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BERICHT/005: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Faule Kompromisse? (SB)


Ethik und Recht - Gespann im Zaumzeug der Entmächtigung

Konferenz am 22./23. November 2013 in der Universität Essen



Fragt man nach den ethischen und juristischen Grundlagen psychiatrischen Handelns, läßt sich der daraus resultierende Diskussionsprozeß in zwei diametral entgegengesetzte Richtungen vorantreiben. Werden Ethik und Recht als positiv konnotierte Begriffe unhinterfragt vorausgesetzt, betritt man unbesehen ein Feld der Auseinandersetzung, auf dem vorgeblich Waffengleichheit der Möglichkeiten und Argumente herrscht oder zumindest sukzessive herbeigeführt werden kann. Das Grundgesetz als Fundament des deutschen Rechtsstaats spricht jedoch eine andere Sprache. In ihm ist insbesondere die herrschende Eigentumsordnung festgeschrieben, so daß die Produktionsverhältnisse, die ihnen entsprechende Klassengesellschaft und deren Garantie durch das Gewaltmonopol des Staates für unabweislich und unanfechtbar erklärt werden. Der menschlichen Arbeitskraft abgepreßte Profite sind demzufolge der Lebenssaft einer dominanten Entwicklungslogik, welche die Verfügung über die eigene Spezies und deren Vernutzung als höchstes Prinzip vorhält.

Zieht man die Ausschließlichkeit dieser Verhältnisse in Betracht, entkleidet man Ethik und Recht ihres Deckmantels vorgeblicher Überparteilichkeit und autonomer Wertsetzung. Heruntergebrochenen auf die Psychiatrie als Schmelztiegel gescheiterter Anpassungsversuche an die gesellschaftlichen Zwänge, zeugt die Ethikdebatte als solche von der Abwesenheit jener wünschenswerten Existenzweise, über deren Konditionen zu verhandeln sie vorgibt. Gleichermaßen wurzelt Recht im Nährboden zugrundeliegenden Unrechts, das in einem Regulativ seiner Verlaufs- und Verkehrsformen Bruchteile des zuvor Entzogenen wiedergewährt, ohne jemals den Käfig der systemimmanent ungleichen Verteilung materieller Lebensverhältnisse und Möglichkeiten der Einflußnahme zu sprengen.

Was folgt daraus für die Interessenlage der Berufsstände im Dunstkreis der Psychiatrie und diese Institution selbst? Man sollte ihren Anspruch ernst nehmen und überprüfen, gerade weil man ihn keineswegs mit ihrer Funktion und Handlungsweise verwechselt. Das klingt parteilich und sollte es auch sein, sofern man nicht die Präsenz der gesellschaftlichen Widersprüche und der daraus resultierenden sozialen Grausamkeiten ausgerechnet in dieser Sphäre in Abrede stellt. Handelt es sich aber um eine Widerspruchslage, kann Parteinahme zwangsläufig nur einer der beiden Seiten geschuldet sein. Die Option einer Synthese zu postulieren und einen möglichen Ausgleich der beiderseitigen Interessen in Aussicht zu stellen, läuft demgegenüber auf einen faulen Kompromiß hinaus, der ganz gewiß nicht der schwächeren Seite in diesem Konflikt, nämlich den Patientinnen und Patienten, zugutekommt. Nach dieser Vorbemerkung, die nicht die Meinung der Referentin des im folgenden thematisierten Vortrags, Dr. Tanja Henking, wiedergibt, sollen nun ihre Ausführungen zur Sprache kommen.

"Ethische und juristische Grundlagen psychiatrischen Handelns"
Thema des Vortrags in Handschrift -  - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

Im Rahmen der Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?", die am 22./23. November 2013 in der Universität Essen stattfand, hielt die Juristin Dr. Tanja Henking einen Vortrag zum Thema "Ethische und juristische Grundlagen psychiatrischen Handelns". Sie ist Leiterin der Nachwuchsforschergruppe "Ethik und Recht in der modernen Medizin" am Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr- Universität Bochum.

