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SORTIERT/002: Burnout - neue Regeln der Erträglichkeit (2. Teil) (SB)


Zuviel "krank" geht gar nicht - gesellschaftliche Schadensbegrenzung

2. Teil: Burnout - Brauchbarkeitssuche im Überrest



"Angst essen Seele auf" - unter diesem Titel sorgte ein Film von Rainer Werner Fassbinder in den 1970er Jahren für Furore, der als einfühlsame Studie in die Probleme und Nöte "psychisch belasteter" Menschen galt, wie es in der heutigen, vornehmlich an administrativen Belangen regulativer Maßnahmen orientierten Sprachregulierung ausgedrückt werden würde. Dreh- und Angelpunkt dieses vermeintlich problembewußten und sozialkritischen Films war die (Liebes-) Beziehung zwischen einer verwitweten älteren Münchnerin, der Putzfrau Emmi, und einem rund 20 Jahre jüngeren Marokkaner namens Ali. Konfrontiert mit der Ignoranz und Aggressivität ihrer Mitmenschen entschließt sich das so ungleiche Paar zur Heirat und muß doch feststellen, wie sehr auch ihre eigene Beziehung vom "Rassismus" vergiftet ist. Als Emmi ihren Mann bittet, zu ihr zurückzukommen, bricht Ali zusammen. Im Krankenhaus stellt sich heraus, daß er wie viele unter den Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland leidenden Gastarbeiter ein Magengeschwür hat.

Rassismus ist die Ursache des Übels, Rassismus muß bekämpft werden, lautet in etwa die im Filmgeschehen nahegelegte Schlußfolgerung, die faktisch zur Entlastung der gesellschaftlichen Verhältnisse beiträgt, da diese damit aus dem Schneider sind. Der Titel "Angst essen Seele auf" scheint einleuchtend zu sein, dabei werden zwei Begriffe, die eine Menge suggerieren, aber letztlich indifferent bleiben, in eine lose Beziehung zueinander gestellt, so als ob eine solche Aussage über einen Verwertungsakt - Angst ißt Seele - tatsächlich zur Lösung, Linderung oder auch nur sinnfälligen Analyse welcher Probleme auch immer etwas beitragen könnte. In einem solchen Szenario ist die politisch potentiell brisante Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen von vornherein ausgeklammert worden, dies mit Bedacht und keineswegs zufällig, galt es doch in jener Zeit, die durch die damalige Studentenbewegung aufgeworfene Infragestellung kapitalistischer Herrschaft und Verwertung systemkonform und -immanent zu neutralisieren.

Inzwischen gibt es in Deutschland Millionen Menschen, deren "Seele" durch Ängste oder andere Probleme, die seitens der dafür zuständigen Wissenschaften als psychische Störung oder Erkrankung diagnostiziert und katalogisiert wurden, "aufgegessen" wird. Noch immer ist die Entpolitisierung der daran sichtbar werdenden Mißstände vorherrschend, ist es doch kritischen Stimmen bislang nicht gelungen, die damalige Lesart à la Fassbender aufzubrechen zugunsten einer Herangehensweise, bei der nicht kategorisch zwischen Psyche, Körper und Umwelt, Individuum und Gesellschaft, Krankheit und Gesundheit etc. unterschieden, sondern die Frage, wer welchen Standpunkt aufgrund welcher Interessen einnimmt, als unverzichtbar wertvolles Instrument genutzt wird, um ungehindert der vorherrschenden Expertenmeinungen eine streitbare Gegenposition zu entwickeln.

Wird "Angst" in den Vordergrund gestellt wie bei dem inzwischen sogar zum geflügelten Wort gewordenen und in den Duden aufgenommenen Filmtitel "Angst essen Seele auf", gerät alles, was eine solche Reaktion ausgelöst haben mag, zwangsläufig in den Hintergrund. Wer Angst vor einem Feuer hat, das urplötzlich in der eigenen Wohnung ausbricht, sollte schnellstmöglich die Flammen löschen oder, so dies nicht mehr möglich ist, die Flucht ergreifen. Die Idee, diese Angst bekämpfen zu wollen, erweist sich in diesem wenn auch drastischen Beispiel als vollkommen fehlgeleitet. Wer nicht mehr ein noch aus weiß aus Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, gilt heute als psychisch labil, wenn nicht erkrankt, dabei ist diese Angst nur zu gut begründet und nachvollziehbar und könnte, wenn man denn so wollte, als "gesunde" und "normale" Reaktion auf eigentlich unhaltbare, das heißt unerträgliche gesellschaftliche Zustände bewertet werden.

