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VERBAND/730: Digitale Transformation der Selbsthilfearbeit (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 4/2015

Digitale Transformation der Selbsthilfearbeit

Klartext von Dr. Martin Danner


Die letzten Jahre haben gezeigt, dass Interessensgruppen innerhalb kürzester Zeit durch das Internet zusammenfinden, kollaborieren und ihre Ziele erreichen können. Internetkampagnen, Onlinepetitionen, aber auch so genannte Shitstorms haben den Charakter der öffentlichen Meinungsbildung erheblich verändert. Darüber hinaus wird die Akquise von Mitteln durch das Internet massiv verändert. Mit neuartigen Spendentools und Crowdfunding-Maßnahmen werden soziale Projekte oder neue Produkte, Filme und Dienstleistungen oft durch wildfremde Personen finanziert. Andererseits bedingt die Schnelligkeit des sich Zusammenfindens im Internet auch, dass die längerfristige Bindung der Menschen aneinander an Bedeutung verliert.


Die Akteure rücken in den Hintergrund

Wo sich jeder spontan per Mausklick zu jeder Zeit an einer "Aktion" beteiligen kann, rückt die Rolle derer, die solche Aktionen auf der Basis nachhaltiger Strukturen auf die Beine stellen, in den Hintergrund. Zuweilen wird aber auch ganz auf nachhaltige Strukturen verzichtet, da dieses "Etwas auf die Beine stellen" im Internet auch über vorübergehende Kollaborationsformen organisiert werden kann.

Eine solche Entwicklung wirft die Frage auf, welche Rolle Verbände und Vereine in einem solchen Umfeld künftig spielen können. Der besorgte Blick in die Zukunft verdüstert sich weiter, wenn man die Auswirkungen neuer Informations- und Kollaborationsmöglichkeiten auf das Nutzerverhalten reflektiert.


Unter Betroffenen entsteht keine Bindung

Informationsmöglichkeiten stehen im Internet ebenso kostenfrei zur Verfügung wie Austauschmöglichkeiten aller Art. Vielfach wird auch in der Selbsthilfe beklagt, dass viele Betroffene sich Informationen aller Art aus dem Internet ziehen und dann mit einer ablehnenden Haltung die Beratungsangebote der Selbsthilfe aufsuchen, um dort diejenigen Informationen abzugreifen, die es anderswo nicht gibt.

Kann dann nichts "Neues" geboten werden, ziehen die Nutzer weiter. Eine Bindung an den Verein im Sinne eines Austausches unter Betroffenen kommt so gar nicht zustande und ist auch gar nicht gefragt. Im Wettbewerb der Informationsquellen geraten auch die Selbsthilfeverbände so leicht in die Defensive. Andererseits fehlt es aber auch an Anschlussfähigkeit, warum die Kommunikation lediglich auf der 30 Jahre alten E-Mail, Telefonberatung und Offline-Treffen aufbaut.

Auch Flyer, Broschüren und die meisten Internetauftritte sind nicht auf Interaktion ausgerichtet, sondern basieren auch heute noch weitgehend auf dem Schema, Informationen zu "streuen" bzw. vorzuhalten.


Interaktion steht zukünftig im Vordergrund

Digitale Transformation, bedeutet jedoch, dass die Kommunikation konsequent auf eine Interaktion mit den NutzerInnen ausgerichtet wird. Im Informationszeitalter besteht das Hauptproblem der Ratsuchenden, der Mitglieder einer Selbsthilfeorganisation nicht mehr vor allem darin, Informationen zu erhalten. Von zentraler Bedeutung ist es vielmehr, die Informationen herauszufiltern, die mich interessieren, das heißt die in der von mir zu bewältigenden Lebenssituation relevant und wichtig sind. Informationsangebote müssen somit gefiltert und gewichtet werden können. Hierzu muss derjenige, der informieren will, genau wissen, für welche Zwecke die Informationen jeweils benötigt werden und welche Auswahlkriterien für die NutzerInnen jeweils wichtig sind.


