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BERICHT/007: Eingesperrt erzieht sich nicht - Ohne Zaun und Pforte (SB)


"Alternativen zur Geschlossenen Unterbringung"

Fachtagung am 19. Februar 2014 im Hamburger Rathaus



Die geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen ist die Ultima ratio einer Zwangserziehung, die die Opfer sozialer Verwerfungen in repressiven Gewahrsam nimmt. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Primat ökonomischer Stärke der deutschen Arbeitsgesellschaft, die ihre Dominanz in Europa mit forcierter Auspressung der Arbeitskraft und einer Ausgrenzung für überflüssig erklärter Existenzen erwirtschaftet. Der Sozialstaat mit einer gewissen Verantwortung für einen Mindeststandard an Lebensmöglichkeiten wurde zugunsten sogenannter Eigenverantwortung entsorgt, einem Synonym für Bezichtigung, Spaltung und Isolierung der Menschen.

Wie der im Spätherbst 2013 veröffentlichte Sozialreport [1] belegt, ist die Lage am Arbeitsmarkt nur auf den ersten Blick gut, da die Armut steigt. Wenngleich mehr Menschen als je zuvor in Deutschland einen Job hatten und die Beschäftigung sieben Jahre in Folge gestiegen ist, hat diese Entwicklung keineswegs zu allgemeinem Wohlstand geführt. Trotz des Beschäftigungsbooms sind heute mehr Menschen von Armut bedroht. So war die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden 2012 niedriger als 1991, da immer mehr Menschen mangels anderer Alternativen in Teilzeit tätig sind. Deutlich zugenommen haben Beschäftigungsverhältnisse, die nicht mit Vollarbeit verbunden sind, also befristete Beschäftigung, Teilzeitbeschäftigung, geringfügige Beschäftigung sowie Zeit- und Leiharbeit. So waren im Jahr 2012 insgesamt 22 Prozent der Erwerbstätigen atypisch beschäftigt. In erster Linie betrifft das mit 33 Prozent Frauen und junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren (ebenfalls 33 Prozent) sowie Menschen ohne Berufsabschluß (37 Prozent).

Mit dieser Entwicklung korreliert das Armutsrisiko, das zwar bei Arbeitslosen nach wie vor am größten ist (69,3 Prozent), doch längst auch Erwerbstätige in Mitleidenschaft zieht. Insgesamt betrug 2011 der Anteil armutsgefährdeter Personen an der erwerbsfähigen Bevölkerung 16,1 Prozent. Die Chance, dieser Situation zu entkommen, ist gesunken: Zählten im Jahr 2000 nur 27 Prozent all derer, die unter der Armutsgefährdungsquote lagen, zu den dauerhaft von Armut Betroffenen (mindestens vier Jahre), betrug deren Anteil im Jahr 2011 bereits 40 Prozent. Die zunehmende Armut hat auch wachsende gesundheitliche Ungleichheiten und insbesondere eine geringere Lebenserwartung zur Folge. So liegt die mittlere Lebenserwartung bei Geburt von Männern der niedrigen Einkommensgruppe fast elf Jahre unter der von Männern der hohen Einkommensgruppe. Bei Frauen beträgt diese Differenz rund acht Jahre.

Kinder und Jugendliche, die einer geschlossenen Unterbringung unterworfen sind, entstammen größtenteils armutsgefährdeten Familien, häufig schwierigen Familienverhältnissen. Sie sind Opfer kaum zu bewältigender Lebensumstände, die mit einem dramatischen Abbau der Möglichkeiten sozialer Kompensation und Entlastung verbunden sind. Da mit der Verelendung wachsender Teile der Bevölkerung ein dramatischer Abbau von Sozialleistungen einhergeht, ist auch der Reparaturbetrieb der herrschenden Verhältnisse in seinen Mitteln und Möglichkeiten radikal beschnitten worden.