Daß Begriffspaar Gesundheit/Krankheit erweist sich im Zusammenhang mit Problemen und Konflikten, die von interessierter Seite als psychische Störungen oder auch nur präklinische Syndrome interpretiert werden, als grundlegend systemimmanent und -bestätigend, unterstellt es doch die Existenz eines akzeptablen Normalzustands sowohl individueller wie auch allgemein gesellschaftlicher Art. Welche Probleme Betroffene auch immer haben mögen - sogenannte persönliche, familiäre, psychische oder körperliche -, steht ihnen einem Phantom gleich die Fiktion von Gesundheit und gesellschaftlicher Normalität gegenüber, die sie, um nicht zu riskieren, sanktioniert zu werden, zumindest für sich zu realisieren bestrebt sein müssen. Daß nicht der Mensch, sondern die Gesellschaft "krank" sein könnte, daß Arbeit nicht die freie Entfaltung und Persönlichkeitsentwicklung des Menschen bewirken, sondern dessen Versklavung beinhalten könnte, sind Fragestellungen, für die es im allgemeinen keinen Platz gibt.

Nun haben die sogenannten "psychischen Belastungen und Störungen", wie es sinnfälligerweise beim Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) heißt, ein so extremes Ausmaß erreicht, daß nach übereinstimmender Einschätzung von Politik und den beteiligten Wissenschaften Handlungsbedarf besteht. Der Begriff "Störung" spricht dabei Bände. Der Mensch, der Probleme hat und mit seinem Leben, seiner Arbeit, seiner Arbeitslosigkeit etc. nicht mehr zurechtkommt und, auf welche Weise auch immer, "ausrastet", stört die vermeintlich reibungslosen gesellschaftlichen Abläufe, sprich den postulierten Normalzustand. Der BDP gibt mit dieser Formulierung bereits zu erkennen, daß er die herrschende Meinung teilt, derzufolge eine Angst- oder sonstige Reaktion auf schwer erträgliche Verhältnisse als Belastung oder Störung definiert wird, nicht jedoch die auslösenden Zustände.

Dabei gibt sich die moderne Psychiatrie alle Mühe, die Grauen früherer "Irrenhäuser" bis hin zu stigmatisierenden Begriffen wie "Geisteskrankheit" oder "Irresein" vergessen zu machen, indem sie von "psychischen Störungen" spricht, bei deren Diagnose neben dem Syndrom sowie dessen Dauer und Stärke auch die sozialen Folgen für den Betroffenen berücksichtigt werden [1]. Dies hat augenscheinlich dazu beigetragen, die gesellschaftliche Akzeptanz der Psychiatrie deutlich zu erhöhen, weicht jedoch in einem ganz elementaren Punkt nicht um ein Jota von den früher vorherrschenden Auffassungen ab: Der Fehler oder die Störung verbleibt im wesentlichen in der Sphäre der Betroffenen, die sich, ihr Verhalten, ihr Empfinden oder ihre Handlungsweise ändern müssen, um "gesund" zu werden. Auch wenn Arbeitsbedingungen, allgemeine oder auch persönliche Lebensumstände berücksichtigt werden, bleibt es doch dabei, daß Menschen nach bestimmten Kriterien für "krank" oder eben "gestört" erklärt werden und nicht die Gesellschaft, in der sie leben.

Einer jüngst veröffentlichten Pressemappe des BDP ist zu entnehmen, wie es um den aktuellen Forschungsstand in diesem Bereich bestellt ist. Die "Fakten zu psychischen Belastungen und Störungen", die hier in bezug auf "Auftretenshäufigkeiten" angeführt werden, beruhen auf einer offiziellen Untersuchung bzw. Erhebung, die im Rahmen des sogenannten Gesundheitsmonitoring in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt wurde. Demnach hätten 4,2 Prozent aller Befragten angegeben, jemals ein Burnout-Syndrom erlebt zu haben. 1,5 Prozent der Befragten hätten erklärt, im vergangenen Jahr ein Burnout-Syndrom erlebt zu haben, knapp die Hälfte von ihnen (42,5 Prozent) habe sich deshalb in psychotherapeutische oder ärztliche Behandlung begeben. [2] Dies würde bedeuten, daß die Zahl der tatsächlich Burnout-Betroffenen noch mehr als doppelt so hoch sein könnte, als auf der Basis der Daten von in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung stehenden Menschen zu vermuten wäre.