Das Beispiel moderne Mitgliederportale verdeutlicht:

Mitgliederportale müssen künftig für die gesamte Mitgliedschaft, d.h. ohne länderbezogene Sonderwege, ausgestaltet sein und dienen daher als zentrale Anlaufstelle für alle Fragen und Informationen. Darüber hinaus erstellt aber auch jedes Mitglied ein Profil über sich selbst und erhält einen persönlichen Zugang zum Portal.

Über diesen persönlichen Zugang kann das Mitglied Dienstleistungsangebote des Verbandes anfragen bzw. abrufen, Informationsmaterialien bestellen, sich an der Arbeit in virtuellen Gremien beteiligen bzw. sich zu den Unterlagen, Tagesordnungen und Arbeitsmaterialien von face-to-face arbeitenden Gremien informieren.

Über die Nutzung des Portals können die Profile der Mitglieder weiter konkretisiert werden, wodurch wiederum die Angebote des Verbandes präzise auf die Bedürfnisse, aber auch auf die Weiterentwicklungswünsche der Mitgliedschaft zugeschnitten werden.

Die NutzerInnen wiederum können durch ihre digitale Vernetzung mit wesentlich geringerem Aufwand miteinander kommunizieren, sich zu Problemstellungen austauschen und Aktivitäten planen. Auch die innerverbandliche Willensbildung kann so erheblich intensiviert werden.


Transformation als Zukunftsfrage der Selbsthilfe

Die digitale Transformation der Selbsthilfearbeit wird sich jedoch nicht nur auf den verbandsinternen Bereich beschränken. Es ist eine Zukunftsfrage für die Selbsthilfe, ihre bestehenden Kommunikationsstrukturen anschlussfähig zu machen für die digitalen Netzwerke, die nahezu jeder Bürger und jede Bürgerin heute knüpft. Facebook, Twitter, Xing & Co zu ignorieren wäre insoweit fatal.

Es kommt viel mehr darauf an, in diesen sozialen Netzwerken mit großem Geschick Leitplanken so aufzustellen, dass sie die NutzerInnen auf die digitalen Netzwerke der Selbsthilfe aufmerksam machen. Idealerweise müssen die großen sozialen Netzwerke unserer Zeit als Partnernetzwerke genutzt werden, um auf die Angebote des jeweiligen Selbsthilfeverbandes hinzuweisen.


Neue Strukturen werden entstehen

Aus dem Gesagten wird deutlich, dass die digitalen Transformationen der Selbsthilfearbeit völlig neue Strukturen und Techniken der Verbandskommunikation mit sich bringen werden.

Die klassische Mitgliederzeitschrift, die als Printversion vier Mal im Jahr erscheint, passt nicht so recht in das soeben skizzierte Zukunftsszenario.

Gleichwohl erfüllt es uns alle mit großer Trauer, dass dieses Heft der "Selbsthilfe" die letzte Ausgabe einer Zeitschrift ist, die die Selbsthilfebewegung über Jahrzehnte begleitet und auch sichtbar gemacht hat. Die Vision der digitalen Transformation zeigt uns aber auf, dass das Ende dieser Zeitschrift nicht das Ender der verbandlichen Kommunikation bedeutet. Es handelt sich vielmehr um einen Baustein des umfassenden Umgestaltungsprozesses, dem jede Verbandsarbeit in heutiger Zeit unterworfen ist.

Daher möchte ich schließen mit dem herzlichen Dank an alle unsere LeserInnen, an unsere AbonentInnen, unsere UnterstützerInnen, unseren Verlag und alle Mitarbeiterinnen, die das Erscheinen der "Selbsthilfe" ermöglicht haben.

Ihnen allen möchte ich jedoch gleichzeitig die herzliche Einladung aussprechen, sich über unsere internetbasierten Angebote zu informieren und sich in die Verbandsarbeit mit einzubringen.


DER AUTOR
Dr. Martin Danner ist Bundesgeschäftsführer
der BAG SELBSTHILFE

*

Quelle:
Selbsthilfe 4/2015, S. 8-9 - letzte Ausgabe
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Telefon: 0211/3 10 06-0, Fax: 0211/3 10 06-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2016

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