Wenngleich einige Bundesländer wie Hamburg formal auf die geschlossene Unterbringung verzichten, heißt das doch keineswegs, daß diese Schritt für Schritt abgeschafft würde. Das Gegenteil ist der Fall, da diese Länder die betroffenen Kinder und Jugendlichen dahin verfrachten, wo die Zwangsverwahrung in konzentrierter Form durchgeführt wird. So wurde Anfang 2013 die gewalttätige Disziplinierung in Heimen der Haasenburg GmbH in Brandenburg bekannt, die an die schlimmsten Exzesse der sogenannten "alten" Heimerziehung erinnerte. Wenngleich es dem "Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung" gelang, die zuständigen Behörden in Hamburg und Brandenburg so unter Druck zu setzen, daß die drei Heime der Haasenburg Ende 2013 geschlossen werden mußten, ist das doch nur ein Etappensieg. Nach wie vor gibt es über 400 Plätze geschlossener Unterbringung und schätzungsweise einige 1000 weitere Plätze in der Grauzone unterschiedlicher Formen von Aus- und Einschließung. [2]

Teilnehmer des Podiums siehe Text - Foto: © 2014 by Schattenblick

Hochkarätig besetztes Podium zur Kritik an geschlossener Unterbringung
Foto: © 2014 by Schattenblick

Soziale Abgründe in herrschaftlicher Kulisse verhandelt

Da eine Mehrheit der deutschen Politik und Gesellschaft die geschlossene Unterbringung nach wie vor favorisiert, ergriff die Partei Die Linke die Initiative, in mehreren Veranstaltungen nach Alternativen zu geschlossener Unterbringung zu suchen und für ihre Realisierung zu werben. Eine erste derartige Veranstaltung fand am 3. Dezember 2013 in Potsdam statt, die zweite am 19. Februar 2014 in Hamburg. Weitere Fachtagungen sind auch in anderen Bundesländern geplant.

Die mit rund 130 Interessierten gute besuchte Fachtagung im Kaisersaal des Hamburger Rathauses zum Thema "Alternativen zur Geschlossenen Unterbringung" wurde von der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft organisiert. Auf dem Podium saßen Mehmet Yildiz (Die Linke), Michael Lindenberg (Rauhes Haus), Franziska Krömer (Hamburger Kinder- und Jugendhilfe e.V.), Torsten Krause (Die Linke Brandenburg), der Rechtsanwalt Mahmut Erdem und Eva Maria Lobermayer, die Mutter eines Jungen, der in ein Heim der Haasenburg GmbH verbracht und von ihr daraus befreit worden war. Moderiert wurde die Tagung von Prof. Dr. Timm Kunstreich, der dabei ein seltenes Beispiel gab, wie man Redebeiträge inhaltlich zusammenfaßt, den Fluß der Diskussion befördert und ohne Rückgriff auf Formalitäten gewährleistet, daß alle angemessen zu Wort kommen, die das wünschen.

Auf dem Podium - Foto: © 2014 by Schattenblick

Mehmet Yildiz
Foto: © 2014 by Schattenblick

Mehmet Yildiz, der als "Hausherr" die Anwesenden herzlich begrüßte, beschrieb die Hamburger Politik mit dem Motto "aus den Augen, aus dem Sinn". Kinder und Jugendliche wurden zur Zwangsunterbringung in die Haasenburg geschickt, deren Zustände vor allem Recherchen der taz publik machten. Er habe mit zahlreichen betroffenen Kindern und Jugendlichen gesprochen und dabei keinen getroffen, der kriminell gewesen wäre. Wie schon aus den Akten hervorgehe, hätten 40 Prozent von ihnen psychische Probleme. Es komme jedoch zu einer Kriminalisierung in der Öffentlichkeit, verbunden mit der Forderung nach geschlossener Unterbringung. Dabei gebe es konkrete Alternativen, die im weiteren Verlauf der Veranstaltung vorgestellt werden sollten. Erforderlich seien auch eine Entschädigung der Betroffenen und insbesondere ein Umdenken in der Gesellschaft, daß solche Verstöße gegen Kinder- und Menschenrechte nicht hinzunehmen sind. Weder dürften in Hamburg solche Heime eröffnet werden, noch Kinder und Jugendliche in andere Bundesländer zur Zwangsunterbringung abgeschoben werden. Darüber hinaus seien bundesweite Initiativen erforderlich, um die Kampagne gegen Zwangsunterbringung zu koordinieren und für die gesamte Bundesrepublik wirksam werden zu lassen.

