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POLITIK/468: Koalitionsvertrag - UN-Konvention ist der Maßstab (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 4 - Dezember 2009

UN-Konvention ist der Maßstab
Welche Auswirkungen hat der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP?

Von Klaus Lachwitz


Gut ist, dass die neue Regierung in Deutschland ihre Entscheidungen immer an den Zielen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ausrichten will. Das heißt: Behinderte Menschen dürfen auf keinen Fall ausgegrenzt und benachteiligt werden. Schlecht ist, dass alle Vorhaben unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Das heißt: Deutschland hat hohe Schulden, und die Regierung kann deshalb nur wenig Geld ausgeben.


Die finanziellen Rahmenbedingungen zur Gestaltung der Sozialpolitik sind eng. Stellungnahmen des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble lassen erkennen, dass bei Fortdauer der Wirtschaftskrise nicht nur der im Koalitionsvertrag vereinbarte Finanzierungsvorbehalt geltend gemacht wird, sondern möglicherweise auch Sparmaßnahmen ergriffen werden. Die Sozialpolitik bleibt aber in nationaler Verantwortung: "Grenzüberschreitende EU-Sozialsysteme" werden abgelehnt, "denn nur so kann der hohe deutsche Standard gewahrt werden".


Umsetzung der UN-Konvention

Union und FDP wollen "einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen entwickeln". Sie erklären, dass sich politische Entscheidungen, die Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt betreffen, an den Inhalten des Übereinkommens der Vereinten Nationen messen lassen müssen. Die Behindertenrechtskonvention ist damit nicht nur der Maßstab für die klassischen Politikfelder des Behindertenrechts wie z. B. die Eingliederungshilfe, die Pflegeversicherung oder das Betreuungsrecht, sondern auch für die gesamte Sozialgesetzgebung, das Familienrecht oder das Steuerrecht. Inklusion in allen Lebensbereichen, selbstbestimmte Lebensführung mitten in der Gesellschaft und die Anerkennung behinderter Menschen unabhängig von der Ursache und dem Schweregrad der Behinderung als vollwertige Bürger ihres Landes müssen deshalb im Mittelpunkt künftiger Reformvorhaben stehen. Diese Aufgabenstellung ist so vielfältig und anspruchsvoll, dass die Ankündigung eines Aktionsplans zu begrüßen ist.

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe fordert in diesem Zusammenhang, dass ein nationaler Rat oder eine Kommission eingesetzt wird, der bzw. die den Umsetzungsprozess begleitet.


Leistungen für behinderte Menschen

Der Koalitionsvertrag enthält im Kapitel über Menschen mit Behinderungen keinerlei Hinweise auf zukünftige sozialrechtlichen Leistungen. Die im Behindertenbericht der alten Regierung angekündigte Reform der Eingliederungshilfe ist von CDU/CSU und FDP nicht berücksichtigt worden.

Ob es trotzdem zu einer Reform kommt, ist deshalb ungewiss und wird insbesondere davon abhängen, inwieweit sich die Bundesländer in ihrer Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) auf Eckpunkte zur Weiterentwicklung der Sozialhilfe verständigen können und einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundesrat einbringen werden. Bei allen Überlegungen zur Reform der Eingliederungshilfe sollte immer das Bekenntnis der Regierungskoalition beachtet werden, dass sich politische Entscheidungen, die Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt betreffen, an den Inhalten der Behindertenrechtskonvention messen lassen müssen.

Werden die Schnittstellen der Eingliederungshilfe zur Jugendhilfe und zur Pflegeversicherung bzw. zur Hilfe zur Pflege vom Gesetzgeber neu geregelt, bevor die Eingliederungshilfe reformiert wird, ist nicht auszuschließen, dass möglicherweise eine Schwächung der Eingliederungshilfe eintritt. Deshalb muss darauf hingewirkt werden, dass die Bundesregierung ein Gesamtkonzept entwickelt, das eine Benachteiligung einzelner gesellschaftlicher Gruppen aufgrund nicht oder nur unzureichend abgestimmter Gesetzesvorlagen verhindert.

