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TAGUNG/290: Deutsch-Polnisches Symposium - Gibt es noch gesunde Menschen? (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - November 2012

Deutsch-Polnisches Symposium
Gibt es noch gesunde Menschen?

Von Gunnar Kreutner



Anders, verrückt oder krank - im "DSM", dem Klassifikationssystem für psychische Störungen, ist festgehalten, wo Normalität aufhört und psychische Störungen anfangen, was noch Trauer ist und was bereits eine Depression. Zurzeit arbeiten Wissenschaftler an der fünften Neuauflage. Viele Experten befürchten, dass mit dem "DSM-5" Krankheiten geschaffen werden, wo keine sind. Auch beim 23. Deutsch-Polnischen Symposium Ende September in Bielefeld-Bethel war die "Psychiatrisierung" der Gesellschaft ein Thema.


Prof. Dr. Martin Driessen, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Ev. Krankenhauses Bielefeld, kritisierte, dass die Psychiatrie recht unkritisch übernehme, was die Amerikanisch-Psychiatrische Gesellschaft mit ihrem DSM-System (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) empfehle. Er veranschaulichte die unnötige Psychiatrisierung am Beispiel des Themas "Trauer". Trauer sei ein Phänomen, von dem die meisten Menschen intuitiv sagen würden, dass es zum Leben dazugehöre und keine Krankheit darstelle. "Während noch im "DSM-3" erst nach einem Jahr von einer Krankheit gesprochen wurde, waren es im "DSM-4" nur noch zwei Monate, und nach dem aktuellen Vorschlag im "DSM-5" werden es nur noch zwei Wochen sein. Was bedeutet das? Trauern wir seit 1994 zunehmend schneller? Ist danach alles bereits Krankheit?", fragte Prof. Driessen.


"Inflationäre" Diagnostik

"Gibt es noch Gesunde? Gefährliche Trends in der Psychiatrie in Deutschland und Polen" lautete der Titel des dreitägigen Symposiums der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Seelische Gesundheit. Rund 160 Psychiatrie-Experten aus den beiden Nachbarstaaten nahmen an der Veranstaltung teil, die im Assapheum und in der Neuen Schmiede stattfand.

Martin Driessen warnte vor der "Gefahr einer inflationären und damit beliebigen Diagnostik". Er verdeutlichte, dass nicht einzelne Personen definierten, wer krank und wer gesund sei, sondern viele Interessengruppen und Organisationen. Die Kostenträger entschieden darüber, was sie als Krankheit anerkennten. Sie seien "aufgrund mangelnder eigener Expertise" aber kaum in der Lage, gegen die mächtigen Organisationen der Psychiatrie anzukommen. Eine wesentliche Rolle spielten zudem die Medien, wie das Beispiel "Burnout" zeige. "Dieses Thema ist in den letzten Jahren in fast allen Medien en vogue, sodass man fast den Eindruck gewinnen kann, dass ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung völlig ausgebrannt durchs Leben geht", bemerkte Martin Driessen. Dr. Bogdan de Barbaro, Psychiater aus Krakau, sieht ebenfalls die Gefahr einer inflationären Diagnostik und einer Psychiatrisierung im alltäglichen Leben. Besonders in den USA beobachtet der Experte für Familientherapie ähnliche und teilweise noch drastischere Entwicklungen. Ein Beispiel sei die Aufmerksamkeitsdefizitstörung, kurz ADHS. "In den USA gibt es ein immer breiteres Definitionsmaß für diese Erkrankung. 1970 sprach man noch von 250.000 betroffenen Kindern, jetzt reichen die Statistiken von 4 bis 8 Millionen! Das ist paradox", kritisierte er.


Weniger Schamgefühle

Bei allen negativen und gefährlichen Trends kann Bogdan de Barbaro der Psychiatrisierung auch etwas Gutes abgewinnen. Die Diagnose für Patienten sei nicht mehr mit einer so schmerzhaften Stigmatisierung verbunden, und die zunehmende Medikalisierung schwäche die Schamgefühle ab. "Die Diagnose und die Medikation schützen die Patienten. Es entstehen sogar Privilegien."


Krankheit als Ausrede

Psychiatrische Krankheitsbilder könnten allerdings auch missbraucht werden, warnte der polnische Soziologe Andrzej Zybertowicz. Eine Lehrerin aus Bydgoszcz, einer größeren Stadt in Polen, habe ihm davon berichtet, dass sich Schüler an sie wendeten und ungeniert medizinische und psychiatrische Erklärungen für ihre Schulprobleme anführten. "Ernst klingende Etiketten wie 'Legasthenie', 'ADHS' oder 'Prokrastination' werden von einigen Jugendlichen recht zynisch für eine tolle Ausrede gehalten. Ich bin nicht schuld, sondern meine Krankheit", so Andrzej Zybertowicz. Das könne zu einer Angewohnheit werden, die sich jeder Kontrolle entziehe. Auf diese Weise gestalte die Psychiatrisierung einen "Sozialprozess der Institutionalisierung der Verantwortungslosigkeit".


Steigende Zahlen

Dr. Günther Wienberg, Psychiatrie-Experte im Vorstand der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, würdigte bei dem deutsch-polnischen Symposium den erfolgreichen Reformprozess der Psychiatrie in Deutschland seit Anfang der 1970er-Jahre. "Die Behandlung psychisch kranker Menschen erfolgt heute ganz überwiegend gemeindenah, mit erheblich weniger Krankenhausbetten, sehr viel stärker tagesklinisch und ambulant, mit wesentlich mehr Fachpersonal und erheblich qualifizierter als vor 40 Jahren", so sein bisheriges Fazit. Auch die Chancen für die Betroffenen auf gesellschaftliche Teilhabe seien durch Enthospitalisierung und Dezentralisierung erheblich verbessert worden.

Kritisch sieht Dr. Günther Wienberg hingegen, dass die Bettenzahl in psychiatrischen Kliniken der Regelversorgung seit sechs Jahren wieder ansteige. Es würden vermehrt Spezialstationen für die gleichen Diagnosegruppen eröffnet, die auch in psychosomatisch-psychotherapeutischen Klinken behandelt würden. Die Zahl der Patienten in forensischen Kliniken und Abteilungen habe sich sogar mehr als verdreifacht: von etwa 4.000 im Jahr 1991 auf rund 12.000 im Jahr 2010. Mögliche Ursachen erkennt Dr. Günther Wienberg unter anderem in der erheblichen Zunahme der Verweildauern, aber auch in einer übersteigerten Sicherheitsorientierung von Politik, medialer Öffentlichkeit, Aufsichtsbehörden und Gerichten bei gleichzeitig rückläufiger Gewaltkriminalität.

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Quelle:
DER RING, November 2012, S. 6-7
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2013