Auf dem Podium - Foto: © 2014 by Schattenblick

Torsten Krause
Foto: © 2014 by Schattenblick

Torsten Krause gehört für die Partei Die Linke dem Landtag in Brandenburg an und ist dort Vorsitzender des Jugendausschusses. Er berichtete über die praktischen Konsequenzen der Haasenburg-Schließung: Verstärkung der Heimaufsicht sowie Qualifizierung aller Fachkräfte, die mit Heimerziehung zu tun haben. Nach diesem Erfolg müsse man nun dafür sorgen, daß sich so etwas nicht wiederholen kann. Der Bericht der Untersuchungskommission habe diverse Mißstände im Landesjugendamt und im Ministerium für Bildung und Jugend offengelegt: Akten wurden nicht ordentlich geführt, die Heimaufsicht war unterbesetzt, Auflagen an den Träger wurden nicht kontrolliert, man ging Beschwerden nicht konsequent nach. Erforderlich sei eine Trennung von Beratung und Genehmigung, und vor allem gelte es auf Bundesratsebene eine Beweisumkehr herbeizuführen, so daß es nicht länger die Kinder sind, die Mißstände beweisen müssen.

Auf dem Podium - Foto: © 2014 by Schattenblick

Mahmut Erdem, Michael Lindenberg
Foto: © 2014 by Schattenblick

Prof. Dr. Michael Lindenberg von der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie Hamburg, dem das "Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung" seit seiner Gründung 2003 ein Anliegen ist, machte klar, daß eine Alternative zur geschlossenen Unterbringung nicht in einer neuen Einrichtung und einer noch intensiveren Methodik liegen könne. Erforderlich sei vielmehr eine möglichst frühzeitige Unterbrechung der Eskalationen, die zu Zwangssituationen führen, die in geschlossene Unterbringung münden. Er warb für einen Kooperationspool, der von zwei Ideen ausgeht: Erstens solle nicht nur die Beantragung und Bewilligung, sondern auch die Durchführung in Händen der Stadt Hamburg bleiben. Zweitens solle die Last der "besonderen Fälle" auf mehrere Schultern verteilt werden. Der Vorschlag sieht im Prinzip vor, daß jeweils mehrere Träger über den Fall beraten und bei wechselnder Federführung die einzuleitenden Maßnahmen auch mit mehreren Trägern bewältigen. Diese Praxis habe bereits in den 1980er Jahren fast zehn Jahre lang funktioniert.

Auf dem Podium - Foto: © 2014 by Schattenblick

Franziska Krömer
Foto: © 2014 by Schattenblick

Franziska Krömer, pädagogische Leiterin der Hamburger Kinder- und Jugendhilfe e.V., machte an Beispielen aus ihrer Praxis deutlich, daß es möglich ist, durch entsprechende kollegiale Beratung Stigmatisierung und eskalierende Ausgrenzung zu verhindern. Nicht das Kind sei schwierig, sondern die Rahmenbedingungen, weshalb man nicht nur die Symptome sehen dürfe, sondern ihren Sinn verstehen müsse, um daraus geeignete Interventionen abzuleiten. Es gelte insbesondere, Lebensorte unter dem Aspekt der Betreuungskontinuität zu erhalten und die Kinder nicht ständig weiterzureichen. Dazu sei es wichtig, daß alle beteiligten Berufsgruppen ein Verständnis für die belastenden Lebenssituationen wie Armut, Arbeitslosigkeit, enge Wohnverhältnisse und Schulden entwickelten. Auch solle man den Blick nicht nur auf Defizite richten, sondern auf Schatzsuche gehen, also die Kompetenzen der Kinder, Jugendlichen und Familien, aber auch des Umfeldes erkennen. Die größte Herausforderung sei, den Kindern und Jugendlichen Mut zu machen und sie nicht allein zu lassen.

Der Rechtsanwalt Mahmut Erdem hob die besondere Bedeutung der Verfahren zur Sicherung der Kinderrechte hervor. Auch er unterstrich die Notwendigkeit, Ausgrenzungsprozesse so früh wie möglich zu stoppen. Die geschlossene Unterbringung sei die Ultima ratio, nachdem alle anderen Mittel ausgeschöpft sind. Unter Rot-Grün sei man in Hamburg der Meinung gewesen, daß noch nicht alle Mittel ausgeschöpft seien. Unter Schill wurde das Gesetz dann zur Anwendung gebracht, was vom Jugendamt und den Trägern mit Erleichterung aufgenommen worden sei. Die Verlegung in die Haasenburg sei rechtswidrig gewesen, weil die richterliche Genehmigung damit umgangen und die Eignungsprüfung der Einrichtung unterlassen wurde.