In einem kapitalistisch organisierten Gesellschaftssystem wie dem in der Bundesrepublik wie auch fast allen Staaten der Welt vorherrschenden wäre es den Unternehmen kaum zu verdenken, wenn sie sich angesichts der rapide wachsenden Zahl "psychischer Störungen" allein schon aus Kostengründen von den Betroffenen als den offensichtlich weniger belastbaren Mitarbeitern lösen wollten. Dies offen einzugestehen, wäre aus Prestigegründen vielleicht nicht gerade zweckdienlich und könnte im Einzelfall, beispielsweise bei Entlassungen, zu arbeitsrechtlichen Komplikationen führen; gleichwohl wäre ein solches Vorgehen nichts anderes als die Befolgung der neoliberalen Ratio, derzufolge für alle Menschen der maximale Nutzen erwirtschaftet werden könne, wenn nur den Unternehmen uneingeschränkte Freiräume und Profitraten ermöglicht werden würden.

Das Problem, wohlbemerkt nach wie vor ausschließlich aus Sicht dieser Verwertungsordnung inklusive all ihre Teilhaber und Nutznießer, scheint jedoch weitaus gravierender zu sein. So hat die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), wie einer ihrer jüngsten Publikationen zu entnehmen ist [3], den "Erfolgsfaktor Psychische Gesundheit" erkannt. Darin heißt es:

Wenn es um die psychische Gesundheit der Belegschaft geht, ist der Einflussbereich der Unternehmen begrenzt. Dennoch fördern viele Unternehmen die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter und haben dafür passgenaue Strategien entwickelt. Sie haben erkannt, dass psychisch gesunde Mitarbeiter ein bedeutender Faktor für wirtschaftlichen Erfolg sind.

In Hinsicht auf die "wachsende Zahl psychisch bedingter Frühverrentungen" stellt die Unternehmervereinigung angesichts der rund 71.000 im Jahr 2010 von der Deutschen Rentenversicherung Bund wegen psychischer Erkrankungen bewilligten Erwerbsminderungsrenten, die gegenüber den 55.000 im Jahr 1995 genehmigten eine deutliche Steigerung aufweisen, fest [3]:

Die wachsenden Fallzahlen und das unverhältnismäßig niedrige Durchschnittsalter dieser Erwerbsminderungsrentner belasten nachhaltig die Volkswirtschaft und die Sozialsysteme.

Mit den ansteigenden Kosten durch Fehl- und Ausfallzeiten in den Betrieben wie auch der volkswirtschaftlichen "Last" allein dürfte das Interesse der Arbeitgeber und ihrer Zuträger in Politik und Gesellschaft an der psychischen Gesundung des eingesetzten "Humankapitals" nicht zu erklären sein. "Frühverrentung" ist in diesem Zusammenhang der administrative Begriff für das Schicksal eines Menschen, der berufstätig war und ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr in der Lage gewesen ist, den Anforderungen standzuhalten, und der dann, nachdem alle einschlägigen therapeutischen und sonstigen Maßnahmen zur Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit fehlgeschlagen sind, vorzeitig "in Rente" geschickt wurde. Seine berufliche Qualifikation und Erfahrung, sein gesellschaftlicher Nutzwert ist damit verlorengegangen bzw. steht der Arbeitgeberseite nicht mehr zur Verfügung.

Dies muß deren Interessenvertreter auf den Plan rufen. Schließlich beruht die gesamte Produktion und wirtschaftliche Aktivität im Kern auf den von den Beschäftigten erbrachten Arbeitsleistungen. Wenn das Phänomen "Burnout" - und danach sieht es aus -, mehr und mehr um sich greift und die Betroffenen ganz gleich, wie massiv der Druck ist, der auf sie ausgeübt wird, nicht mehr arbeiten können und immer mehr von ihnen so vollständig "ausgebrannt" sind, daß die an ihnen durchgeführten Therapieversuche ergebnislos bleiben, gibt es im Wirtschaftsstandort Deutschland (und nicht nur dort) ein Riesenproblem. An der Bereitschaft, den Anforderungen Genüge zu tun, mangelt es sicherlich nicht, gehen doch inzwischen viele Beschäftigte auch im Krankheitsfall zur Arbeit.

Nach den Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums war der Krankenstand in deutschen Unternehmen im ersten Quartal 2009 so niedrig wie in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten nicht mehr, was von Arbeitsmarktexperten keineswegs auf eine bessere Gesundheit der Beschäftigten, sondern einzig und allein auf die Tatsache zurückgeführt wird, daß angesichts der Wirtschaftskrise aus Angst, den Job zu verlieren, viele Beschäftigte krank zur Arbeit gehen. Eine im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes ebenfalls 2009 durchgeführte repräsentative Befragung ergab, daß acht von zehn Beschäftigten in Deutschland unter einem so gewaltigen Druck stehen, daß sie innerhalb von zwölf Monaten mindestens einmal krank zur Arbeit gegangen sind, die Hälfte sogar, obwohl sie sich "richtig krank" fühlte, und jeder Dritte in Mißachtung eines ausdrücklichen ärztlichen Rates.

