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BERICHT/006: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Herrschaft, Brüche, Pharmafessel (SB)


Humanisierung statt Medikalisierung der Gesellschaft

Konferenz am 22./23. November 2013 in der Universität Essen



Die pharmazeutische Regulation psychischer Probleme scheint der Konsumgesellschaft so adäquat zu sein wie das per Mikrowelle in Sekundenschnelle verzehrfähig gemachte Convenience Food oder andere Instant-Produkte, deren hervorstechendes Merkmal sofortiger Gebrauch ist. Unverzögert vonstatten gehen sollen nicht nur reproduktive Notwendigkeiten, die von einem ganzen Heer dienstbarer Geister befriedigt werden, auch soziale Kontakte werden dem Primat der Beschleunigung unterworfen. Der flüchtige Abtausch in sozialen Netzwerken und durch Messengerdienste bedarf des Aufwandes nicht, sich Auge in Auge gegenüberzutreten. Eine Kultur der Unverbindlichkeit fördert die Vereinzelung der Menschen in zeitlich wie räumlich disparaten Lebenswelten. Affektive Animation kann die Empathie des direkten Sprechens und Berührens nicht ersetzen. Der Zweck der atomisierten Arbeitsgesellschaft, funktional definierte Leistungspotentiale in den Produktionsprozeß einspeisen zu können und den Menschen als Marktsubjekt auf eine Rechengröße im betriebswirtschaftlichen Kalkül zu reduzieren, bringt denn auch eine anwachsende Zahl psychischer Störungen hervor.

Um die breite Palette seelischer Erschöpfungszustände und psychischen Elends zu erfassen, ist es mit einer groben Kategorisierung zwischen Neurose und Psychose längst nicht mehr getan. Ein buntes Bouquet immer weiter ausdifferenzierter Krankheitsbilder, schlagwortartig adressiert etwa als ADHS, Burnout, borderline oder bipolar, zeugt von der schöpferischen Leistung der damit befaßten Berufsstände. Die letztjährige Neuauflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), des von der American Psychiatric Association (APA) herausgegebenen Katalogs psychischer Störungen, treibt die schon zuvor beeindruckende Phalanx kategorialer Zuschreibungen abweichenden Verhaltens in neue Höhen diagnostischer Vielfalt. Werden die Menschen immer kränker, nimmt die Belastbarkeit ihrer Psyche ab, oder wird die inflationäre Zunahme psychischer Krankheitsbilder von ganz anderen Kräften wie etwa dem Wachstumsinteresse der pharmazeutischen Industrie angetrieben?

Rund 6 Prozent der Lohnabhängigen in der Bundesrepublik sind emotional so erschöpft und niedergeschlagen, daß sie als behandlungsbedürftig gelten, was die Depression zur zweithäufigsten Ursache festgestellter Arbeitsunfähigkeit nach dem Herzinfarkt macht. Der dadurch angerichtete volkswirtschaftliche Schaden hat zahlreiche Experten auf den Plan gerufen, denen allerdings auch nicht viel mehr einzufallen scheint, als das der Vielfalt diagnostischer Kriterien entsprechend gefächerte Angebot der Pharmaindustrie in Anspruch zu nehmen. Obwohl Befund und Behandlung nachgerade idealiter ineinandergreifen, nehmen die psychischen Probleme nicht ab. Sie auf medikamentöse Weise im Zaum zu halten, ist jedoch kein Akt des unbeschwerten Konsums, sondern zeitigt auch Folgen, die als sogenannte Nebenwirkungen nicht dem beabsichtigten Behandlungsergebnis entsprechen, aber offensichtlich untrennbar von dem chemischen Eingriff in die somatische Sphäre seelischer Befindlichkeiten sind.