Wie die Referentin eingangs betonte, begrüße sie es sehr, daß das Thema Zwangsbehandlung endlich offen diskutiert werde. Allerdings habe sie die heftige Wortwahl auf der einen wie auf der anderen Seite als unerfreulich empfunden. Die nicht selten erbitterte Kontroverse hänge offenbar mit dem Machtgefüge der psychiatrischen Einrichtung zusammen und sei wohl auf Patientenseite Ausdruck des Gefühls, endlich Gehör zu finden. Sie selbst schließe indessen das Erfordernis einer Zwangsbehandlung nicht per se aus. Wenngleich das letzte Wort in der Sache bei der Patientin oder dem Patienten liegen sollte, brauche man in Konfliktfällen doch eine unabhängige Instanz, die eine Entscheidung trifft. Bei Grundrechtseingriffen wie dem der Zwangsbehandlung sollte am Ende ein Gericht entscheiden. Henking setzt sich mithin zwar für eine Psychiatrie mit möglichst geringer Anwendung von Zwang ein, stellt sich aber erklärtermaßen nicht in aller Konsequenz auf die Seite der Patientinnen und Patienten, sondern macht sich für eine Art juristischer Schiedsfunktion stark, die ihrem Anspruch nach unabhängig von den Konfliktparteien und ihnen übergeordnet sein soll.

Beim Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Tanja Henking
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Referentin sah ihre Position zur Zwangsbehandlung weitgehend in Einklang mit der diesbezüglichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), auf dessen Grundsatzaussagen sich die weiteren Überlegungen ihres Vortrags bezogen. Das BVerfG erklärte Anfang 2011 eine Regelung zur Durchführung der Zwangsbehandlung in Rheinland-Pfalz für verfassungswidrig. In einer zweiten Entscheidung wurde eine entsprechende Regelung in Baden-Württemberg ebenfalls für verfassungswidrig erklärt. Der 12. Senat des Bundesgerichtshofs, zuständig für Betreuungssachen, erklärte dann unter dem Eindruck der beiden genannten Beschlüsse die bisherige Regelung der Zwangsbehandlung für unzureichend. Damit waren die Entscheidungen auch in der allgemeinen Psychiatrie angekommen: Eine Zwangsbehandlung durfte nicht mehr durchgeführt werden. Anfang 2013 folgte eine weitere Entscheidung des BVerfG, in der eine Landesregelung in Sachsen für verfassungswidrig erklärt wurde.

Das BVerfG hatte sich in allen drei Entscheidungen mit Betroffenen zu befassen, die im Maßregelvollzug untergebracht sind. Dorthin gelangen Personen, die eine Straftat begangen haben, aber aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht für schuldfähig erklärt worden sind und denen weiterhin eine ungünstige Prognose attestiert wird. Unterbringungszweck ist also nicht die Heilung, sondern der Schutz der Allgemeinheit vor ihnen. Erfolgt eine Behandlung, so bezieht sich diese auf eine mögliche günstige Sozialprognose. Deshalb spricht das BVerfG vom Vollzugsziel, nämlich der Entlassung des Untergebrachten. Die tatsächliche Entlassung hänge jedoch von vielen Faktoren wie etwa der gesellschaftlichen Akzeptanz einer theoretischen Wiederholungstäterschaft ab, so die Referentin. Während einige Länder nach den Anforderungen des BVerfG von einer Zwangsbehandlung nach dem PsychKG absehen, scheine andernorts die Auffassung vorzuherrschen, daß Ermächtigungsnormen solange nicht verfassungswidrig seien, bis sie hierzu erklärt wurden.

Das BVerfG definiert Zwangsbehandlung als eine Behandlung gegen den natürlichen Willen der Person. Daß sie auf Heilung orientiert ist, nimmt ihr nicht den Zwangscharakter. Sie stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das verbürgte Recht auf Selbstbestimmung dar. Das führt nach Ansicht des BVerfG jedoch nicht dazu, daß ein Eingriff in dieses Recht durch die Behandlung unter Zwang per se unzulässig sei. Das Gericht stellt jedoch Anforderungen, die es zu beachten gilt. Danach muß es zunächst eine gesetzliche Grundlage geben, die die Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung klar und hinreichend regelt. Unbedingte Voraussetzung ist eine sogenannte krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit. Demnach dürfen einsichtsfähige Personen eine Behandlung ablehnen. Das BVerfG hat eine strikte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips angemahnt. Die Maßnahme muß erfolgversprechend sein, und der erwartete Nutzen muß die Risiken und Belastungen, die mit der Zwangsbehandlung einhergehen, deutlich überragen. Vorrang muß stets der Einsatz milderer Mittel haben. Die Zwangsmaßnahme selbst muß mit so geringen Belastungen wie möglich einhergehen. Und es muß zuvor ein ernsthafter Versuch unternommen werden, den Betroffenen von der Notwendigkeit der Behandlung zu überzeugen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sei vor allem die Kontrollinstanz zu betonen, so Henking.

