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RECHT/669: Mehr Rechte für Hörgeschädigte (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 3/2010

LEISTUNGEN DER KRANKENKASSE
Mehr Rechte für Hörgeschädigte

Von Peter Brünsing


Das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden, dass Krankenkassen (KK) künftig digitale Hörgeräte im vollen Umfang bezahlen müssen, wenn die medizinische Notwendigkeit klar gegeben ist. Damit können hörbehinderte Menschen eine bessere Hörgeräte-Versorgung von den KK beanspruchen, Die KK dürfen sich nicht darauf zurückziehen, unzureichende Festbeträge für digitale Hörgeräte zu bezahlen.


Der Entscheidung des 3. Senats lag die Klage eines Mannes zugrunde, der gesetzlich krankenversichert ist, seit seiner Geburt an hochgradiger Schwerhörigkeit leidet und nach ärztlicher Einschätzung inzwischen praktisch ertaubt ist. Der Kläger beantragte zum Ersatz seiner alten Hörhilfe von der KK vor Aufnahme seines Studiums die Versorgung mit einem digitalen Hörgerät und legte dazu eine ohrenärztliche Verordnung für eine neue Hörhilfe sowie den Kostenvoranschlag eines Hörgeräteakustikers vor. Grundlage war eine durchgeführte Anpassung, bei der vier Geräte unter Einschluss eines zuzahlungsfreien Hörgerätes getestet wurden. Davon schloss der Mann zwei wegen auftretender Rückkopplungen aus und entschied sich dann für ein Gerät, das ihm nach eigener Darstellung eine bessere Verständlichkeit und ein angenehmeres Klangbild bot. Die beklagte KK bewilligte nach Beteiligung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) die Übernahme der Kosten für die Hörgeräteversorgung zum Kassensatz für die "Gruppe 3" nach Maßgabe der für den Wohnsitz des Klägers geltenden Festbeträge. Das heißt, sie übernahm von den Gesamtkosten in Höhe von 4.162,06 Euro einen Teilbetrag von 987,31 Euro, den sie an den Hörgeräteakustiker zahlte.

Auf Antrag des Klägers lehnte sie es ab, die von ihm nach Rechnung des Hörgeräteakustikers bei Abzug eines Rabattes getragenen weiteren Kosten in Höhe von 3.073 Euro zu erstatten.

Das vom Kläger dagegen angerufene Sozialgericht (SG) hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens u.a. zu der Frage, ob die Versorgung des Klägers mit einem Festbetragshörgerät objektiv ausreiche. Der Sachverständige kam zu der Einschätzung, dass die geringen, beim Kläger noch vorhandenen Hörreste eine große Verstärkerleistung erfordern, was mit prinzipiell nicht vermeidbaren Rückkopplungseffekten einhergehe, die die Hörgerätewirkung zunichte machen könnten. Die Lösungsansätze dafür seien signifikant unterschiedlich: Analoge Geräte könnten Rückkopplungseffekte nur unvollkommen unterdrücken, was für höher- und hochgradig Schwerhörige zu großen Problemen führe. Auch digitale Festpreisgeräte hätten teilweise keinen oder nur einen fragmentarischen Mechanismus zur Rückkopplungsunterdrückung; selbst eines der hochwertigen Geräte habe die Rückkopplungseffekte hier nicht auf ein akzeptables Niveau reduzieren können. Bei der vom Kläger benötigen Verstärkerleistung seien Rückkopplungseffekte mit analoger Technik und mit Digitalhörgeräten zum Festbetrag nicht ausreichend vermeidbar. Erforderlich seien vielmehr höherwertige Prozessoren. Das vom Kläger angeschaffte Hörgerät sei nach dem Anpassungsbericht des Hörgeräteakustikers in höherem Maße geeignet als die anderen. Ihm kämen wesentliche Gebrauchsvorteile gegenüber den verglichenen Geräten zu; ein Gerät der Hörgerätegruppe 3 zum Festpreis sei medizinisch nicht ausreichend. Dagegen argumentierte der Gutachter des MDK, dass für den höheren therapeutischen Nutzen digitaler Geräte ein wissenschaftlicher Nachweis im Sinne von § 139 SGB V fehle. Zutreffend sei jedoch, dass das beanspruchte Gerät Gebrauchsvorteile biete. Ein Anspruch auf optimale Hilfsmittelversorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bestehe indes nicht; ein Gleichziehen mit den Möglichkeiten Gesunder sei nicht geboten. Eine beidseitige an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit wie in diesem Falle bestehe bei etwa 5 Prozent aller Hörgeräteträger und somit bei etwa 125.000 Personen. Würde die Festbetragsregelung in allen diesen Fällen unbeachtlich sein, entstünde ein Kostenaufwand, den der Gesetzgeber durch die Festbetragsregelung gerade habe unterbinden wollen. Soweit es bei höchstgradiger Schwerhörigkeit um maximale Verstärkung ohne Rückkopplung gehe, könnten das durchaus auch analoge Geräte leisten.