Handgeschriebene Ankündigung des Vortrags - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

Wo die Apparatemedizin leerläuft, schlägt die Stunde der Pharmaindustrie

Als "Mother's Little Helper" besangen die Rolling Stones 1965 jene "kleine gelbe Pille", deren Wirkstoff Benzodiazepin wenige Jahre zuvor entwickelt worden war und als sogenannter Tranquilizer unter verschiedenen Handelsnamen eine universale medikamentöse Antwort auf die vermeintlichen Kollateralschäden der modernen Leistungsgesellschaft gab. Mit diesem Titel war auch der Vortrag überschrieben, in dem Kathrin Vogler, Abgeordnete der Linksfraktion im Bundestag und stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, über "die Medikalisierung der Gesellschaft und Möglichkeiten des Widerstands" sprach. Sie eröffnete ihre Überlegungen mit einer Fallgeschichte, die sie persönlich erlebt hatte.

Es war die Geschichte ihrer eigenen Mutter, deren Ängste, Depressionen und Schlafstörungen weniger Ursache der ihr verordneten Einnahme von Benzodiazepin als deren Ergebnis waren. Der Hausarzt, der ihr das Mittel verschrieb, hatte dessen langfristige Verabreichung verschwiegen, so daß Kathrin Voglers Mutter noch im hohen Alter einen lebensgefährlichen kalten Entzug im Krankenhaus durchleiden mußte. Der hochgradig suchtbildende Charakter des weitverbreiteten Psychopharmakons war dem Arzt wohlbekannt gewesen, gab er doch an, er wollte der alten Dame bei all ihren sonstigen körperlichen Erkrankungen und ihrer schwierigen Lebenssituation nicht auch noch einen Entzug zumuten.

Sogenannte Nebenwirkungen des Benzodiazepins wie die Dämpfung des Atemzentrums und des Hunger- wie Durstgefühls oder die Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens und der Orientierung können bei alten Menschen fatale Folgen haben. So lag im geschilderten Fall bereits eine asthmatische Erkrankung vor, die durch das Medikament verschlimmert werden kann. Auch wurde die Patientin mehrmals dehydriert ins Krankenhaus eingeliefert, und gerade im Alter kann jede Einschränkung der Aufmerksamkeit zu Stürzen führen, die die Handlungsfähigkeit der Betroffenen erheblich einschränken. Daß der dauerhafte Gebrauch dieses Tranquilizers Symptome wie Unruhe, Verwirrtheit und Angstzustände, die er eigentlich beseitigen soll, auch noch verstärken kann, schmälert seinen Nutzen noch weiter.

Die Referentin nahm dieses Beispiel aus ihrem eigenen Leben zum Anlaß, die negativen Auswirkungen des Einsatzes von Psychopharmaka darzustellen. Mehr als vier von zehn gesetzlich Versicherten über 65 Jahre erhalten regelmäßig mehr als fünf Medikamente, obwohl die Risiken des Medikamentengebrauchs bei älteren Menschen, die deren Wirkstoffe nicht mehr so schnell verstoffwechseln können, zunehmen. Etwa fünf Prozent aller Krankenhauseinweisungen haben ihre Ursache in unerwünschten Nebenwirkungen, bei Patientinnen und Patienten in stationären Pflegeeinrichtungen sollen es sogar bis zu zehn Prozent sein. Zwischen 1,5 und 1,9 Millionen Menschen sollen in der Bundesrepublik unter Medikamentenabhängigkeit leiden, davon sind allein 1,2 Millionen benzodiazepinabhängig. Auch soll ein Zusammenhang zwischen dieser Medikation und Demenz bestehen, so Vogler unter Verweis auf einen Arzneimittelreport der Barmer Ersatzkasse.

Die Verabreichung von Tranquilizern in der Altenpflege stellt ein besonderes Problem dar, da sie negative Auswirkungen gerade bei dieser Personengruppe haben, ihr Einsatz jedoch die aus Gründen unzureichender Bemittelung ungenügende Betreuung pflegebedürftiger Menschen kompensiert. Der Pflegenotstand erkläre dies zwar, könne diese Praxis aber nicht legitimieren. Wenn für freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie anbinden - was die Referentin ausdrücklich nicht "fixieren" nennt - am Bettgitter oder einschließen eine richterliche Erlaubnis erforderlich ist, dann müsse das eigentlich auch für die Verordnung dieser Psychopharmaka gelten, erzeugten sie den Effekt der Fesselung doch auf unsichtbare Weise. So finde eine bedenkliche Verlagerung von der physischen Gewalt hin zur chemischen Gewalt statt, durch die aus menschenrechtlicher Sicht nicht nur nichts gewonnen ist, sondern auch noch die gesundheitlichen Gefahren der Medikamentierung in Kauf genommen werden müssen.