Der Bundesgerichtshof hat sodann die bisherige Rechtsgrundlage für eine Zwangsbehandlung für unzureichend erklärt. Inzwischen gibt es eine neue Rechtsgrundlage mit einer veränderten Norm des Betreuungsrechts. Da sich dieses ausschließlich am Wohl des Betroffenen auszurichten hat, ist eine Zwangsbehandlung dann zulässig, wenn sie zum Wohle des Betreuten erfolgt. Dabei sind zwingende Voraussetzungen zu beachten, die sich mit den vom BVerfG genannten decken. Für besonders wichtig erachtete die Referentin den ernsthaften Versuch, den Betroffenen von der Notwendigkeit der Behandlung zu überzeugen. Dieser Weg dürfe nicht abgekürzt werden und sichere noch einmal das Verhältnismäßigkeitsprinzip ab. Er stelle auch sicher, daß der Betroffene Gelegenheit erhält, sein Veto zu formulieren und gegebenenfalls zu überdenken. Unterziehe er sich der Behandlung freiwillig, erhöhe sich wahrscheinlich die Chance des Behandlungserfolgs. Diesen Regelungsinhalt könne sie positiv bewerten, unterstrich Henking.

Beim Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Zwangsmaßnahmen auf ein Minimum begrenzen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Nun liege es an der Praxis, diese gesetzlichen Vorgaben umzusetzen. Dazu gehöre auch, das Gespräch mit den Betroffenen als vertrauensbildende Maßnahme hoch zu bewerten und andere Wege auszuloten, bevor eine Behandlung unter Zwang angedacht wird. Das Verständnis, eine Zwangsbehandlung als allerletztes denkbares Mittel zu begreifen, werde gefördert, und dies müsse auch künftig in der Praxis verankert werden. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist nunmehr ein gesonderter Gerichtsbeschluß erforderlich. Da diese Verfahren zwar formal allein vom Gericht entschieden werden, tatsächlich aber auch der Gutachter bei der Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle spiele, sei das Gutachtenwesen künftig wesentlich genauer und kritischer zu betrachten. Laut Verfahrensordnung soll kein Gutachter bestellt werden, der mit der betroffenen Person vertraut war oder in der gleichen Einrichtung tätig ist. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Gesetzgeber nicht nur zu einer Soll-Regelung übergegangen wäre, die eine Abweichung von der Vorgabe erlaubt, merkte die Referentin an.

Offen sei derzeit noch die Entwicklung der öffentlich-rechtlichen Unterbringung nach den PsychKGs. Diese kann sowohl im Interesse des Untergebrachten erfolgen, wie z.B. bei einer akuten Suizidgefahr, als auch im Interesse Dritter, um diese vor dem Untergebrachten zu schützen. In Hinblick auf diesen Drittschutz sind Maßregelvollzug und öffentliche Unterbringung nach den PsychKGs vergleichbar, so daß die Grundsätze der Entscheidung hier übertragen werden können. Da keines der Landesgesetze den materiellen und formellen Anforderungen entspricht, sind sämtliche Ermächtigungsgrundlagen einer Zwangsbehandlung laut Henking verfassungswidrig.

Die Fragestellung, wie der einzelne Arzt mit dieser Rechtslage umzugehen hat, sei sehr komplex. Ärzte seien im Rahmen der öffentlich- rechtlichen Unterbringung als Teil der Landesverwaltung an Recht und Gesetz gebunden. Das könnte dafür sprechen, Gesetze solange anzuwenden, bis sie für verfassungswidrig erklärt wurden. Allerdings tritt neben die allgemeine Gesetzesbindung auch eine unmittelbare Bindung an nächsthöhere Gesetze, insbesondere an die Grundrechte. Zudem sei ein verfassungswidriges Gesetz auch ohne die ausdrückliche Erklärung durch das BVerfG von Beginn an verfassungswidrig und damit nichtig. Es kommen zwei weitere Besonderheiten dazu, die Henking dazu veranlassen, die Ärzte nicht an die Norm gebunden zu sehen. Es handelt sich um keine gebundene Entscheidung, vielmehr räumt die Ermächtigungsnorm dem Arzt einen Ermessensspielraum ein. Zudem habe das BVerfG klare Anforderungen erstellt, wie eine verfassungskonforme Grundlage auszusehen hätte. Für sie komme daher nur noch der Nichtgebrauch der Norm in Betracht, so die Referentin.

