamen." Auch in spiritueller Hinsicht fühlt sich Halina Kottsieper bestärkt. "Ich hatte eine Grenze. Meine Aufgabe ist die Pflege. Ich habe nie ein Gebet für einen Patienten gesprochen. Jetzt kann ich es."

Der Betheler Pastorin Nicole Frommann ist während des Seminars deutlich geworden, wie sehr Menschen, die tief sediert im Koma liegen, Beistand brauchen. "Wir Theologen überlegen meist erst einmal. Wir fragen uns, ob es dem Patienten überhaupt recht ist, wenn wir ihn besuchen. Aber diese Menschen kämpfen um ihr Überleben. Sie brauchen Gottes Hilfe. Deshalb müssen wir mit mehr Mut zur eigenen Aufgabe handeln: Psalmen sprechen, singen, beten und segnen. Dazu sind wir beauftragt."

Eine Kultur für spirituelle Abläufe gebe es auf Intensivstationen jedoch oft nicht, berichtet Pfarrer Frör. Es sei manchmal schon ein Problem, zwanzig Minuten mit einem Patienten allein zu verbringen oder eine Andacht für die Angehörigen zu gestalten. Aber Seelsorger müssten auch verstehen, wann es Zeit sei, sich in einen inneren Raum zurückzuziehen. "Wir können dort ein Gebet sprechen, während die Ärzte um das Überleben des Patienten kämpfen", sagt Pfarrer Frör. Wichtig sei, dass jeder die Arbeit des anderen achte und anerkenne.


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Quelle:
DER RING, Oktober 2009, S. 8-9
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2009