Zu diesem Zeitpunkt war die starke Zunahme psychischer Beschwerden unter Lohnabhängigen schon längst bekannt gewesen. Wie der Bundesverband der Betriebskrankenkassen bereits Anfang 2007 feststellte, haben die wegen psychischer Störungen verursachten Krankheitstage in den Unternehmen seit Beginn der 1990er Jahre um ein Drittel zugenommen, während Fehltage wegen körperlicher Erkrankungen rückläufig sind. Schon vor über fünf Jahren waren seelische Erkrankungen die vierthäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit. Die Betriebskrankenkassen wollten es genauer wissen und ließen eine Studie anfertigen, die im November 2007 auswies, daß psychische Störungen deutlich zugenommen und einen großen Einfluß auf den Berufsalltag erlangt hätten. Depressionen, Angststörungen und weitere psychiatrische Diagnosen seien im Jahre 2006 mit 8,9 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage auf Rang 4 der häufigsten Krankheiten geklettert. Im Juli 2008 meldete das "Deutsche Ärzteblatt" unter Berufung auf den "Report akut-stationäre Versorgung 2008" der Gmünder Ersatzkasse (GEK), daß nicht mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu den häufigsten Diagnosen in deutschen Akutkrankenhäusern zählten, sondern erstmals und zwar für beide Geschlechter die Diagnose "psychische Erkrankung" den ersten Rang einnehme.

Angesichts der unverkennbar starken Zunahme psychischer Erkrankungen gerade auch unter abhängig Beschäftigten wurden diese mehr und mehr zum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung. In Bayern ließ das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), da immer mehr Beschäftigte wegen psychischer Erkrankungen, die von Depressionen bis hin zum sogenannten Burnout reichten, krankgeschrieben wurden, in Erlangen eine Studie erstellen, in der, wie im Januar 2010 bekannt wurde, über die Hälfte der befragten Arbeitnehmer angegeben hatten, regelmäßig unter Streß arbeiten zu müssen, jeder sechste sogar oft bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit. Und schon bald wurde Alarm geschlagen, drohte und droht noch immer die Arbeitsunfähigkeit der arbeitsfähigen Bevölkerung. Am 23. Oktober 2010 titelte der Focus "Experten warnen vor Burn-out-Welle" und informierte seine Leser und Leserinnen darüber, daß manche Menschen dem Druck nicht mehr standhalten könnten und deutsche Klinikchefs die Kosten psychosozialer Krisen für "kaum beherrschbar" hielten. Desweiteren hieß es dort [4]:

19 Professoren und Klinikmanager aus dem Bereich Psychologie und Psychosomatik haben die Seelenlage der Nation analysiert und kommen zu einem erschreckenden Ergebnis: Mittlerweile leiden rund 30 Prozent der Bevölkerung innerhalb eines Jahres an einer diagnostizierbaren psychischen Störung. Am häufigsten treten Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen und Suchterkrankungen auf. Allein die Kosten solcher Seelenkrisen explodierten in Deutschland 2008 auf 29 Milliarden Euro in den vergangenen Jahren. Dies betrifft laut den Experten alle entwickelten Industrieländer in ähnlicher Weise.
Die Initiatoren fordern eine Diskussion zur Lösung des Problems, da eine adäquate Behandlung der Patienten selbst mit hohen zusätzlichen Geldsummen gar nicht mehr möglich sei. "Seelenfrieden lässt sich nicht erkaufen", formulieren die Professoren und Klinikchefs.

Erschwerend kommt aus Sicht der herrschenden Verwertungsordnung und all ihrer Teilhaber noch hinzu, daß vom sogenannten Burnout vielfach Menschen betroffen sind, denen es wirtschaftlich allem Anschein nach gut geht und die über ein hohes Bildungsniveu verfügen. So soll die Wahrscheinlichkeit eines Burnouts ansteigen, je höher der sozioökonomische Status des Betroffenen ist. [5] Ist da nicht anzunehmen, daß in den Unternehmen Sorgen vorherrschen, wie der Betrieb aufrechterhalten werden könne, wenn viel zu viele Mitarbeiter, gerade auch mittel- und hochqualifizierte, durch "Burnout" wegfallen würden und nicht adäquat ersetzt werden könnten? Das laut Focus erschreckende Ergebnis vom Herbst 2010, demzufolge bereits ein knappes Drittel der Bevölkerung innerhalb eines Jahres an einer diagnostizierbaren psychischen Krankheit leidet, konnte "die Politik" nicht auf den Plan rufen, war doch diese extrem regressive, womöglich sogar einen noch weitaus größeren Teil der Bevölkerung betreffende Entwicklung von Regierungsverantwortlichen schon längst als ein system- oder auch sicherheitsrelevantes Problem erkannt worden.