Während das SG in der 1. Instanz die beklagte KK verurteilt hat, die zusätzlichen Hörgerätekosten zu übernehmen, hat das Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung der beklagten KK hin das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Anpassung des Hörgeräts zwar noch vor der Antragstellung dem Anspruch nicht entgegenstehe. Jedoch habe die KK ihre Leistungspflicht zutreffend auf den Festbetrag begrenzt; dieser lasse eine einzelfallbezogene Relativierung nicht zu. Eine Abweichung von der leistungsbegrenzenden Wirkung der Festbetragsregelung sei nur dann möglich, wenn mit den Festbeträgen allein Hörgeräte beschafft werden könnten, die zum Ausgleich einer Hörbehinderung, selbst in dem beim Kläger vorliegendem Ausmaß, objektiv nicht ausreichten. Dafür sei aber hier nichts ersichtlich, weil dem Kläger mit dem bisher gewährten Gerät eine Verständigung beim Einzelgespräch unter direkter Ansprache gut möglich gewesen sei. Ein Fall von Systemversagen liege ebenfalls nicht vor.

Gegen diese Entscheidung des LSG ging der Kläger in die Revision. Das BSG ist sodann zu der Entscheidung gekommen, dass das LSG zu Unrecht entschieden habe, dass die Beklagte ihre Leistungspflicht auf den Festbetrag der Gruppe 3 für die Hörgeräteversorgung in Baden-Württemberg für das Jahr 2004 beschränken und die Erstattung der weiteren Kosten ablehnen durfte. Entgegen der Auffassung des LSG sei der Festbetrag für die Versorgung von Schwersthörgeschädigten nicht ausreichend bemessen und bilde deshalb keine taugliche Grundlage für eine Begrenzung der Leistungspflicht der Beklagten.

Speziell zur Frage der Wirtschaftlichkeit führte das BSG aus, dass die Versorgung mit Hörgeräten dem unmittelbaren Behinderungsausgleich diene und demzufolge das begehrte Hörgerät grundsätzlich erforderlich im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V sei, weil es nach dem Stand der Medizintechnik die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaube und damit im allgemeinen Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen Hörhilfen biete.

Zwar stellen Hörgeräte mit Ausnahme von Cochlea-Implantaten keine Körperersatzstücke im Sinne von § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V dar; andernfalls wäre deren Anführung in der Vorschrift entbehrlich. Sie stehen ihnen aber insoweit funktionell gleich, weil sie ungeachtet ihrer Funktionsweise unmittelbar auf die mindestens teilweise Wiederherstellung des körpereigenen Hörvermögens und nicht lediglich auf den Ausgleich mittelbarer Behinderungsfolgen ausgerichtet sind. Ziel der Versorgung sei die Angleichung an das Hörvermögen hörgesunder Menschen; solange der Ausgleich im Sinne eines Gleichziehens mit deren Hörvermögen nicht vollständig erreicht sei, könne die Versorgung mit einem fortschrittlichen Hörgerät nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass die GKV nur für die Aufrechterhaltung eines - wie auch immer zu bestimmenden - Basishörvermögens aufzukommen habe. Das Maß der notwendigen Versorgung werde deshalb verkannt, wenn die Krankenkassen ihren Versicherten Hörgeräte - wie es wohl das LSG meint - ungeachtet hörgerätetechnischer Verbesserungen nur zur Verständigung "beim Einzelgespräch unter direkter Ansprache" zur Verfügung stellen müssten. Teil des von den KK nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V geschuldeten - möglichst vollständigen - Behinderungsausgleichs sei es vielmehr, hörbehinderten Menschen im Rahmen des Möglichen auch das Hören und Verstehen in größeren Räumen und bei störenden Umgebungsgeräuschen zu eröffnen und ihnen die dazu nach dem Stand der Hörgerätetechnik jeweils erforderlichen Geräte zur Verfügung zu stellen (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V). Dies schließe - wie die Beklagte zu Recht nicht in Zweifel gezogen habe - je nach Notwendigkeit auch die Versorgung mit digitalen Hörgeräten ein.

