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WERKSTATT/272: Qualifizierungskonzept mit exzellent-Preis ausgezeichnet (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 2/2014

"AUF AUGENHÖHE"
Qualifizierungskonzept mit exzellent-Preis ausgezeichnet

Von J. Heyer und C. Fischer (BAG WfbM e. V.)



Gute Ideen gewinnen "exzellent"-Preise. Zum neunten Mal zeichnete die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen 2014 herausragende Ideen und ihre Umsetzungen in den Kategorien "Bildung", "Kooperation" und "Produkt" aus. Der "exzellent"-Preis der BAG WfbM würdigt Innovation, Ideenreichtum und die Bereitschaft, Neues zu entwickeln. Die Preise gehen an Mitarbeiter und Beschäftigte von Werkstätten für behinderte Menschen.


"Der Gewinner ist...", das ist der Moment, an dem es im voll besetzten Saal immer mucksmäuschenstill ist. Die Preisverleihung fand am 13. März 2014 vor großem Publikum im Rahmen der feierlichen Eröffnung der Werkstätten:Messe statt. Der Bildungspreis ging an die Hannoverschen Werkstätten für ihr Bildungskonzept "Auf Augenhöhe". Es qualifiziert Werkstattbeschäftigte für neue Arbeitsangebote im Einzelhandel.

Das Besondere an "Auf Augenhöhe": Die Bildungsteilnehmer sind aktiv in die Erarbeitung der Lerninhalte eingebunden. Der Qualifizierungsprozess setzt in außergewöhnlich hohem Maße auf Selbstbestimmung und Selbstorganisation. Der Lernerfolg hat so mehrere Ebenen. Er qualifiziert fachlich und entwickelt das Selbstvertrauen und die Selbsteinschätzung - eine wichtige Voraussetzung, um selbstbestimmt lernen und arbeiten zu können. Die Jury war begeistert: "Durch die aktive Einbindung der Menschen mit Behinderung in die Erarbeitung der Lerninhalte ist "Auf Augenhöhe" die Öffnung der beruflichen Bildung gelungen.


Es begann mit einem Kiosk

Die Hannoverschen Werkstätten hatten sich das Ziel gesetzt, ihr Qualifizierungsspektrum auszuweiten. Waren präsentieren, Kunden ansprechen, die Abrechnung machen. Im Einzelhandel gibt es viele Aufgaben. Der Verkauf von Waren der eigenen Bäckerei und Fleischerei und gastronomischer Service in einem Bistro - dafür sollte der Berufsbildungsbereich fit machen.

Aber auch über den Berufsbildungsbereich hinaus. Wie lassen sich für diese attraktiven Arbeitsangebote auch Beschäftigte qualifizieren, die bereits im Arbeitsbereich tätig sind? Und wie geht man ein solches Unterfangen an? Um das herauszufinden, bot sich der hauseigene Kiosk an, der bisher durch angestelltes Personal betrieben wurde. Hier sollten künftig Beschäftigte aus dem Arbeitsbereich arbeiten.


Die Qualifizierungsphase

Um möglichst alle Beschäftigten einzubeziehen, wurde ein selbstorganisierter Qualifizierungsprozess initiiert. An dessen Ende sollte jeder Teilnehmer in der Lage sein, entscheiden zu können, ob dieses Arbeitsgebiet für ihn infrage kommt. 24 Beschäftigte nahmen teil und zwei hatten Interesse und sagten zu. Planung und Organisation, der Qualifizierungsbedarf und alle Fragen rund um das neue Arbeitsangebot wurden von den Beschäftigten erarbeitet und gelöst.

Zunächst trauten sich die meisten Beschäftigten die neue Aufgabe nicht zu. Als größte Herausforderung erwiesen sich Defizite beim Rechnen und das mangelnde Selbstvertrauen im Kundenkontakt. Zwölf Beschäftigte haben es versucht.

In gemeinsamen Gesprächen wurden die Bedenken der Beschäftigten aufgegriffen. Gemeinsam wurde überlegt, wie die identifizierten Hindernisse zu überwinden sind. So wurde nach Kassensystemen gesucht, die eine einfache Handhabung versprachen. Rollenspiele gaben Sicherheit im Umgang mit Kunden und stärkten das Selbstvertrauen. Erst nach diesem Coaching konnte jeder Einzelne selbst entscheiden, ob ihm die ungewohnte Arbeit lag.

