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TAGUNG/268: Hirnverletzungen als Ursache für Wohnungslosigkeit? (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - November 2010

Fachtag des Fachausschusses Wohnungslosenhilfe
Hirnverletzungen als Ursache für Wohnungslosigkeit?

Von Silja Harrsen


In der Betheler Wohnungslosenhilfe in Westfalen ist viel Bewegung. Zum einen, weil sich die Strukturen verändern - das Arbeitsfeld wird 2011 mit den Bereichen Suchthilfe und Psychiatrie verschmolzen. Zum anderen, weil sich alte und unpopuläre Forschungsergebnisse im Lichte aktueller Studien als richtig herausgestellt haben und sich das auf die Praxis auswirken wird. Ende September fand ein Seminar zum Thema "Wohnungslosigkeit und das menschliche Gehirn" in der Neuen Schmiede in Bielefeld-Bethel statt.


Dr. Günther Wienberg, Vorstand der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, hat im Magazin "DER RING" recherchiert. Er interessierte sich vor allem für die Ausgaben des Jahres 1977. "In den Leserforen wurde heftig diskutiert über die Veröffentlichung einer Forschungsarbeit, die der damalige Chefarzt der Neuropathologie in Bethel, Prof. Dr. Gerhard Veith, und sein Mitarbeiter, Dr. Wilhelm Schwindt, veröffentlicht hatten", erläutert Dr. Wienberg. Die beiden Wissenschaftler hatten in einem Zeitraum von zehn Jahren 80 verstorbene wohnungslose Männer und zwei Frauen obduziert. Die Ergebnisse stellten sie in der "Roten Reihe" der Bethel-Beiträge im Heft 16 aus dem Jahr 1976 unter dem Titel "Von den Krankheiten der Nichtsesshaften" vor.


Umstrittene Hypothese

Prof. Veith und Dr. Schwindt fanden in den Gehirnen der meisten obduzierten Menschen Verletzungen, die in der Zeit vor der Wohnungslosigkeit entstanden sein müssen. Über die Hälfte der Obduzierten wies sogar vor- und frühgeburtliche Hirnschädigungen auf. Die Wissenschaftler stellten daraufhin die Hypothese auf, dass diese Hirnverletzungen ursächlich für die Wohnungslosigkeit verantwortlich wären. Denn Hirnverletzungen könnten zu Wesensveränderungen führen, die die Betroffenen ins soziale Abseits stellten.

Die neuropathologischen Befunde und die daraus gefolgerten Sozialanamnesen führten damals zu erheblichen Verstimmungen. Vor allem die Mitarbeitenden in der Nichtsesshaftenhilfe, wie die Wohnungslosenhilfe in jener Zeit noch hieß, verwehrten sich gegen die so genannte Psychiatrisierung des Elends. "In den Siebzigerjahren wurde Wohnungslosigkeit als rein gesellschaftliches Problem gesehen, das gesellschaftspolitisch zu lösen sei", stellt Dr. Wienberg fest. Die Hinweise auf mögliche hirnorganische Erkrankungen wurden als biologistisch und wenig hilfreich abgetan. Diese Sichtweise werde teilweise immer noch in den Arbeitsfeldern der Wohnungslosenhilfe vertreten, so der Vorstand. "Das Thema 'Neuropathologie und Lebensschicksale' ist also altbekannt, hochaktuell und heute nicht weniger brisant als gestern."

Die Forschungsarbeit von Prof. Veith und Dr. Schwindt nennt Prof. Dr. Martin Driessen, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Ev. Krankenhaus Bielefeld, bemerkenswert. "Eine solche Studie an Verstorbenen gibt es weltweit nur einmal", so Prof. Driessen. Er zitiert eine aktuelle kanadische Erhebung, die die Schlussfolgerungen der Forscher bestätigt. Dafür wurden 1679 wohnungslose Menschen mit bildgebenden Verfahren auf Hirnverletzungen untersucht. 53 Prozent der Untersuchten hätten nachweislich ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Bei 70 Prozent der Menschen seien die Verletzungen vor der Wohnungslosigkeit entstanden, stellt Prof. Driessen fest. "Hirnverletzungen im Frontalhirn haben deutliche Auswirkungen auf die Handlungssteuerung, die Motivation und Entscheidungsprozesse. Das Frontalhirn ist bei moralischen Beurteilungen aktiviert und allen Reaktionen, bei denen Emotionen beteiligt sind."