Leichter zu beantworten sei die Frage, ob eine verfassungswidrige Ermächtigungsgrundlage zur Rechtfertigung eines Eingriffs dienen kann. Macht sich ein Arzt möglicherweise strafbar, wenn er eine Zwangsbehandlung durchführt? Da es für die Frage der Strafbarkeit nicht darauf ankomme, wer die Normverwerfungskompetenz hat, sondern darauf abzustellen sei, ob eine Person in die Rechte eines anderen eingreifen darf und dieser den Eingriff zu dulden hat, sei entscheidend, ob die Norm inhaltlich den Eingriff tragen und damit rechtfertigen kann. Das könne eine verfassungswidrige Norm nicht, hob die Referentin hervor.

In der Praxis tauche in diesem Zusammenhang häufig die Frage nach der Anwendbarkeit des § 34 StGB (Rechtfertigender Notstand) auf. Wenngleich es darum gehe, im Interesse des Betroffenen zu handeln, stünden sich dabei Rechtsgüter ein und derselben Person gegenüber: Persönlichkeitsrecht, Recht auf Selbstbestimmung, körperliche Integrität. Im Rahmen der Notstandsregelung nach § 34 ist eine Güter- und Interessenabwägung vorzunehmen. Diese zugunsten der Zwangsbehandlung zu wenden, hieße, das Selbstbestimmungsrecht weniger stark zu gewichten, obgleich es durch die Entscheidung des BVerfG eine Stärkung erfahren hat. Bisher haben lediglich Baden-Württemberg und Hamburg neue Regelungen erlassen, die jedoch beide daran krankten, die Zwangsbehandlung auch zum Drittschutz vorzusehen. Hingegen hatte das BVerfG eine Zwangsbehandlung zum Drittschutz für nicht zulässig erklärt, weil sie nicht erforderlich sei: Der Schutz Dritter könne durch die Unterbringung selbst erreicht werden. Henking hält daher einen umfassenden Drittschutz für unzulässig. Es blieben jedoch Fälle denkbar, in denen ein Schutz nur durch die medikamentöse Ruhigstellung erreichbar und soweit auch erforderlich sei. Es handle sich dann um keine Behandlung, sondern eine Sicherungsmaßnahme, die als solche zu benennen und zu regeln sei.

Komplexer gestalte sich wiederum die Frage, ob eine Unterbringung im Rahmen der PsychKG auch dann erfolgen kann, wenn es um die Wiederherstellung der Entlassungsfähigkeit geht. Das BVerfG hatte es für zulässig erklärt, eine Behandlung zum Erreichen des Vollzugsziels vorzunehmen. Das ließe sich übersetzen mit der Entlassungsfähigkeit für die Unterbringung nach den PsychKGs. Das BVerfG hat festgehalten, daß das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst den Eingriff rechtfertigen könnte.

Zugleich hat es aber auch betont, daß die Freiheitsgrundrechte auch das Recht einschließen, von der Freiheit auch in einer Form Gebrauch zu machen, die den Interessen des Grundrechtsträgers zuwiderzulaufen scheint. So gehöre es auch zur Freiheit des einzelnen zu entscheiden, ob er eine therapeutische Maßnahme durchführen lassen möchte oder nicht. Das Freiheitsrecht umfasse eben auch die Freiheit zur Krankheit und damit auch das Recht, Maßnahmen abzulehnen, auch wenn sie medizinisch dringend angezeigt sind.

