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MEDIZIN/171: Der vergessene Patient (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1 - März 2010

Der vergessene Patient

Von Kerstin Heidecke


Oft sind Krankenhäuser auf Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung schlecht vorbereitet. Ärzte und Krankenschwestern fehlt die Zeit, auf die besonderen Bedürfnisse behinderter Patienten einzugehen. Teilnehmer einer Tagung in Berlin forderten: Das muss endlich besser werden!


Nina war nicht willkommen. Das war den Eltern sofort klar. Schon an der Anmeldung des Krankenhauses begegnete man ihrer geistig behinderten Tochter mit Ablehnung. "Es war zu spüren, dass Ärzte und Pflegepersonal diese Patientin nicht wollten", erzählt der Vater. Als er später erklärte, seine erwachsene Tochter könne nur pürierte Nahrung zu sich nehmen, bot das Krankenhauspersonal an, Alete-Fläschchen zu besorgen - einen Pürierstab zum Zerkleinern des Mittagsmenüs habe man leider nicht. "Dabei ist Essen für Nina einer der wichtigen Punkte ihrer Lebensqualität", so der Vater. Er besorgte dann selbst einen Mixer und bereitete seiner Tochter das Essen.


Kein Einzelfall

Nina sei kein Einzelfall, sagen die Experten. Rund 100 Fachleute der Behindertenhilfe, Ärzte, Psychologen, Juristen, Eltern, Politiker, Vertreter der Krankenkassen und Sozialhilfeträger nahmen in Berlin am "Symposium Patientinnen und Patienten mit geistiger Behinderung im Krankenhaus - Problemlagen und Lösungsperspektiven" teil. Zu der Veranstaltung hatten Fachverbände der Behindertenhilfe, darunter auch die Lebenshilfe, eingeladen - unter anderem unterstützt von der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dem katholischen und dem evangelischen Krankenhausverband sowie der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation. Das große Interesse am Thema belegte der volle Saal in der Landesvertretung von Rheinland-Pfalz.

"Die Versorgung der Patienten mit geistiger Behinderung im Krankenhaus ist in vieler Hinsicht unzulänglich", musste Prof. Dr. Christoph Fuchs, Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer einräumen. Prof. Dr. Michael Seidel von den Bodelschwinghschen Anstalten Bethel berichtete von Problemen bei der Aufnahme, Kommunikations- und Pflegemängeln, fehlendem Personal, schlecht vorbereiteten und zu frühzeitigen Entlassungen der Patienten mit Behinderung aus dem Krankenhaus.

Erschütternd war der Vortrag von Prof. Dr. Wilhelm Schnepp von der Privaten Universität Witten/Herdecke. Er stellte Ergebnisse der FORSEA-Studie vor und zitierte Aussagen und Erlebnisse der geistig oder mehrfach behinderten Patienten. Sie fühlten sich im Krankenhaus "verloren", hatten mehrere von ihnen in der Befragung angegeben. Eine erblindete Patientin hatte - unbemerkt vom Personal - drei Tage keine Nahrung zu sich genommen; man hatte nicht von ihrer Beeinträchtigung gewusst. Eine andere Patientin bekam keine Hilfe für den Gang zur Toilette, so dass sie mit ihren Ausscheidungen stundenlang im Bett lag. "Das Entwürdigendste, was mir je passiert ist", heißt es in der Studie.


Auf Effizienz programmiert

Ursache der unzureichenden Versorgungsqualität sind nicht nur Defizite in der Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Pflegepersonal, die nur selten vorbereitet sind auf den Umgang mit geistig behinderten Patienten. "Krankenhäuser sind auf Effizienz und reibungslose Abläufe programmiert", so Christoph Schmidt aus der Klinik Mara II in Bielefeld.

So würden erwachsene behinderte Patienten nicht selten auf Kinderstationen versorgt, häufig fixiert oder mit Medikamenten ruhig gestellt und zu oft ohne Not künstlich ernährt. "Nicht kooperativ" heißt es schnell über den geistig behinderten Patienten, über den vielleicht nur ein paar Informationen fehlen - wie etwa, dass er zum Essen immer eine bestimmte Musik hören möchte, oder dass er ein Einschlafritual gewöhnt ist. Kein Wunder, dass behinderte Patienten sogar vorhandene Kompetenzen im Krankenhaus verlieren, dass sie sich etwa wieder einnässen.


Das System hat viele Kritiker

Ein Patient mit geistiger Behinderung benötigt oft mehr Zeit, findet vielleicht nicht allein den Weg in die Röntgenabteilung. Die Untersuchung kann länger dauern, wenn ein Patient verängstigt ist oder sich nicht verbal ausdrücken kann, und auch die Dauer eines Krankenhausaufenthaltes liegt über dem Durchschnitt. Doch wie erfasst und vergütet man den höheren "behinderungsbedingten Mehraufwand"? Und wer tritt für die Kosten ein? Da geht es um Diagnosen von Behinderungen, Krankheiten und "ressourcenrelevante" Nebenerkrankungen, und um die Tücken der sogenannten "Diagnosebezogenen Fallgruppen". Das DRG-System (von Diagnosis Related Groups) ist das Klassifikationssystem, mit dem Patienten anhand ihrer Diagnosen und der durchgeführten Behandlungen in Fallgruppen eingeteilt werden. Damit soll die Finanzierung von Krankenhausbehandlungen gesichert werden. Doch das System hat viele Kritiker und ist für Eltern und Patienten kaum durchschaubar. Für sie zählt eine gute medizinische Versorgung. Ihnen nützt es auch wenig, "wenn ein Kostenträger die Verantwortung auf den anderen schiebt", wie eine Mutter kritisierte.

Wolfgang Zöller, Patientenbeauftragter der Bundesregierung, kann die Kritik verstehen: "Man versucht alles unter Fallpauschalen zu erfassen, aber das wird behinderten Patienten nicht gerecht."

Sein Kollege Hubert Hüppe, der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, forderte in der Diskussion die Eltern auf, sich an ihn zu wenden, wenn sie mit ihrem behinderten Kind von Krankenhäusern abgewiesen oder nicht zufriedenstellend versorgt werden.

Prof. Dr. Jeanne Nicklas-Faust, stellvertretende Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, appellierte in ihrer Zusammenfassung an alle Akteure ihre Verantwortung zu erkennen, an Verbesserungen zu arbeiten, sich untereinander zu vernetzen. "Gefragt sind wir alle, Krankenhäuser, Ärzte, Angehörige, Mitarbeiter in der Rehindertenhilfe. Wir müssen dicke Bretter bohren. Denn Menschen mit schwerer Behinderung und ein auf Effizienz ausgerichtetes Krankenhaussystem passen eigentlich nicht zusammen."


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1/2010, 31. Jg., März 2010, S. 9
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. April 2010