Zu kritisieren ist, dass in der Koalitionsvereinbarung das Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (Teilhabe und Rehabilitation - SGB IX) mit keinem Wort thematisiert wird, obwohl bekannt ist, dass dieses Gesetz teilweise nicht oder nur unzureichend umgesetzt wird (Beispiel: die Einführung von Komplexleistungen bei der Frühförderung) bzw. einzelne Vorschriften des SGB IX in der Praxis nicht greifen und deshalb präzisiert werden müssen.


Sozial- und Familienpolitik

Ein Konzept zur Weiterentwicklung sozialpolitischer familienbezogener Leistungen ist im Koalitionsvertrag nicht zu erkennen. Einerseits wird eine Zusammenfassung und Harmonisierung von Leistungen angestrebt, andererseits wird der vorhandene Flickenteppich von Einzelleistungen ergänzt. Ob sich unter diesen Voraussetzungen das FDP-Konzept eines Bürgergeldes für alle (siehe LHZ 3/2009, Seite 5) durchsetzen lässt, ist zweifelhaft. Sollte es in, dieser Legislaturperiode tatsächlich zu einem ernsthaften Versuch kommen, das System sozialer und familienbezogener Leistungen zu vereinfachen, könnte es angebracht sein, die in der vergangenen Legislaturperiode von zahlreichen Verbänden unterstützte Forderung nach Einführung eines Teilhabegeldes für Menschen mit Behinderungen zu reaktivieren. Der dazu vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge entwickelte Vorschlag sieht vor, mehrere Einzelleistungen, die behinderte Menschen nach Maßgabe unterschiedlicher Gesetze erhalten, zu einem Teilhabegeld zusammenzuführen.


Gesundheitswesen

CDU/CSU und FDP haben sich im Verlauf der Koalitionsverhandlungen nicht darauf verständigen können, wie die Finanzierung des Krankenversicherungsschutzes weiterentwickelt werden soll. Es soll deshalb zu Beginn der Legislaturperiode eine Regierungskommission eingesetzt werden, die die notwendigen Schritte festlegt.

Solange diese Kommission keine konkreten Reformvorschläge vorlegt, ist nicht mit wesentlichen Änderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) zu rechnen. Aus Sicht der Bundesvereinigung Lebenshilfe besteht an zwei Stellen besonderer Änderungsbedarf: Zum einen ist die Rechtsprechung zur häuslichen Krankenpflege (§ 37 SGB V) so unklar und widersprüchlich, dass der Gesetzgeber nachbessern muss. Zum anderen hat das von SPD und FDP regierte Rheinland-Pfalz kurz vor Ablauf der alten Legislaturperiode einen Gesetzesantrag in den Bundesrat eingebracht, der darauf zielt, behinderte Menschen, die nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, Sehhilfen, weitere Hilfsmittel und anderes aus ihrem Barbetrag (Taschengeld) finanzieren müssen, von entsprechenden Zahlungsverpflichtungen zu befreien. Wir unterstützen diese Initiative sehr, von der jedoch alle Menschen mit geistiger Behinderung profitieren sollten, die ihren Lebensunterhalt von Grundsicherung bestreiten müssen.

Das in der Koalitionsvereinbarung angekündigte Patientenschutzgesetz ist insbesondere aus der Sicht chronisch kranker Menschen, zu denen auch viele Personen mit geistiger und/oder mehrfacher Behinderung zählen, sehr zu begrüßen. Bei der Erarbeitung eines entsprechenden Gesetzentwurfs sollte allerdings darauf geachtet werden, dass die Interessen von Menschen mit geistiger Behinderung im gemeinsamen Bundesausschuss und anderen Gremien, die sich mit Fragen des Patientenschutzes befassen, durch Personen ihres Vertrauens vertreten werden.


Alter und Pflege

Die planmäßige Ermordung von zigtausenden geistig behinderten Menschen während der Herrschaft der Nationalsozialisten hat dazu geführt, dass Deutschland erst heute - mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - mit der Frage konfrontiert ist, welche Unterstützung Menschen mit geistiger Behinderung im Alter benötigen. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe wird sich deshalb an den Überlegungen der Koalition zur Entwicklung einer Demographiestrategie aktiv beteiligen und einfordern, in entsprechenden Gremien und Ausschüssen berücksichtigt zu werden.