Das BVerfG hat aber auch erklärt, daß die Betrachtung nicht losgelöst von den tatsächlichen Möglichkeiten des Grundrechtsträgers zu freier Willensbestimmung erfolgen darf. Dieses koppelt an der mangelnden Fähigkeit des Betroffenen an, also der fehlenden Einsicht in die Schwere seiner Krankheit und die Notwendigkeit der Behandlung. Unter diesen Voraussetzungen sei der Staat nicht generell verpflichtet, den Betroffenen dem Schicksal dauerhafter Freiheitsentziehung zu überlassen. Damit stelle sich das Problem, ob die Krankheit es dem Betroffenen versperrt, seine Belange wahrzunehmen, und somit ein Leben in Freiheit verhindert. Insoweit dürfe nach strikter Beachtung der Verhältnismäßigkeit ein Eingriff in die Rechte des Betroffenen erfolgen, weil, so das BVerfG, der Betroffene diese Rechte krankheitsbedingt übergewichtet.

Die Referentin verwies hier auf einen von ihr eingebrachten Regelungsvorschlag, der eine Zwangsbehandlung zur Wiedererlangung der Freiheit vorsieht, jene aber an enge Voraussetzungen wie insbesondere eine andernfalls drohende langfristige Unterbringung knüpft. Ohne derartige Voraussetzungen bestehe die Gefahr des Mißbrauchs, da Zwangsbehandlungen in zu großer Zahl begründet werden könnten. Die einzelnen Bundesländer sollten endlich ihrem Auftrag nachkommen und sich mit der Thematik befassen, da der Zustand der Rechtsunsicherheit für keine der beiden Seiten wünschenswert sei. Sie habe allerdings auch Verständnis für die Ärzte, die unsicher sind, welches Gesetz anwendbar ist, wenn sie einen schwerkranken Menschen in einer akuten Situation vor sich haben.

Neben der Arbeit am Gesetz und dem Finden einer verfassungskonformen Lösung geben die Entscheidungen des BVerfG vor allem Anlaß, die Zwangsbehandlung als solche zu reflektieren, so Henking. Insoweit warne sie auch davor, nach einer Neuregelung zu schnell zum Alltag zurückzukehren. Die Diskussion stehe noch am Anfang, und auch nach der Neuregelung bedürfe es weiterhin der Reflexion, was bereits aus der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und dem damit verbundenen Suchen nach milderen Mitteln, der Risiko-Nutzen-Abwägung und dem Ultima-ratio-Gedanken folge. Es müsse vor jeder Zwangsbehandlung eine genaue Prüfung ihrer Notwendigkeit erfolgen.

Beim Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Im Spannungsfeld zwischen sozialer Norm und individueller Freiheit
Foto: © 2013 by Schattenblick

Auch in ethischer Hinsicht hochbrisant

Auch in ethischer Hinsicht sei Zwangsbehandlung ein hochbrisantes Thema. Sei man sich bewußt, bei der Zwangsbehandlung einen massiven Eingriff in die Grundrechte vorzunehmen, verändere das den Abwägungsprozeß und mache im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung deutlich, welche Güter auf dem Spiel stehen. Damit sei nicht gesagt, daß Ärzte nicht mit ihrer Behandlung Gutes beabsichtigten, doch müsse ebenso dazugehören, Respekt vor den Rechten des Patienten zu haben. Liegt eine Einwilligungsfähigkeit vor, ist die ablehnende Haltung des Kranken zu akzeptieren, ob sie vernünftig erscheint oder nicht. Liegt Einwilligungsunfähigkeit vor, und lehnt der Patient die Behandlung ab, dann steht der natürliche Wille einer Behandlung entgegen. Wird sie dennoch durchgeführt, handelt es sich um Zwangsbehandlung, die sich nur dann rechtfertigen läßt, wenn dem Patienten erhebliche gesundheitliche Gefahr droht oder die Behandlung dazu dient, die Fähigkeit des Patienten zur selbstbestimmten Entscheidung wiederherzustellen.

Die Behandlung setzt dafür eine medizinische Indikation voraus, womit aber noch nicht gesagt sei, ob es auch eine medizinische Indikation zur Anwendung von Zwang gibt, so die Referentin. Ihr erschienen durchaus Fälle denkbar, in denen die Anwendung von Zwang trotz und gerade bei bestehender schwerer Erkrankung kontraindiziert ist. Die bloße Diagnose einer psychiatrischen Erkrankung und deren Behandlungsbedürftigkeit vermag die Anwendung von Zwang noch nicht zu rechtfertigen. Hier sei jeweils ganz individuell zu berücksichtigen, welche Biographie der Patient mitbringt. Für die Abwägung der Risiken und des Nutzens müsse auch bedacht werden, welchen Erfolg die Maßnahme überhaupt verspricht. Kann denn dem im Maßregelvollzug Untergebrachten mit ausgeprägter Persönlichkeitsstörung bei der zwangsweisen Gabe von Neuroleptika tatsächlich in Aussicht gestellt werden, daß er damit sein Vollzugsziel erreicht und entlassen werden kann? Und lassen sich Langzeitzwangsbehandlungen noch unter der Abwägung von Risiken und Nutzen rechtfertigen?