Auf dem Podium - Foto: © 2014 by Schattenblick

Maria Lobermeyer, Timm Kunstreich
Foto: © 2014 by Schattenblick

Wie Eva Maria Lobermeyer dem Schattenblick berichtete, habe sie beim Jugendamt ein totales Systemversagen erlebt. Man habe sie als Mutter massiv unter Druck gesetzt, was auch bei anderen Müttern geschehen sei. Durch den Kampf um ihren Sohn habe sie Kontakt zu vielen anderen Betroffenen bekommen und dafür gesorgt, daß die Kinder und Jugendlichen Strafanzeige erstatteten, aufgrund derer es zur Untersuchung kam. Theoretisch behielten die Erziehungsberechtigten zwar das Sorgerecht, doch in der Praxis sitze das Jugendamt am längeren Hebel. Man habe ihr mit dem Entzug des Sorgerechts gedroht, falls sie versuchen sollte, nach Brandenburg zu fahren und ihr Kind aus dem Heim zu holen. Sollte sie es dennoch wagen, komme die Polizei und bringe ihren Sohn in die Haasenburg zurück. Sie habe gar nichts mehr zu melden.

Zuerst habe sie aus Angst mitgespielt, später jedoch die Heimaufsicht in Hamburg in wöchentlichen Abständen über die unhaltbaren Zustände in der Haasenburg informiert. Sie habe versucht, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, aber keiner habe ihr zugehört. Das Schicksal der Kinder habe damals im Jugendamt niemanden interessiert. Heute sehe es zum Glück anders aus. Sie habe weitergekämpft, und das habe sich ausgezahlt. Sie könne nur jeder anderen Mutter oder jedem anderen Elternteil raten, ebenfalls zu kämpfen und niemals aufzugeben.

Stehend mit Mikrofon - Foto: © 2014 by Schattenblick

Zugewandte Moderation durch Timm Kunstreich
Foto: © 2014 by Schattenblick

Plädoyer für eine frühzeitige Konfliktbewältigung

An die Stellungnahmen der Podiumsteilnehmer schloß sich eine fast eineinhalbstündige Diskussion an, in der sachkundige Beiträge aus dem Publikum bestätigten, daß eine möglichst frühzeitige Konfliktbewältigung und die situationsspezifische Erarbeitung von Alternativen zu unerträglichen Situationen verbindlich gemacht werden sollten. Ein Schritt in diese Richtung könnte die Schaffung von unabhängigen Ombudsstellen sein, an die sich Betroffene wenden können. Timm Kunstreich schlug diesbezüglich vor, daß mit der Bewilligung einer Maßnahme zur Hilfe der Erziehung das Recht des Kindes oder Jugendlichen verbunden sein sollte, seine Stimme für die Wahl einer Ombudsperson aus dem Kreis der Personen zu geben, die für die Stärkung von Kinderrechten eintreten, ob das nun andere Jugendliche oder Erwachsene ihres Vertrauens seien.

Wie Ronald Prieß, Fachreferent für Kinder- und Jugendarbeit der Linksfraktion in Hamburg, berichtete, habe er Einsicht in die Akten der Haasenburg-Insassen genommen. Alle dort untergebrachten Kinder hätten in der Vorgeschichte ein Martyrium erlebt: Schlagende Väter, Scheidungskinder, alleinerziehende Mütter, Loyalitätskonflikte innerhalb der Familie, fast alle waren durch diverse Einrichtungen gelaufen, bis sie in der Haasenburg landeten. Beziehungen und Kontinuität waren so gut wie nicht vorhanden. Hinzu komme ein Jugendhilfesystem, das sich immer weiter spezialisiert und in der Privatisierung gewinnbringend umgesetzt wird: Die Haasenburg GmbH habe 2012 mit ihren drei Heimen einen Gewinn von über 3 Millionen Euro erwirtschaftet. Man solle im Blick behalten, daß soziale Arbeit nicht vermarktet werden dürfe. Keiner der Jugendlichen sei freiwillig in der Haasenburg gewesen, sie wurden alle zwangsvorgeführt und nicht als Rechtssubjekte gesehen.