Bei Kindern und Jugendlichen habe die Verordnung von Psychopharmaka in den letzten Jahren deutlich zugenommen, erklärte Vogler anhand einer Angabe der AOK Hessen. Dort stellte man von 2000 bis 2006 einen Anstieg um 50 Prozent bei der Verordnung von Neuroleptika an Kinder und Jugendliche fest. Diese Mittel würden in der Regel nicht durch die Fachärzte, sondern normale Kinder- und Jugendärzte verordnet. Mit 1,7 Tonnen Methylphenidat pro Jahr wird in der Bundesrepublik gegen die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu Felde gezogen, wobei die Praxis, eine gesicherte Diagnose auch dadurch herbeizuführen, daß die Wirksamkeit des Medikaments bei der untersuchten Person geprüft wird, eine besonders zweckdienliche Affinität zwischen dem Symptomenkomplex ADHS und seinem angeblichen Therapeutikum nahelegt.

Fast 50 Prozent der Kindern und Jugendlichen verschriebenen Neuroleptika werden aufgrund einer ADHS-Diagnose verordnet, 30 Prozent wegen Störung des Sozialverhaltens, als nächstgrößere Indikation werden Depression und Angststörung genannt. Dies erfolgt bei Feststellung von "Störungsbildern, für die Antipsychotika keine Indikation haben beziehungsweise für die Leitlinien den Einsatz von Antipsychotika nicht empfehlen" [1]. Dabei sei in den Jahren, in denen die Verordnung von Psychopharmaka an Kinder und Jugendliche massiv zugenommen hat, keine Zunahme psychiatrischer Erkrankungen festzustellen. Da es nicht mehr Diagnosen gegeben habe als zuvor und es auch zu keiner Änderung der Behandlungsleitlinien gekommen sei, stelle sich die Frage nach der Ursache des immens gestiegenen Bedarfs an Psychopharmaka.

Kathrin Vogler ist nach Lektüre einschlägiger Untersuchungen der Krankenkassen zum Arzneimittelverbrauch zu dem Schluß gelangt, daß die Marktstrategien der Pharmaindustrie eine der wesentlichen Ursachen dieser Entwicklung seien. Dabei würden mit dem Argument des zeitsparenden und effizienten Einsatzes dieser auch Antipsychotika genannten Medikamentengruppe auch Off-Label-Verordnungen beworben. Der Einsatz von Neuroleptika führe teilweise zu starker Zunahme des Körpergewichts, kann aber auch die kognitiven Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen. Methylphenidat wiederum hemmt das Wachstum und dämpft den Appetit, was ebenfalls nachteilig für die Entwicklung jener 2,2 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sein könne, die diese Mittel zum Teil über Jahre einnehmen.

Im Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Kathrin Vogler
Foto: © 2013 by Schattenblick

Das Problem einer der Patientin oder dem Patienten nicht zum Vorteil gereichenden Medikamentierung zu individualisieren, greife zu kurz, meint Vogler in Anbetracht eines gesellschaftlichen Problems, zu dessen Bewältigung dementsprechend politische Strategien zu ergreifen seien. In erster Linie gehe es darum, die krankmachenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der kapitalistischen Gesellschaft zu untersuchen und zu verändern. Die Verdichtung der Arbeitsintensität, unregelmäßige Arbeitszeiten, prekäre Arbeitsverhältnisse und sozialer Streß führen bei Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeitern ebenso zu psychischem Elend, wie es die Perspektivlosigkeit bei Erwerbslosen tut.

Schon im Kindesalter sorge das selektive Schulsystem für einen Leistungsdruck, an dessen Entstehung auch die Eltern teilhaben, die ihre Kinder unter allen Umständen auf das Gymnasium schicken wollen. Anstatt Leistung und Effizienz in den Mittelpunkt zu stellen, sei ein inklusives Schulsystem zu schaffen, das den Druck von den Kindern und den Eltern nimmt. Es gehe darum, individuelle Stärken zu fördern, anstatt Kinder immer an ihren Schwächen zu messen und sie weitestmöglich auszusortieren, um quasi sortenreine Schulklassen zu schaffen.