Künftig müsse stärker einfließen, welche Maßnahme der Patient selbst bevorzugt. Was ist tatsächlich das mildere Mittel - die medikamentöse Behandlung, die Fixierung, die Isolierung? Zudem sei zu bedenken, daß mit dem Erleben von Zwang auch ein Trauma einhergehen könne, das das Vertrauen in die psychiatrische Behandlung erschüttere oder zerstöre. Auch habe das BVerfG nicht zuletzt auf eine mögliche Überforderung der Mitarbeiter durch eine mangelnde Personalausstattung der Einrichtung hingewiesen, was von der psychiatrischen Ärzteschaft nur unzulänglich aufgegriffen worden sei. Da die Häufigkeit der Anwendung von Zwangsbehandlung von Einrichtung zu Einrichtung erheblich variiere, könne man sich kaum des Eindrucks erwehren, daß sie mehr von der Einrichtung als dem Patienten abhängt, so die Referentin.

Man müsse also an etlichen Stellschrauben im System drehen: Deeskalationsstrategien, Empathie und Kreativität, regelmäßige Schulung der Mitarbeiter, unterschiedliche Maßnahmen für unterschiedliche Patienten, direkte Befragung des Patienten dazu, Schulung von Patienten zur Früherkennung von Rückfällen, mehr Personal, Behandlung des Patienten zu Hause, Nachbesprechung von Zwangsbehandlungen im Team wie auch mit dem Betroffenen selbst, Einbeziehung des sozialen Umfelds in die Behandlung. Dies erfordere eine andere Mittelverteilung im Gesundheitssystem und setze die Bereitschaft der Mitwirkenden voraus. Diese hänge mit dem Bewußtsein der Eingriffstiefe und der emotionalen Belastung einer Zwangsbelastung zusammen.

Die Autonomie des Patienten genieße im medizinethischen Diskurs einen besonders hohen Stellenwert. Respekt vor der Autonomie steht an erster Stelle, gefolgt vom Nichtschadensgebot, der Fürsorge und der Gerechtigkeit. An Respekt vor der Autonomie des Patienten scheine es aber im psychiatrischen Bereich zu fehlen, da Menschen im Verlauf ihrer Krankheit in ihrem Willen nicht frei seien. Ihre Selbstbestimmungsfähigkeit sei beeinträchtigt oder werde von der Krankheit beeinflußt. Dennoch gelte es, im Interesse des Patienten zu handeln, das über den mutmaßlichen Willen oder eine Behandlungsvereinbarung zu ermitteln sei. Nach einer akuten Phase könne man mit dem Patienten klären, wie er bei Wiederauftreten einer Krise behandelt werden möchte. Man müsse auch einbeziehen, wieviel von der Person die Krankheit überdeckt und wieviel Krankheit zur Person gehört. Man habe in der Psychiatrie eine höchst verletzliche Patientengruppe vor Augen, so daß Fürsorge schnell in Gefahr laufe, paternalistische Züge anzunehmen.

Dennoch sei der Fürsorgegedanke von großer Bedeutung, wozu aber auch gehöre, die Rechte des Patienten einzubeziehen. Welche Bedeutung hat ihr Veto, wenn sie die Hilfe ablehnen? Was liegt im mutmaßlichen Interesse der Person, könnte sie aktuell eine selbstbestimmte Entscheidung treffen? Es müsse auch bedacht werden, daß ohne Behandlung möglicherweise eine langfristige Unterbringung oder eine Chronifizierung drohen kann. Dies leitet direkt über zum Nichtschadensgebot. Hier sei abzuwägen, was mehr schadet: Die Behandlung zu unterlassen oder die Behandlung unter Zwang durchzuführen. Zudem diene die Psychiatrie der Gefahrenabwehr, indem sie psychisch kranke Personen, von denen Gefahr ausgehen könnte, einsperrt. Das mache die Doppelrolle der Ärzte so schwierig und komplex. Letztlich müsse es darum gehen, Zwang zu vermeiden. Dafür müßten alte Routinen aufgebrochen und neue Wege gesucht werden. Das Gespräch mit dem Patienten bleibe eines der wichtigsten Instrumente einer Arzt-Patienten-Beziehung, schloß Tanja Henking ihren Vortrag.