Störungen in den Gehirnarealen können die sozialen Fähigkeiten stark beeinflussen. Das Risiko der betroffenen Menschen, eine ungünstige Entwicklung im Laufe des Lebens zu nehmen, ist deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung. 80 Prozent aller wohnungslosen Menschen litten unter einer psychischen Störung, fügt Prof. Dr. Thomas Reker von der LWL-Klinik Münster hinzu. "Das ist nicht nur in Deutschland so. Gleichlautende Ergebnisse gibt es auch in anderen Ländern." Die psychischen Erkrankungen können Ursache der Wohnungslosigkeit sein und die Wohnungslosigkeit Ursache für die psychische Erkrankung. "Beide Varianten sind denkbar", so Prof. Reker.

Um Menschen aus der Wohnungslosigkeit herauszuholen, bedarf es komplexer Interventionen. "Menschen, die sich nicht mehr zur Gesellschaft dazugehörig fühlen, suchen sich eine neue Identifikation. Eine Möglichkeit besteht darin, die Persönlichkeit als Wohnungsloser neu zu organisieren." Wer sich aber mit Mühe eine Identität in der Exklusion aufgebaut habe, für den sei es wenig attraktiv, wieder zurückzukommen. "Die Haltekräfte des Milieus lassen viele Hilfeangebote scheitern", betont Prof. Reker. Deshalb müsse es eine enge Zusammenarbeit zwischen Gemeindepsychiatrie, Sucht- und Wohnungslosenhilfe geben.


Soziale Sonderwelten

Hilfen aus einer Hand, um sowohl die soziale Lebenssituation als auch die körperliche und seelische Gesundheit wohnungsloser Menschen zu verbessern, ist das Ziel der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. "Wir haben es mit einer Personengruppe zu tun, die zur Kooperation zwingt", unterstreicht Erhard Wehn, Geschäftsführer des Stiftungsbereichs Integrationshilfen. Es sei wichtig, die Zusammenarbeit der drei Arbeitsfelder Wohnungslosen-, Suchthilfe und Gemeindepsychiatrie zu optimieren.

Der gesamte Hilfeplan des Klienten müsse sich konsequent an dem individuellen Bedarf orientieren, betont Erhard Wehn. Dabei hätten "normale" Angebote Vorfahrt. "Zu oft wurden in der Psychiatrie soziale Sonderwelten geschaffen. Die Mitarbeiter waren Familien-, Freundes- und Partnerersatz. Und es gab keinen Grund, sich außerpsychiatrische Bezüge zu suchen", zitiert Erhard Wehn die Systemkritik einer psychiatrieerfahrenen Frau. Ziel sei es daher, die wohnungslosen Menschen in den Lebensraum ihrer Stadtteile voll zu integrieren.

Dass Klienten, die bisher durch alle Maschen der Hilfesysteme gefallen sind, unter hirnorganischen Störungen leiden könnten, muss Konsequenzen für die Praxis haben. Die Teilnehmenden der Diskussionsrunde bei der Fachtagung warfen ein, dass es dazu aber keine Fortbildung oder Handhabe gebe, mit der man arbeiten könne. Dr. Günther Wienberg versprach jedoch schnelles Handeln. "Im nächsten Betheler Fachausschuss Wohnungslosenhilfe werden wir die Ergebnisse auswerten und Ansätze prüfen. Wir werden das Thema weiterverfolgen."


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Quelle:
DER RING, November 2010, S. 8-9
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2010