Blick auf Publikum - Foto: © 2014 by Schattenblick

Beitrag aus dem Plenum - Ronald Prieß am Mikrofon
Foto: © 2014 by Schattenblick

Darüber hinaus sagte Ronald Prieß dem Schattenblick, daß Jugendliche unter dem Sanktionsregime Hartz IV sehr viel häufiger unter Strafmaßnahmen bis hin zur totalen Streichung der Zahlungen leiden als der Durchschnitt aller Hartz-IV-Empfänger. Bei der Suche nach einer Lehrstelle stehe nicht im Vordergrund, was der Jugendliche brauche, sei es eine Wohnung oder eine Therapie, sondern nur das Heranführen an Arbeit. Das führe dazu, daß ein Jugendlicher, der keine Wohnung oder kein Zimmer hat, wo er sich überhaupt erst einmal finden kann, auch nicht pünktlich zur Arbeit kommt. Es stehe ausschließlich die Verwertung des Jugendlichen durch Arbeit im Vordergrund und nicht das, was er als Rechtssubjekt braucht.

Er sei lange Leiter einer Kita gewesen. Der Ausbau der Kitas, den er grundsätzlich begrüße, werde in hohem Maße unter dem Stichwort geführt, daß man die Kinder fördert, weil es ja zukünftige Arbeitskräfte sind. Das schaffe ein enges Korsett schon für diese kleinen Kinder, das die ganze Gesellschaft umfasse. Diese Einstellung habe sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Er komme aus dem Stadtteil Ottensen, der früher eine Struktur von sehr vielen kleinen Geschäften aufwies. Wenn sein damaliger Pflegesohn Mist gebaut hatte, konnte man mit den Geschäftsinhabern reden, dann ging das nicht sofort an die Polizei. Wenn Jugendliche heutzutage bei einem Diebstahl im Einkaufszentrum erwischt werden, gebe es sofort eine Anzeige.

Auf die Frage nach seiner Bewertung des Symptomkomplexes ADSH bei Kindern und Jugendlichen bestätigte Prieß eine Dominanz des professionellen Interesses, im Spannungsfeld von Norm und Abweichung eine diagnostische Zuschreibung vorzunehmen. In seiner Zeit auf dem Bauspielplatz habe man einen Großteil der "Zappelphilippe" ohne Chemie hinbekommen. Er habe heute noch Kontakt zu ihnen und kenne keinen, der nicht zumindest einen Rahmen gefunden habe, um damit klarzukommen. Er selbst wäre wahrscheinlich auch unter diese Chemiekeule gefallen, die während seiner eigenen Grundschulzeit ungeachtet aller sonstigen rigiden Maßnahmen gegen abweichendes Verhalten jedoch noch nicht zum Einsatz kam. Später habe die Bearbeitung derartiger Verhaltensweisen mit Psychiatrisierung und Chemie vor allen Dingen in Schulen stark zugenommen.

Während die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fachtagung darin übereinstimmten, daß die geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen auch nach der Schließung der Haasenburg virulent und zurückzudrängen sei, warf Michael Lindenberg Fragen auf, die den Bogen weiter spannten. Es habe lange gedauert, bis die bekanntgewordenen Zustände in der Haasenburg überhaupt wahrgenommen, diskutiert und in Konsequenzen umgesetzt wurden. "Woher kommt dieses Böse in der erzieherischen Jugendhilfe? Wir müssen darüber nachdenken, ob wir nicht Teil des Bösen sind." Viele Leute berichteten, daß Zustände wie die der Haasenburg nach wie vor in anderen Heimen existierten. "Während wir hier sitzen, geschieht es weiterhin im Rahmen des erzieherisch-pädagogischen Komplexes, dessen Teil wir sind. Wir müssen uns die Frage stellen, was das mit uns zu tun hat." Das sei eine schwierige Frage, die man nicht sofort beantworten könne. Das dürfe jedoch nicht dazu führen, daß man sich von aller Beteiligung an diesem System freispreche.

Nächtliche Fassade des Rathauses - Foto: © 2014 by Schattenblick

Rathaus der Freien und Hansestadt Hamburg
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.tagesspiegel.de/politik/sozialreport-die-wunde-im-jobwunderland/9131966.html

[2] http://www.linksfraktion-hamburg.de/nc/politik/fachbereiche/familie_kinder_und_jugend/detail/artikel/jegliche-form-der-aus-und-einschliessung-von-jugendlichen-ueberfluessig-machen-es-gibt-alternat/

16. März 2014