Miriam Krücke und Tanja Henking - Foto: © 2013 by Schattenblick

Miriam Krücke moderiert die Diskussion
Foto: © 2013 by Schattenblick

Kritische Einwände aus berufenem Munde

In der anschließenden Diskussion wurden aus dem Kreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer Zweifel und Einwände zur sogenannten krankheitsbedingten Einsichtsunfähigkeit, der fragwürdigen wissenschaftlichen Grundlage des Begriffs der psychischen Krankheit, den angeblich milderen Mitteln sowie einer Zulassung und zwangsweisen Verabreichung von Medikamenten letztlich ungesicherter Wirkung laut. Ein Teilnehmer erklärte, der Vortrag sei "befremdlich für uns, für den kleinen Mann" gewesen. Urteile des BVerfG würden stets im Interesse des Klassenstaats gefällt. Die Referentin habe fast andächtig von Gesetzen und vom BVerfG gesprochen: "Wir sollten unsere eigenen Interessen vertreten, nicht die von denen da oben."

Im Anschluß an den Vortrag konnte der Schattenblick im Rahmen eines kurzen Gesprächs mit Tanja Henking, das hier in Auszügen wiedergegeben wird, die das unmittelbare Thema des Referats betreffen, auch an die Debatte zwischen Referentin und Publikum anknüpfen.

Schattenblick: Die Diskussion nach Ihrem Vortrag wurde von den Betroffenen sehr turbulent und temperamentvoll geführt, nicht unbedingt immer der Linie des Themas folgend, aber doch mit sehr viel Engagement. Wie haben Sie das erlebt?

Tanja Henking: Um ehrlich zu sein, hatte ich eine turbulentere Diskussion erwartet. Während meines Vortrags haben zwar alle sehr konzentriert zugehört, was mich schon erstaunt hat, weil der Vortrag mit 50 Minuten sehr lang war, aber in der anschließenden Diskussion herrschte offenbar das Bedürfnis vor, dem Publikum vor allem die eigenen Erfahrungen mitzuteilen. Mag sein, daß so mancher wegen der kurzen Diskussionszeit das Gefühl hatte, sonst nicht zu Wort zu kommen.

SB: In den Lebenserfahrungen kommt sehr stark zum Ausdruck, daß diesen Menschen Unrecht angetan wurde. Zum Teil wendete sich dieser Unmut auch gegen die Referentinnen und Referenten, offenbar aus dem Gefühl heraus, daß der Rechtscharakter der Vorträge nicht mit der von ihnen erlittenen Ungerechtigkeit zusammenpaßt.

TH: Ja, in einem der letzten Wortbeiträge hieß es, was interessiert mich das Bundesverfassungsgericht, ich bin ja nur ein kleiner Mann, der in der Psychiatrie ist. Möglicherweise habe ich an der Stelle das idealere Vorstellungsbild, daß mit den Rechten auch Rechte verbürgt sind, die jedermann zukommen, und daß das Bundesverfassungsgerichtsurteil diese Rechte einerseits stärkt, aber andererseits auch verfahrensrechtlich absichert. Diese Option scheint denjenigen aus dem Publikum, die Wortbeiträge abgegeben haben, gar nicht zu Bewußtsein gekommen zu sein, nämlich daß mit der Änderung der Gesetzeslage auch ihre Rechte nochmal gestärkt werden, um Entscheidungen im psychiatrischen Betrieb zu kontrollieren.

SB: Sie haben als Juristin auch viel mit Ärzten zu tun. In Ihrem Vortrag deuteten Sie an, daß zwischen der juristischen und der ärztlichen Sicht auf bestimmte Sachverhalte Probleme der Vermittlung und der Deutungsmacht bestehen. Wie erklären Sie sich die Diskrepanz?