Diese Art der Problemlösung, die es den Beschäftigten ermöglichte, eigene Lösungsstrategien zu entwickeln, reduzierte die Vorbehalte und Ängste. Für die weitere Qualifizierung wurden einzelne Module erarbeitet. Die Gruppe organisierte ihre Lernsequenzen selbst. Zu den neuen Aufgaben gehörte u. a. die Zubereitung von Kaffee oder Tee, das Erlernen und Einhalten der Hygienerichtlinien oder der Umgang mit der Kasse.

Dann folgten die Praxisübungen: Das Kassensystem wurde installiert. Gemeinsam wurde überlegt, welche Möglichkeiten der Programmierung die Kasse bot. Danach wurden mit Waren aus dem Sortiment erste Übungseinheiten durchgeführt. Dabei konnten die Funktionen der Kasse erlernt und der Umgang mit Wechselgeld geübt werden. Besonders wichtig blieben die Gesprächsrunden von Beschäftigten, Bereichsleitung und Sozialdienst. Dort wurden die Beschäftigten vollständig auf Augenhöhe mit der Leitung in die Planungen mit einbezogen. Ein Vorschlag der Beschäftigten war z. B. die Umgestaltung der Räumlichkeiten. So wurde der Tresenbereich umgebaut, damit auch Rollstuhlfahrer im Kassenbereich arbeiten konnten. Außerdem wurde vorgeschlagen, den Kiosk in "Cafeteria" umzubenennen.


Die Praxisphase

Drei Monate nach Eröffnung der Cafeteria war klar, dass das Konzept funktionierte. Daraufhin delegierten die Fachkräfte immer mehr Verantwortung an die Teammitglieder. Ab sofort wurden Reinigungsprotokolle und Kühlprotokolle geführt, der Warenbestand und die Haltbarkeitsdaten selbstständig kontrolliert. Die Gruppe wurde verantwortlich für die Bestellung und Einlagerung der Waren. Durch die hohe Eigenständigkeit wurden die neuen Aufgaben mit großer Selbstverständlichkeit übernommen. Die Teammitglieder machten sich auf ihre Aufgaben gegenseitig aufmerksam und kontrollierten sich gegenseitig. Außerdem entwickelte sich das Sozialverhalten des Teams positiv.


Nächster Schritt: Werkstattladen

Ein Jahr nach Übernahme der Cafeteria wurde die Verkaufstätigkeit auf den Werkstattladen "Allerlei" ausgedehnt. Dort werden Eigenprodukte und zugekaufte Werkstattartikel zum Verkauf angeboten. Neu waren für die Beschäftigten die Entfernung zur Werkstatt und der Umgang mit betriebsfremden Kunden. Erneut waren viele Gespräche nötig, um Selbstvertrauen aufzubauen.

Wieder erfolgten Planung, Qualifizierung und die letztendliche Entscheidung zur Tätigkeit selbstbestimmt. Ebenso wie in der Cafeteria werden die Waren im Laden selbständig geordert. Das bedeutet auch, dass Beschäftigte gemeinsam mit Fachkräften z. B. zur Werkstätten:Messe nach Nürnberg fahren, um einzukaufen.

Der Erfolg des Konzeptes hat gezeigt, dass nicht für alle Gruppen oder Aufgaben ein pädagogisch ausgefeiltes Qualifizierungskonzept notwendig ist. Viel wichtiger ist es, sich seinen Weg zum Lernen selbst erarbeiten zu können. Auch dürfen Aufgaben nicht "übergestülpt" werden. Vielmehr müssen alle Beteiligten von Anfang an mit ins Boot geholt werden. Fachkräfte und Leitung müssen für alle ansprechbar sein, regelmäßige Gesprächsrunden sind unverzichtbar. Und alle Gespräche müssen auf Augenhöhe stattfinden.


J. Heyer, C. Fischer
BAG WfbM e. V.
Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V.

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Quelle:
Selbsthilfe 2/2014, S. 20-21
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. August 2014