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PROJEKT/606: Grenzenlos diakonisch (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - April 2010

FHdD-Hochschultag in Bethel
Grenzenlos diakonisch

Von Gunnar Kreutner


Otjivero ist ein kleines Dorf etwa 100 Kilometer östlich von der namibischen Hauptstadt Windhoek. Zwei Jahre lang war die 1.000-Seelen-Gemeinde Mittelpunkt eines Pilotprojekts verschiedener Hilfs- und Kirchenorganisationen, darunter die Vereinte Evangelische Mission (VEM), Brot für die Welt sowie die Evangelischen Kirchen von Westfalen und im Rheinland. Sie erprobten gemeinsam mit dem Dorf das sogenannte "bedingungslose Grundeinkommen".


Bei dem Otjivero-Projekt ging es um die Frage, ob es sinnvoll ist, armen Menschen Geld zur freien Verfügung direkt in die Hand zu geben, damit sie sich selbst helfen können. "Und das Projekt belegte eindrucksvoll, dass sie - entgegen vieler anderer Einschätzungen - durchaus mit Geld umgehen können und sich selbst am sinnvollsten aus ihrer Situation befreien und zur Selbsthilfe befähigen", berichtete VEM-Referentin Angelika Veddeler Ende März beim Hochschultag "Der Blick über den Tellerrand - internationale Diakonie" in Bielefeld-Bethel.

Während des Symposiums im Assapheum wurden in Workshops erfolgreiche Modelle vorgestellt und diskutiert, mit denen die internationale Diakonie den Herausforderungen in der globalisierten Welt begegnet. Im Mittelpunkt standen aktuelle Projekte diakonischer Gesundheits- und Sozialarbeit. Veranstaltet wurde der Hochschultag von der Fachhochschule der Diakonie (FHdD) zusammen mit ihren Kooperationspartnern Brot für die Welt und VEM.


Projekt Namibia

In dem Projekt in Namibia erhielt jeder Mensch in Otjivero einmal im Monat 100 Namibia-Dollar, umgerechnet etwa neun Euro. Dieses "bedingungslose Grundeinkommen" oder "Basic Income Grant" (BIG) bekamen alle Dorfbewohner - zwei Jahre lang und ohne Vorbedingungen, egal ob Kleinkind oder Erwachsener.

Bereits ein Jahr nach Beginn des Projekts, das unter der Schirmherrschaft des namibischen Bischofs Zephania Kameeta durchgeführt wurde, war die Zahl der Arbeitslosen in Otjivero deutlich gesunken und die Einkommen durch Lohnarbeit um 27 Prozent gestiegen. Fünfmal so viele Menschen wie zuvor bezahlten das Schulgeld, und die Zahl der Dorfbewohner, die zur Behandlung in eine Klinik gehen, hatte zugenommen. "Leider tut sich die Regierung in Namibia trotz dieser positiven Ergebnisse schwer damit, das Modell nun umzusetzen", kritisierte Angelika Veddeler, die das VEM-Programm Internationale Diakonie leitet.

Das BIG-Projekt ist nur eines von vielen erfolgreichen Beispielen, die den rund 140 Teilnehmenden des Hochschultags - zur Hälfte Studierende der FHdD - präsentiert wurden. Zu Gast war auch Jorge Gerhard, Pfarrer der Evangelischen Kirche am La Plata, einer "Dreiländerkirche", die in Uruguay, Argentinien und Paraguay vertreten ist. Jorge Gerhard ist Leiter der Diakonieabteilung am La Plata. Er stellte ein bereits etabliertes Projekt für die integrale Bildungsarbeit mit Jugendlichen vor, das von Brot für die Welt gefördert wird.

In den Armenvierteln der Großstädte in Uruguay und Argentinien, insbesondere in Montevideo und Buenos Aires, hat die La-Plata-Kirche kleine Zentren errichtet, die jeweils bis zu 20 armen Jugendlichen eine Alternative zur Straße bieten. Teams aus Erziehern, Sozialarbeitern, Sozialpädagogen und freiwilligen Mitarbeitenden helfen ihnen, eine Zukunftsperspektive zu entwickeln. "Diese Teenager sind aufgrund ihrer armen Verhältnisse durch das Schulsystem gefallen. Damit sie überhaupt wieder eine Chance haben, in das Bildungssystem zurückzukehren oder eine Arbeit zu finden, müssen wir sie von innen wieder aufbauen. Mit unseren Angeboten steigern wir ihr Selbstwertgefühl und assistieren ihnen in ihrem schwierigen Alltag", erläuterte Jorge Gerhard.


Hilfe am La Plata

In Uruguay gehen rund 15 Prozent der Jugendlichen weder zur Schule noch arbeiten sie; in Argentinien sind es fast genauso viele, In den Kirchen-Zentren besuchen die Jugendlichen alternativen Schulunterricht und arbeiten in kleinen Werkstätten. Sie nehmen an berufsbildenden Kursen teil, zum Beispiel in den Gruppen Bäckerei, Schreinerwerkstatt oder Frisör. Auch Kurse für bildende Künste mit Theaterspiel, Glasgießen und Manga-Musik werden angeboten. Wichtig sind auch sogenannte "Reflexionskurse". "In unserer Gruppe junger Frauen geht es um Gender, Sucht, Menschenrechte und integrale Gesundheit", so Jorge Gerhard. In den Sport- und Freizeitangeboten lernen insbesondere die jungen Männer gewaltfrei miteinander umzugehen und gemeinsam demokratische Entscheidungen zu treffen.

Hochschultag-Organisatorin Prof. Dr. Hilke Bertelsmann, Pro-Rektorin der FHdD, lenkte den Blick nach Indien. In ihrem Workshop "Aufbau eines Gesundheitssystems - Finanzierung durch Mikrokredite?" stellte sie das erfolgreiche Modell der Mikroversicherungen vor. Diese ermöglichen besonders der armen Landbevölkerung eine soziale Grundsicherung.

In Indien fällt jeder vierte Krankenhauspatient durch die Behandlungskosten unter die Armutsgrenze. Die Sicherheit der Familien hängt ausschließlich von der eigenen Gesundheit und Arbeitskraft ab. Unfälle und Krankheiten gefährden ihre Existenz. Aufgrund der hohen Kosten haben viele arme Menschen keinen Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen und den klassischen Versicherungsunternehmen. "Mit eigenen genossenschaftlichen Mikroversicherungen schaffen es kleinere Gemeinschaften, sich selbst zu versichern", informierte Prof. Dr. Hilke Bertelsmann.

Die Gesundheitswissenschaftlerin veranschaulichte das Mikroversicherungssystem am Beispiel eines kleinen indischen Dorfes, in dem alle Bewohner in einen Topf einzahlen. Aus ihm werden im Krankheitsfall eines Versicherungsnehmers die Behandlungskosten gezahlt. "Das ist eine gute Idee, um Gemeinschaften nachhaltig aus der Armut zu helfen. Und das Modell ist auch in anderen Ländern sehr gut anwendbar", ist Prof. Bertelsmann überzeugt.


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Quelle:
DER RING, April 2010, S. 16-17
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2010