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RECHT/644: Mobilität ist ein elementares Grundbedürfnis (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 1/2009

RECHT & SOZIALES
Mobilität ist elementares Grundbedürfnis
Gericht entscheidet für Soft-Orthese

Von Peter Brünsing


Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat entschieden, dass die Gesetzliche Krankenkasse zum Ausgleich einer Behinderung entsprechende Hilfsmittel gewähren müsse.


Bei der Entscheidung ging es um ein behindertes Mädchen, das wegen einer spastischen Lähmung nicht eigenständig gehen kann. Um Stehversuche und erste Schritte zu ermöglichen, wurden dem Mädchen dynamische Soft-Orthesen verordnet, die aus elastischem Material gefertigt werden und laut Produktbeschreibung wie eine zweite Haut an dem jeweiligen Körperteil anliegen. Durch den so ausgelösten Druck auf die unterschiedlichsten Rezeptoren an der Haut, im Unterhautgewebe und in der Muskulatur werde die Wahrnehmung z. B. des Armes, des Beines oder des Rumpfes verbessert. Auch das Stehen werde mit dieser Spezialorthese verbessert.

Die beklagte Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme ab und bot stattdessen an, die Kosten für eine starre Orthese aus Carbonfasermaterial zu übernehmen. Die Krankenkasse begründete dies damit, dass es sich bei der dynamischen Soft-Orthese um ein neues Hilfsmittel handele, für das der Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit noch nicht erbracht sei. Auch sei für ein solches Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis keine entsprechende Produktgruppe vorgegeben. Zu positiven Veröffentlichungen hinsichtlich der Verwendung dieser Orthesen führte die vom MDK bestellte Orthopädin in ihrer Stellungnahme aus, die vorgelegten Veröffentlichungen stellten keinen wissenschaftlichen Beleg für die Wirksamkeit des beantragten Hilfsmittels dar. Es handele sich um eine reine Fallbeobachtung an 15 Kindern bzw. an 15 Erwachsenen. Eine Kostenübernahme für diese Orthese könne nicht empfohlen werden, da die Wirksamkeit nach § 139 Abs. 2 SGB V nicht erbracht sei. Gegen den ablehnenden Bescheid erhob die Mutter als gesetzliche Vertreterin Klage.

Das Sozialgericht (SG) holte daraufhin Befundberichte der behandelnden Ärzte ein. Daraus ergab sich, dass durch die Soft-Orthese das Steh- und Gehverhalten der Klägerin stabilisiert und verbessert worden sei, da sie ohne fremde Hilfe nicht stehen oder laufen könne. Wetter wurde in den Stellungnahmen festgestellt, dass die Aufrichtung und ein an die Mutter gelehntes Gehen mit dieser Orthese möglich seien. Die Mobilisation sei damit zunehmend fortschreitend. Weiter wurde festgestellt, dass durchaus die Chance bestehe, dass die Klägerin durch das streitige Hilfsmittel allmählich zum selbstständigen Laufen komme, zumindest aber vermieden werde, dass sie überwiegend an den Rollstuhl gebunden sei. Nach Beweiserhebung durch Einholung eines fachorthopädischen Gutachtens gab das SG schließlich der Klage statt und verurteilte die beklagte Krankenversicherung der Klägerin, die Kosten für die Soft-Orthese zu erstatten. Die dagegen eingelegte Berufung durch die Krankenkasse blieb erfolglos.

Das Hessische LSG schloss sich der Entscheidung der Vorinstanz an. Dabei stützt es sich u. a. auf das Gutachten, das die Vorinstanz in Auftrag gegeben hatte, in dem gegen die Beurteilung des MDK festgestellt wurde, dass die Versorgung mit der Soft-Orthese zu einer Verbesserung der Situation des Mädchens geführt habe. Das Gericht kommt auf der Basis dieses Gutachtens zu dem Schluss, dass die Gesundheitssituation der Klägerin eine Hilfsmittelversorgung im Bereich des Beckens und der Beine, abgesehen von der bereits erfolgten Versorgung von Füßen und Unterschenkeln, zwingend notwendig mache. Das streitgegenständliche Hilfsmittel solle eingesetzt werden, um einen teilweisen Ausgleich der Behinderungserscheinungen zu erreichen, welche die Klägerin am eigenständigen Gehen und Stehen hindern. Mobilität gehöre zu den elementaren Grundbedürfnissen des täglichen Lebens, die dem von der Gesetzlichen Krankenversicherung zu leistenden Behinderungsausgleich unterliegen.

