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TAGUNG/288: Inklusion - Die Debatte geht weiter (idw)


Julius-Maximilians-Universität Würzburg - 16.10.2012

Inklusion: Die Debatte geht weiter



Inklusion: Kein Thema wird derzeit in Fachkreisen kontroverser und mit mehr Emotionalität diskutiert als die Frage nach der Interpretation und den Schlussfolgerungen aus der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Auch auf einer Tagung in Würzburg wurde intensiv diskutiert.

Soll man Förder- und Sonderschulen abschaffen? Werden alle Kinder in Zukunft nur noch an einer Schule gemeinsam unterrichtet? Wie sieht eine wirklich inklusive Gesellschaft aus? Diese und weitere Fragen beschäftigen Bildungsexperten seit geraumer Zeit.

Spätestens seit am 26. März 2009 in Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft getreten ist, hat sich vor allem in der Fachwelt eine lebhafte Debatte um die Konsequenzen daraus entwickelt. In ihrem Mittelpunkt stehen die Kernforderungen der Behindertenrechtskonvention:

- Allen Menschen soll die Teilnahme an allen gesellschaftlichen Aktivitäten auf allen Ebenen und in vollem Umfang ermöglicht werden.

- Die Chancengleichheit behinderter Menschen soll gefördert, Diskriminierung in der Gesellschaft unterbunden werden.

- Nicht-behinderten und behinderten Kindern und Jugendlichen soll das gemeinsame Lernen ermöglicht werden.

Aus diesem Grund hatten jetzt die Inhaber der Würzburger Lehrstühle für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen (Prof. Dr. Stephan Ellinger) und Pädagogik bei Verhaltensstörungen (Prof. Dr. Roland Stein) Mitglieder der Sektion Sonderpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft eingeladen, um gemeinsam über die polarisierten Positionen zu diskutieren.

Unter den Teilnehmern waren Hochschuldozenten aus Deutschland und den angrenzenden deutschsprachigen Ländern. Im Rahmen intensiver Diskussionsgruppen wurden zentrale Problemfelder der Inklusion differenziert beleuchtet.

Entscheidende Impulse für eine Verbesserung

"Konsens bestand unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dahingehend, dass die UN-Behindertenrechtskonvention entscheidende Impulse für die Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen bringen kann", berichtet Professor Roland Stein. Ein wichtiger Baustein werde dabei die Entwicklung inklusiver Schulen sein, die sich für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen öffnen und ihnen gezielte Maßnahmen anbieten.

Sollten Förder- und Sonderschulen deshalb relativ rasch abgeschafft und ihre Funktionen durch Regelschulen übernommen werden - oder ist es sinnvoll, besondere Schulen aufrecht zu erhalten, um den individuellen Förderbedürfnissen bestimmter Kinder auch weiterhin gerecht zu werden? In dieser Frage herrschten unterschiedliche Auffassungen bei den Tagungsteilnehmern. Allerdings wurde im Laufe der Diskussion klar, dass in dieser Frage Differenzierung angebracht ist: "Schwerste Behinderungen, Körperbehinderungen, Lernbeeinträchtigungen oder Verhaltensauffälligkeiten stellen extrem unterschiedliche Anforderungen an eine erfolgreiche inklusive Beschulung der jeweiligen Klientel", erklärt Stephan Ellinger.

Missverständnisse unter den sonderpädagogischen Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Fachrichtungen seien möglicherweise die Konsequenz, weil der Förderbedarf von Kind zu Kind variiere, weil mehr oder weniger große Umbauten in den Schulen erforderlich sein können, weil die Anforderungen an die fachliche Expertise der Lehrkräfte und mitunter auch einschneidende Umdenkprozesse nicht miteinander vergleichbar seien.

Inklusion geht über die Schule hinaus

Einigkeit bestand bei den Tagungsteilnehmern in einem weiteren Punkt: Die Diskussion über einen angemessenen Ausbau inklusiver Angebote darf ihrer Ansicht nach nicht allein auf die schulischen Aspekte verengt werden. "Es müssen vielmehr in allen gesellschaftlichen Bereichen inklusive Strukturen entwickelt werden, beispielsweise in Kindergärten und Frühförderung, aber auch in der Beruflichen Bildung und der Arbeitswelt", erklärt Stein.

Mit Bedauern beobachten die Experten in diesem Zusammenhang "unabhängig von schulischen Aspekten der Inklusion zunehmende gesellschaftliche Exklusionstendenzen". So würden etwa Menschen mit Migrationshintergrund oder Lernschwächen und durch Armut Benachteiligte zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Ihre Forderung lautet deshalb: "Die Diskussion um Inklusion darf nicht blauäugig erfolgen, sondern muss solche gegenläufigen Tendenzen klar und kritisch in den Blick nehmen."

Konsequenzen für das Lehramtsstudium

Konsens der versammelten Wissenschaftler bestand auch in der großen Bedeutung der verstärkten Zusammenarbeit mit der allgemeinen Pädagogik, beispielsweise im Rahmen der Lehramtsstudiengänge. Es existiere ohne Zweifel ein erheblicher Weiterentwicklungsbedarf für die Sonderpädagogik, aber auch für Pädagogik und Schulpädagogik, wo deutlich stärker als bisher erkannt werden müsse, dass Inklusion ein gemeinsames pädagogisches Thema ist. Auf Basis der intensivierten Zusammenarbeit könnte sich dann auch ein neues wechselseitiges Selbstverständnis entwickeln. Die Aufgaben von Pädagogik und Sonderpädagogik in der schulischen und außerschulischen Praxis sollten neu bestimmt werden. Dem entsprechend müssten auch die Lehramtsstudiengänge gezielt verändert werden. Sicher sei eines: Die Sonderpädagogik werde sich verändern. Deshalb sollten insbesondere die Forschungsbemühungen weiter intensiviert werden.

Wer sich einen Überblick über den aktuellen Diskussionsstand in der Wissenschaft verschaffen möchte, findet die jüngsten Stellungnahmen hier:

- Stellungnahme der Sektion Sonderpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 15.03.2011. In: Erziehungswissenschaft. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Heft 43, Jg. 22/2011. S. 172-173.

- Stellungnahme der Deutsche Vereinigung für Rehabilitation zu den Anforderungen an eine inklusive Schule vom 2.10.2012. (PDF)

- Ellinger, S./Stein, R. (2012): Effekte inklusiver Beschulung: Forschungsstand im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. In: Empirische Sonderpädagogik. 3. Jahrgang, Heft 2.

- Institut für Sonderpädagogik (2012): Stellungnahme der kollegialen Leitung des Instituts für Sonderpädagogik Würzburg zu Inklusion:
www.sonderpaedagogik.uni-wuerzburg.de/neuigkeiten/neuigkeiten_details/artikel/stellungna-1

- Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen:
www.kmk.org/presse-und-aktuelles/meldung /empfehlung-der-kultusministerkonferenz-zur-umsetzung-der-behindertenrechtskonvention-der-vereinten-n.html

Von: Stephan Ellinger und Roland Stein

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution99

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Robert Emmerich, 16.10.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Oktober 2012