Gegen die zerstörerischen Arbeitsbedingungen seien Formen der Arbeit zu schaffen, die den Menschen weder unter- noch überfordern. Sie sollten ihm nicht nur ein sicheres Einkommen bescheren, sondern auch eine stabile soziale Erziehung, Zeit für Familie und Freundschaften, Teilhabe an Bildung und Kultur, körperliche Bewegung und sinnvolle Freizeitgestaltung ermöglichen. Dringend erforderlich sei ein gesetzlicher Mindestlohn in angemessener Höhe, die gesetzliche Festlegung der Höchstarbeitszeit und ein Verbot der Befristung von Arbeitsplätzen zumindest dort, wo es offenkundig darum gehe, die Beschäftigten in Angst und Schrecken zu halten.

Für die Pflegearbeit kämpfe gerade Die Linke für eine Mindestbemessung des Personals. Das entlastet zum einen die Pflegerinnen und Pfleger, die aufgrund der starken Arbeitsbelastung mit einem sehr hohen Krankenstand zu kämpfen haben, wodurch das übrige Personal noch stärker eingespannt wird. Immer mehr Menschen würden arbeitsunfähig nicht nur durch psychische Erkrankungen, sondern auch durch belastungsbedingte körperliche Schäden insbesondere des Bewegungsapparates. Ohne mehr und besser bezahltes Personal in den Heimen und zur Entlastung der Angehörigen zu bekommen, sei gegen die chemische Gewalt der Pharmafixierung wenig auszurichten.

Zudem müsse mehr hinterfragt werden, was überhaupt eine behandlungsbedürftige Krankheit und was eine gesellschaftlich verkraftbare Verrücktheit im Sinne einer tolerablen Abweichung von der Norm sei. Da bei psychischen Fragen stets das individuelle und gesellschaftliche Empfinden im Vordergrund stehe, eigneten sich psychologische Phänomene besonders gut dazu, sie zu behandlungsbedürftigen Krankheitszuständen zu erklären. Statt dessen gelte es, Räume zu schaffen, in denen Menschen die Möglichkeit haben, derartige Zustände und Episoden so auszuleben, daß andere dadurch nicht zu sehr belastet werden und die Probleme der Betroffenen selbst nicht überhandnehmen.

Schließlich müsse der Einfluß der Pharmaindustrie zurückgedrängt werden, so Vogler unter Verweis auf die "Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte" MEZIS - Mein Essen Zahl Ich Selbst [2], deren Fördermitglied sie ist. Die etwa 700 dort organisierten Ärztinnen und Ärzte nehmen keine Geschenke, keine kostenlose Fortbildung und auch kein Mittagessen von der Pharmaindustrie an. Sie antworten damit auf ihre Weise auf den Sachverhalt, daß jeden Tag ungefähr 16.000 Pharmareferentinnen und -referenten in Deutschland durch die Arztpraxen und Kliniken ziehen, um die Produkte ihres Unternehmens verkaufen.

Abschließend kritisierte Kathrin Vogler die geplante Einführung des Pauschalisierten Entgelt-Systems für Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP). Es handelt sich um ein Konzept der sogenannten Gesundheitswirtschaft, das die Kosten der Behandlung und Unterbringung von Patientinnen und Patienten durch Fallpauschalen senken soll. Indem die Kliniken nicht mehr den individuellen Aufwand erstattet bekommen, der bei Therapie und Nachsorge anfällt, sondern in Fallgruppen pauschalisiert abgerechnet wird, wirkt sich eine schnelle Entlassung positiv auf die Bilanz der Krankenhauskonzerne aus. Eine zu früh abgebrochene stationäre Behandlung kann jedoch zu einer schnellen Wiedereinweisung in die Klinik führen, was für die betroffene Person gesundheitsschädliche Folgen haben kann, dem Krankenhaus jedoch die Möglichkeit eröffnet, bei einer erneuten Aufnahme einen weiteren Fall abzurechnen.