Für Kinder und Heranwachsende komme es darauf an, durch die Hilfsmittelversorgung dafür Sorge zu tragen, dass sie sich einen gewissen körperlichen Freiraum gefahrlos erschließen können. Bei der Klägerin sei es zunächst darum gegangen, die Grundfertigkeiten des Stehens und wenige Schritte Gehens unter Hilfsmitteleinsatz zu eröffnen. Dazu habe es der Hilfsmittelversorgung bedurft. Die erforderliche Unterstützung der eingeschränkt funktionstüchtigen Körperteile habe die Soft-Orthese zu leisten vermocht, dies habe der gerichtliche Sachverständige ebenso dargelegt wie die Kinderärztin. Darüber hinaus liege der Vorteil der Soft-Orthese darin, dass sie leichter anzuziehen und leichter zu handhaben sei, als eine mehr einschränkende Orthese, die als Alternative in Betracht käme.

Die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen und die Darlegungen der behandelnden ärzte hätten allesamt bestätigt, dass die Soft-Orthese im Falle der Klägerin wesentlich zur Herbeiführung einer äußerlichen Stabilisierung, einer Verbesserung der gesundheitlichen Situation beigetragen habe. Dementsprechend sei von ihnen das streitige Hilfsmittel für die Versorgung der Klägerin als geeignet und notwendig eingestuft worden.

Das Gericht kommt damit zu dem Ergebnis, dass die streitige Soft-Orthese nach ihrer Gattung als Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich eingestuft werden könne, welches ebenfalls die Grundfunktionen leiste, welche herkömmlichen Orthesen eigen sei. Dass die Orthese im Hilfsmittelverzeichnis der Spitzenverbände der Krankenkassen bislang keine Aufnahme gefunden habe, stehe einem Versorgungsanspruch der Klägerin nicht entgegen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts habe das Hilfsmittelverzeichnis nicht die Aufgabe, abschließend als Positivliste darüber zu befinden, welche Hilfsmittel der Versicherte im Rahmen der Krankenbehandlung beanspruchen könne. Es stelle für die Gerichte nur eine unverbindliche Anslegungshilfe dar. Dass die beanspruchte Soft-Orthese geeignet und erforderlich war, die bei der Klägerin bestehenden behinderungsbedingten Funktionsverluste auszugleichen, ergebe sich ganz klar aus dem gerichtlichen Sachverständigengutachten und den Stellungnahmen der behandelnden Ärzte und sei des weiteren in dem Urteil des SG überzeugend dargelegt wurden. Das Gericht habe auch keinen Zweifel daran, dass dieses Hilfsmittel für den erstrebten Zweck angemessen sei.

Soweit § 139 Abs. 2 SGB V für die Aufnahme von Hilfsmitteln in das Hilfsmittelverzeichnis den Nachweis eines therapeutischen Nutzens verlange, bedeute dies nicht, dass für Hilfsmittel jeglicher Art auch die Ergebnisse klinischer Prüfung vorgelegt werden müssten. Bei Hilfsmitteln zum bloßen Behinderungsausgleich sei der Nachweis eines therapeutischen Nutzens, der über die Funktionstauglichkeit zum Ausgleich der Behinderung hinausgehe, schon von der Zielrichtung des Hilfsmittels nicht geboten und in der Regel auch nicht möglich. Deshalb sei es zulässig, sich zum Nachweis der Vorzüge eines derartigen Hilfsmittels auf Gutachter, ihr ärztliches Erfahrungswissen und die von ihnen ausgewertete Fachliteratur zu stützen, während es weitergehender klinischer Prüfung nicht bedürfe. Die Entscheidung des LSG Hessen vom 19. Juni 2008 trägt das AZ: L 8 KR 69/07.


Der Autor Peter Brünsing ist Leiter des Referats Recht und Justiziar der BAG SELBSTHILFE.


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Quelle:
Selbsthilfe 1/2009, S. 24-25
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2009