So hatte der damalige Vizekanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales, Franz Müntefering, am 18. September 2007 bei der Eröffnung der weltgrößten Arbeitsschutzmesse A+A in Düsseldorf den Kampf gegen psychische Krankheiten als Herausforderung auf dem Weg zu einer besseren Arbeitswelt bezeichnet. "Das fordert eine eigene Herangehensweise. Wir müssen Lösungen suchen" [6], so der SPD-Politiker in seiner Eröffnungsrede zur Düsseldorfer Arbeitsschutzmesse, auf der rund 1400 Anbieter ihre Produkte zum Thema "Sicherheit am Arbeitsplatz" feilboten. Wer wird sich des Eindrucks erwehren können, daß diese Worte einen irgendwie drohenden Unterton enthielten? Müntefering erinnerte seinerzeit auch an die Situation Langzeitarbeitsloser, die in besonderer Weise gesundheitlich belastet seien. "Da werden wir uns darüber zu unterhalten haben, wie wir als Gesellschaft damit umgehen wollen" [6], so der frühere Bundesarbeits- und -sozialminister.

"Wir als Gesellschaft" werden damit weder so noch anders umgehen, weil es dieses "Wir" nicht gibt und geben kann in einer kapitalistischen Klassenherrschaft neoliberalen Zuschnitts mit ihren systembedingten Widersprüchen und Interessengegensätzen. Die Frage danach, wie Betroffene und vielleicht schon bald Betroffene, also im Grunde alle Menschen, die sich und ihre Lebenskraft in Lohnabhängigkeitsverhältnissen zu veräußern sich gezwungen sehen, mit diesen Problemen umgehen wollen, ist überhaupt noch nicht gestellt und öffentlich diskutiert worden. Allen Verlautbarungen und Veröffentlichungen zum Thema "Burnout" scheint bislang gemein zu sein, daß sie auf die eine oder andere Weise den gesellschaftlichen Standpunkt reproduzieren und transportieren in einer Auseinandersetzung, in der die scheinbar unterlegene Seite ihre Sprache überhaupt erst finden und einen eigenen Standpunkt formulieren müßte, wollte sie nicht länger darauf verzichten, in dieser Frage eine streitfähige Position zu entwickeln.

Fußnoten:

[1] Die Neuordnung der Seelenleiden. Kontroverse um DSM-5. Von Jochen Paulus, in GEHIRN & GEIST 6/2012, Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung, S. 36-41;
im Schattenblick siehe in INFOPOOL → MEDIZIN → PSYCHIATRIE: BERICHT/420: "Psychiaterbibel" DSM-5 - Kontroverse um die Neuordnung der Seelenleiden (GEHIRN&GEIST)
www.schattenblick.de/infopool/medizin/psychiat/m6be0420.html

[2] "So lässt sich Burnout verhindern - Psychisch gesund am Arbeitsplatz"
Pressemitteilung Nr. 10/12 des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP) vom 5. Juli 2012; hier S. 5 der anliegender Pressemappe ("Fakten zu psychischen Belastungen und Störungen")
http://www.bdp-verband.de/bdp/presse/2012/10_burnout.html

[3] "Erfolgsfaktor Psychische Gesundheit", kompakt - Mai 2012,
BDA - Die Arbeitgeber, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/id/E805BBF329F59BA4C12575C3004657F6?open&ccm=400020

[4] Stress-Krankheiten. Experten warnen vor Burn-out-Welle, von Matthias Kowalski, Focus online, 23.10.2010
http://www.focus.de/gesundheit/news/stress-krankheiten-experten-warnen-vor-burn-out-welle_aid_564949.html

[5] Gesundheitsstudie DEGS: So krank ist Deutschland. Von Dennis Ballwieser, Spiegel online, 14.06.2012
http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/rki-gesundheitsstudie-degs-so-gesund-leben-die-deutschen-a-838454.html

[6] Müntefering eröffnet Arbeitsschutzmesse, Ruhrnachrichten online, 18.09.2007
http://www.ruhrnachrichten.de/nachrichten/wirtschaft/ueberblick/Muentefering-eroeffnet-Arbeitsschutzmesse;art318,88996

2. August 2012