Begrenzt sei der so umrissene Anspruch allerdings durch das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V. Leistungen müssten danach "ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein" und dürften "das Maß des Notwendigen nicht überschreiten". Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich seien, könnten Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die KK nicht bewilligen. Demzufolge verpflichte auch § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V nicht dazu, den Versicherten jede gewünschte, von ihnen für optimal gehaltene Versorgung zur Verfügung zu stellen. Ausgeschlossen seien danach Ansprüche auf teure Hilfsmittel, wenn eine kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell ebenfalls geeignet sei. Mehrkosten seien andernfalls selbst zu tragen (§ 33 Abs. 1 Satz 5 SGB V).

Eingeschlossen in den Versorgungsauftrag der GKV sei eine kostenaufwendige Versorgung dagegen dann, wenn durch sie eine Verbesserung bedingt sei, die einen wesentlichen Gebrauchsvorteil gegenüber einer kostengünstigeren Alternative biete. Dies gelte bei Hilfsmitteln zum unmittelbaren Behinderungsausgleich insbesondere durch Prothesen für grundsätzlich jede Innovation, die dem Versicherten nach ärztlicher Einschätzung in seinem Alltagsleben deutliche Gebrauchsvorteile biete. Keine Leistungspflicht bestehe dagegen für solche Innovationen, die nicht die Funktionalität beträfen, sondern in erster Linie die Bequemlichkeit und den Komfort bei der Nutzung des Hilfsmittels. Dasselbe gelte für lediglich ästhetische Vorteile. Desgleichen könne eine Leistungsbegrenzung zu erwägen sein, wenn die funktionalen Vorteile eines Hilfsmittels ausschließlich in bestimmten Lebensbereichen zum Tragen kämen. Weitere Grenzen der Leistungspflicht könnten schließlich berührt sein, wenn einer nur geringfügigen Verbesserung des Gebrauchsnutzens ein als unverhältnismäßig einzuschätzender Mehraufwand gegenüberstehe.

Solche Begrenzungen seien vorliegend jedoch nicht ersichtlich. Vielmehr ergebe sich aus den auch insoweit mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen und deshalb für den Senat bindenden Feststellungen der Vorinstanzen, dass nur die von dem Kläger selbst beschafften Hörgeräte einen im Sinne von § 33 Abs. 1 SGB V ausreichenden Ausgleich seiner Hörbeeinträchtigung gewährleisten. Angesichts eines Hörverlustes von nahezu 100 Prozent sei der Kläger zur Teilnahme an der Sprachkommunikation zwingend auf die Nutzung von Hörgeräten angewiesen, wolle er nicht eine - im Übrigen wesentlich teurere - Cochlea-Implantat-Versorgung in Anspruch nehmen. Insoweit boten die vor der Neuversorgung genutzten ebenso wie die zum Festbetrag verfügbaren Hörgeräte nach der Feststellung des LSG gute Verständigungsmöglichkeiten bei direkter Ansprache im Einzelgespräch, waren aber mit erheblichen Einschränkungen bei Umgebungsgeräuschen und beim Sprachverstehen in größeren Personengruppen verbunden und blieben damit gegenüber dem Hörvermögen hörgesunder Menschen deutlich zurück. Diese verbleibenden Hörbeeinträchtigungen des Klägers können nach dem heutigen Stand der Medizintechnik mit entsprechend ausgestatteten digitalen Hörgeräten jedenfalls teilweise ausgeglichen werden. So erlaube das vom Kläger beschaffte Hörgerät eine bessere Unterscheidung von Worten in Umgebungsgeräuschen, ohne dass dies mit Rückkopplungseffekten bei ihm verbunden sei, die bei kostengünstigeren Geräten ansonsten festzustellen seien. Insgesamt ermögliche die gewählte Versorgung ein deutlich besseres Aufschließen zu den Verständigungsmöglichkeiten hörgesunder Menschen als mit den Festbetragshörgeräten. Anhaltspunkte dafür, dass dieser Erfolg mit anderen - kostengünstigeren - Hörgeräten oberhalb der Festbetragsgrenze ebenso zu erreichen gewesen wäre und dem Kläger demzufolge die Inanspruchnahme einer kostengünstigeren Versorgung hätte zugemutet werden können, seien nicht ersichtlich.

Insgesamt kam das BSG somit zu der Entscheidung, dass die Kosten zu übernehmen sind.

Die Entscheidung des BSG vom 17.12.2009 trägt das AZ: B 3 KR 20/08 R.

DER AUTOR
Peter Brünsing ist Leiter des Referats Recht und Justiziar der BAG SELBSTHILFE.


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Quelle:
Selbsthilfe 3/2010, S. 38-40
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2010