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TAGUNG/283: Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Autismus (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Juni 2012

Internationale Fachtagung in Bielefeld
Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Autismus

Von Robert Burg



Passiv, introvertiert, unerreichbar - diese Attribute werden Menschen mit Autismus oft zugeordnet. Doch es gibt zahlreiche und sehr unterschiedliche Ausprägungen dieser tiefgreifenden Entwicklungsstörung. "Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen" war das Thema einer Fachtagung, die Ende April in der Ravensberger Spinnerei in Bielefeld stattfand.


Als herausfordernd gelten Verhaltensweisen, die als sehr schwierig empfunden werden, etwa Gewalt gegen sich selbst oder andere. Eine Vielzahl an Faktoren kann ein solches Verhalten auslösen. "Ich habe oft Angst, weil die Welt für mich ein unverständliches Chaos ist", gab Ros Blackburn ein Beispiel aus ihrer persönlichen Innensicht. Die junge Frau, die bei der Tagung anschaulich aus ihrem Leben berichtete, ist selbst von einer autistischen Störung betroffen. Sie ist überzeugt, dass angsterfüllte Verunsicherung häufig die Ursache ist, wenn Menschen mit Autismus gewalttätig werden. Oft wird dieses Verhalten als böswillig und zielgerichtet interpretiert. Doch fast immer ist es Ausdruck einer Überforderung, bei der dem betroffenen Menschen keine angemessenere Handlungsalternative zur Verfügung steht. "Ich tue Menschen ja nicht weh, weil ich sie nicht mag, sondern um selbst wegzukommen oder damit sie weggehen."


Oft purer Stress

In der Fachwelt wird herausforderndes Verhalten bei Autismus zurzeit intensiv diskutiert. Die große Bedeutung des Themas belegt auch das Interesse an der schon frühzeitig ausgebuchten Tagung, an der sich Fachleute aus England, Belgien, der Ukraine und den USA beteiligten. Veranstalter war die Autea gGmbH, ein Fortbildungsinstitut, das von den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und dem Sozialwerk St.Georg in Gelsenkirchen getragen wird.

Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen haben Schwierigkeiten, all die auf sie einströmenden Reize zu verarbeiten oder auch nur zu ertragen. Sie erkennen nicht die Gefühle, Wünsche und Erwartungen ihrer Mitmenschen und können daher nur schwer angemessen auf diese eingehen. "Ich muss mir mühevoll alles theoretisch erschließen, was alle anderen sofort verstehen", so Ros Blackburn. Zudem bereitet es vielen Menschen mit Autismus Probleme, eigene Wünsche und Bedürfnisse in geeigneter Weise mitzuteilen oder selbst Lösungen für neue Situationen zu entwickeln. Deshalb bedeuten viele Situationen, die für andere Menschen unproblematisch oder gar angenehm sind, für Menschen mit Autismus nur Stress.


Richtiger Umgang

Wenn Betreuer die Ursachen für herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen verstehen, können viele Schwierigkeiten bereits im Vorfeld vermieden werden. Sie müssen wissen, wie sie mit diesen schwierigen Verhaltensweisen umgehen können, ohne eine weitere Eskalation zu riskieren. Wenn es trotzdem zu einer gewalttätigen Zuspitzung kommt, kann eine physische Intervention dennoch angebracht sein: "Ich möchte fixiert werden, wenn ich meinen Kopf gegen eine Wand schlage", sagt Ros Blackburn. "Wie ich ja auch gerettet werden will, wenn ich ertrinke." Erst wenn sie sich beruhigt habe, sei sie in der Lage, Anweisungen zu verstehen.

"Durch Rahmenbedingungen, die den Schwierigkeiten der Betroffenen angepasst sind, kann die Häufigkeit von herausforderndem Verhalten deutlich gesenkt werden", betonte Rositta Symalla, Geschäftsführerin von Autea. Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen benötigten eine klar strukturierte, ruhige Umgebung, vorhersehbare Ereignisse und eine explizite Erläuterung von Erwartungen und Anforderungen. "Komplexe soziale Situationen müssen vereinfacht und aufgelöst werden", erläuterte die Betheler Psychologin. Allerdings sei die tatsächliche Lebenssituation für viele Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen stark von Stress und Überforderung geprägt. Dies hänge auch zusammen mit der Schere zwischen Kosten und Refinanzierung, die immer weiter auseinandergehe.


Vieles nicht schlüssig

Oftmals sind Zusammenhänge, die Betreuern, Lehrern und Angehörigen klar und eindeutig erscheinen, für Menschen mit Autismus nicht schlüssig. Das kritisierte auch Prof. Dr. Rita Jordan, international renommierte Autismus-Expertin aus Birmingham: "Wenn ein autistisches Kind in einer Schulklasse unruhig wird, weil es zu vielen Reizen ausgesetzt ist, schickt es die Lehrerin vor die Tür", gab die Wissenschaftlerin ein Beispiel. "Aber draußen ist es ruhig, dem Kind geht es gleich viel besser - was hat es nun gelernt? Wie soll es diese 'Strafe' verstehen?"

Rita Jordan wirbt für Verständnis und Empathie: "Akzeptieren Sie Abneigungen, auch wenn Sie sie nicht nachvollziehen können. Loben Sie die Anstrengung, nicht das Ergebnis. Und sprechen Sie keine Verbote aus, sondern bieten Sie den Menschen Alternativen an", riet die Wissenschaftlerin den rund 350 Teilnehmenden der Tagung. Sie ist überzeugt, dass das natürliche Streben nach Sinnhaftigkeit eine wesentliche Ursache für herausforderndes Verhalten ist: "Wir wurden geboren, um Bedeutung zu finden. Wenn das nicht gelingt, verzweifeln wir." Die Aussage, jemand "sei eben aggressiv", sei zwar bequem, aber oft nicht die richtige Erklärung.

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Quelle:
DER RING, Juni 2012, S. 8-9
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2012