TH: Das ist schwierig zu beantworten. Letztendlich habe ich eher das Gefühl, daß eine Front aufgekommen ist zwischen den Patienten, insbesondere den Psychiatrieerfahrenen, und den größeren Berufsverbänden und daß beide Seiten vom Bundesverfassungsgericht nicht das bekommen haben, was sie wollten. Den einen ging es nicht weit genug, und den anderen ging es zu weit.

SB: In welchem Ausmaß müßte Ihrer Ansicht nach das Selbstbestimmungsrecht der Patienten in die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse eingebunden werden? Denn die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen spiegeln sich nicht unwesentlich an den Leistungsforderungen einer Gesellschaft wider. Wie kann ein Mensch angesichts dessen sagen, ich bestimme frei über das, was ich möchte?

TH: Das ist quasi die Frage, wieviel Selbstbestimmungsrecht unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt möglich ist. Als Juristin vertrete ich natürlich den Standpunkt, daß das Selbstbestimmungsrecht eines jeden im Grundgesetz abgesichert ist. Ich gehe erst einmal davon aus, daß jeder Mann und jede Frau das Recht hat, dieses Selbstbestimmungsrecht auszuüben, räume aber durchaus ein, daß sich mit Sicherheit bestimmte Konstellationen in der Gesellschaft vorfinden, die die Ausübung dieses Rechts behindern. Nur geht es hier gar nicht zwingend darum, welche gesellschaftlichen Konstruktionen das Selbstbestimmungsrecht behindern, sondern in der Debatte um die Zwangsbehandlung befassen wir uns letztendlich damit, ob die Person aufgrund ihrer Krankheit überhaupt in der Lage ist, dieses Recht für sich selber auszuüben. Denn womöglich fehlt es ihr an der Selbstbestimmungsfähigkeit, eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen und dabei zu bedenken, welche Umstände sie in die Entscheidung einfließen lassen sollte.

SB: Gibt es aus Ihrer Sicht eine begrüßenswerte Entwicklung in der laufenden Debatte, wie zum Beispiel, daß ethische Standpunkte verstärkt werden?

TH: Die Autonomie des Patienten ist ein hoher Wert in der medizinethischen Debatte. Dieses oberste Leitprinzip habe ich in meinem Vortrag auch darzulegen versucht. Nur haben wir in der psychiatrischen Behandlung das Problem, daß wir nicht von durchgehend autonomen Personen sprechen.

Legalisierung der Zwangsbehandlung durch die Hintertür?

Dem Auszug aus dem Interview möchte der Redakteur dieses Beitrags folgende Schlußbemerkung anfügen: So naheliegend es anmuten mag, in der psychiatrischen Behandlung von nicht durchgehend autonomen Personen auszugehen, schneidet doch der Rekurs auf unter welchen Voraussetzungen auch immer anzuwendende Zwangsmaßnahmen weiterführende Fragen nach dem grundsätzlichen Zwangscharakter der betreffenden Institutionen, des zugrundegelegten Krankheitsbegriffs und des Therapiezwecks wie auch den Interessen der beteiligten Berufsstände ab. Zunächst fast unmerklich wie ein feiner Riß, doch in der Konsequenz auswachsend zu einer tiefen Kluft, treibt der akzeptierte Fortbestand von Zwangsanwendung einen Keil in das Bemühen, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Ausgangspunkt des Kampfs gegen das zu nehmen, was die höchstrichterliche Entscheidung mit ihren Ausnahmen vom Zwangsverbot als Hintertür gezielt offengelassen hat: Eine Legalisierung der Entmächtigung des Psychiatrieinsassen auf höherer Ebene, die ihm formal das Recht auf Selbstbestimmung zuerkennt, um es ihm dann per krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit um so unwiderruflicher zu entwenden.

Stadtpanorama mit Einkaufszentrum und Bürogebäude - Foto: © 2013 by Schattenblick

Blick von der Universität Essen auf den Berliner Platz
Foto: © 2013 by Schattenblick

Fußnote:

Bisherige Beiträge zur Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/003: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Keine Fesseln und Gewalt (SB)
BERICHT/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Unfixiert und nicht allein (SB)
INTERVIEW/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Geschlossene Gesellschaft, Dr. David Schneider-Addae-Mensah im Gespräch (SB)
INTERVIEW/008: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Langsam von der Leine lassen, Dr. Piet Westdijk im Gespräch (SB)


3. März 2014