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Dem Tauschwert Leben abgewinnen ...
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Ware Mensch - Krankheit als Produktivfaktor

Die drastische Zunahme psychischer Erkrankungen legt nahe, daß die Krise des Kapitals auch als Krise seiner atomisierten Subjekte manifest wird. Richtete sich der Widerstand gegen entfremdete Arbeit einst auch dagegen, daß die Institution der Psychiatrie Krankheit als Produktivfaktor bewirtschaftet, so wird heute bestenfalls die Forderung nach weniger zerstörerischen Bedingungen mehrwertproduzierender Lohnarbeit erhoben. Während die Verallgemeinerung marktwirtschaftlicher Konkurrenz auf alle Lebensbereiche die sozialen Beziehungen zwischen Menschen zunehmender Isolation und wahnhafter Projektion aussetzt, hinkt die Erkenntnis der Gründe psychischen Elends nicht nur aufgrund der Biologisierung der damit befaßten Wissenschaften immer weiter seiner zerstörerischen Wirkung hinterher.

Dabei liegt gerade im Bereich der pharmazeutischen Behandlung sogenannter Geisteskrankheiten nahe, daß das Mißverhältnis zwischen kaum objektivierbarem Befund und bisweilen massiver medikamentöser Intervention den Zwang reproduziert, dem der beschädigte Mensch durch die Flucht in die Psychose ausweichen will. Den die persönlichen Kontakte kontaminierenden Warencharakter kapitalistischer Vergesellschaftung nicht auszuhalten und die sozialen Zwangsverhältnisse entfremdeter Arbeit erst recht unerträglich zu finden, als unerwünschte Abweichung zu therapieren, heißt allerdings auch, eine im Kern ganz und gar menschliche Reaktion zu unterdrücken. Werden Psychopharmaka zur bloßen Unterdrückung unerwünschten Verhaltens eingesetzt, dann offenkundig in einem Interesse, dem der Mensch als autonomes, seine Subjektivität verteidigendes und entwickelndes Wesen lediglich ein Störfaktor im Getriebe der Produktivitätserfordernisse ist. Geschieht dies im Verbund mit einer Psychotherapie, die die medikamentöse Wirkung lediglich behaviouristisch ergänzt, anstatt von pharmazeutischen Prothesen zu emanzipieren, dann ändert das am Charakter einer Anpassung an widersprüchliche Verhältnisse produzierenden Maßnahme nichts.

Eine die Befreiung des Menschen von Zwang und Gewalt bezweckende Kritik der Psychiatrie und der von ihren Diagnosen gespeisten Kapitalverwertung wäre demnach nicht von einer Kritik der gesellschaftlichen Kultur und politischen Ökonomie zu trennen. Auch wenn dies unter den herrschenden Bedingungen einer Mangelverwaltung, die das kleinere Übel als gerade noch erreichbares Ziel linker Politik erscheinen läßt, fast utopisch erscheint, gilt es nicht zu vergessen, wie sehr das propagierte Menschenbild des Homo oeconomicus und seiner marktrationalen Identität eine Immunreaktion auf die Geschichte der Klassenkämpfe ist. Dies nicht aus den Augen zu verlieren, aktiviert das reichhaltige Potential menschlicher Subjektivität und macht Mut, gegen die Anpassung und Unterwerfung einfordernde Androhung und Anwendung psychiatrischer Zwangsmaßnahmen Widerstand zu leisten.

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Fußnoten:

[1] http://www.aerzteblatt.de/archiv/152852/Antipsychotika-Verordnungen-bei-Kindern-und-Jugendlichen-Auswertung-von-Daten-einer-gesetzlichen-Krankenkasse-fuer-den-Zeitraum-2005-2012

[2] http://www.mezis.de/pharmakritische-zeitschriften-34.html


Bisherige Beiträge zur Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/003: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Keine Fesseln und Gewalt (SB)
BERICHT/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Unfixiert und nicht allein (SB)
BERICHT/005: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Faule Kompromisse? (SB)
INTERVIEW/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Geschlossene Gesellschaft, Dr. David Schneider-Addae-Mensah im Gespräch (SB)
INTERVIEW/008: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Langsam von der Leine lassen, Dr. Piet Westdijk im Gespräch (SB)

5. März 2014