Die im Koalitionsvertrag in Aussicht gestellte Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs wird sich auch auf Menschen mit geistiger Behinderung auswirken, denn nicht nur Demenzkranke, sondern auch Menschen mit geistiger Behinderung sind häufig in ihrer Alltagskompetenz eingeschränkt. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe wird deshalb darauf achten, rechtzeitig in die Vorbereitung einer Reform der Pflegeversicherung eingebunden zu werden.

Pflegebedürftige Menschen sollen nach den Planungen der Koalitionsparteien verstärkt die Möglichkeit haben, zwischen Sachleistungen und Geldleistungen wählen zu dürfen. Dies käme insbesondere den Menschen entgegen, die - wie viele Menschen mit geistiger Behinderung - sowohl auf Leistungen der Eingliederungshilfe als auch auf Leistungen der Pflege angewiesen sind und ihre Leistungsansprüche auf Antrag in der Form von Persönlichen Budgets geltend machen wollen.


Zivildienst und Freiwilligendienste

Die Regierungskoalition will den Wehrdienst bis 2011 von neun auf sechs Monate reduzieren. Zum Zivildienst wird lediglich ausgeführt: "Die künftige Struktur der Wehrpflicht wird sich im Zivildienst widerspiegeln, der Dienstleistungen der sozialen Einrichtungen weiter sichern hilft." Offensichtlich sind die negativen Auswirkungen der kürzeren Wehrdienstzeit auf die Dauer des Zivildienstes in den Beratungsgesprächen zum Koalitionsvertrag nicht bedacht worden. Vor allem Einrichtungen und Dienste der Alten- und Behindertenhilfe müssen die Folgen mit ihrem hauptamtlichen Personal auffangen, wenn sie vermeiden wollen, dass die Qualität der Betreuung leidet.

Die Vergütungen, die den Einrichtungen und Diensten von den Leistungsträgern (Pflegekassen, Eingliederungshilfe u. a.) gezahlt werden, sind knapp kalkuliert und lassen den Leistungserbringern keine Spielräume. Es drohen deshalb Konflikte, die möglicherweise zu Lasten pflegebedürftiger und behinderter Menschen ausgetragen werden. Dies muss verhindert werden. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe fordert deshalb, dass die Politik nach Auswegen sucht, z. B. indem sie Zivildienstleistenden die Möglichkeit einräumt, direkt im Anschluss an den Zivildienst Freiwilligendienste wie ein Freiwilliges Soziales Jahr unter Anrechnung der Zivildienstzeit zu absolvieren und dies in gleicher Weise finanziert wie den Zivildienst. Selbstverständlich hat dies auch für das von der Lebenshilfe bundesweit angebotene Berufsvorbereitende Soziale Jahr (BSJ) zu gelten.


Ethik und Behinderung

Ethische Fragen werden im Koalitionsvertrag nur vereinzelt und an unterschiedlichen Stellen erwähnt. Union und FDP wollen im Bereich der Biomedizin einerseits die Forschung ausweiten, andererseits aber auch ethische und rechtliche Grenzen beachten. Das daraus entstehende Spannungsverhältnis durchzieht den Koalitionsvertrag wie ein roter Faden. Wie schon in den vergangenen Jahren wird die Bundesvereinigung Lebenshilfe darauf achten, dass die Forschungsfreiheit nicht dazu missbraucht wird, behindertes Leben als Makel und Defizit anzusehen, das es zu vermeiden bzw. zu beseitigen gilt. Dem Wächteramt der Lebenshilfe kommt deshalb weiter große Bedeutung zu.


Gesellschaftspolitische Ziele

Die Koalition will das bürgerschaftliche Engagement fördern. Es soll deshalb eine nationale Engagementstrategie auf der Grundlage eines Gesetzes zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements entwickelt und zusammen mit einem nationalen Forum für Engagement und Partizipation umgesetzt werden. Seit vielen Jahrzehnten ist die Lebenshilfe geradezu ein Musterbeispiel für ehrenamtliches Engagement. Sie kann daher selbstbewusst darauf hinweisen, dass ein Gesetz zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements nur Erfolg haben wird, wenn es gemeinsam mit den Verbänden und Selbsthilfegruppen behinderter Menschen entwickelt wird.


Mehr im Rechtsdienst 4/2009


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 4/2009, 30. Jg., Dezember 2009, S. 15
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2009