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BERICHT/023: Sterben nach Plan - Entsorgungsbeteiligung ... (SB)



Doch was wir tun, ist lediglich, daß wir uns ein Stück aus dem Nichts unserer Zukunft herauspicken, das wir dann zum quasi-konkreten Zielobjekt auf dem Trajekt unseres Lebens machen. So aber versperren wir effektiv unsere Sicht durch unseren verzweifelten Wunsch zu sehen. Nach diesem vergegenständlichten falschen Ziel leben wir dann, und wir leben nach ihm, indem wir an ihm sterben.
David Cooper - Der Tod der Familie [1]

In gespannter Erwartung künftiger Ereignisse, ob erfreulicher oder unangenehmer Art, kann sehr viel Lebensenergie verbraucht werden, ohne daß die dazu angestellten Überlegungen irgendeinen Einfluß auf deren tatsächlichen Verlauf hätten. Sich einer unbestimmten Zukunft zuzuwenden produziert am ehesten etwas, das dem persönlichen Horizont gemachter Erfahrungen und erlernten Wissens entspringt. So speisen sich Perspektiven auf die Zukunft aus einer Vergangenheit, die ihrerseits, von zahlreichen subjektiven Faktoren in tausend Facetten zerlegt, so unerreichbar wie ihr vermeintliches Gegenstück auf dem Trajekt des Lebens ist.

Da dieses einen finalen Verlauf hat, kann das erwartbare Eintreten des Lebensendes die Phantasie mit geradezu obsessiver Intensität beschäftigen. Warum aber dem Unvermeidlichen frönen und zulassen, daß es den ganzen Platz individueller Existenz in Beschlag nimmt und das Leben noch weit vor seinem physischen Verlöschen de facto negiert? Warum nicht zu leben beginnen gerade dann, wenn es in Frage gestellt wird? An der verbreiteten These von der Tabuisierung des Todes stimmt zwar, daß sich kaum jemand gerne mit seiner Manifestation in Gestalt sterbender Menschen befaßt. In der Vermeidung eines Lebens, das die Fesseln seiner administrativen Verwaltbarkeit, seiner ökonomischen Verwertbarkeit und seiner legalistischen Verfügbarkeit sprengt, feiert die Ohnmacht des Sterbens und die Erstarrung des Todes jedoch ständig neue Triumphe. Wo einem Leben außerhalb der Ratio des Zählens, Nutzens und Verbrauchens jegliche Gültigkeit abgesprochen wird, verfällt der vergesellschaftete Mensch einer Nekrophilie, die in der Lebensfeindlichkeit herrschender Ordnung ebenso manifest wird wie im Faszinosum einer Finalität, die kulturindustriell als fesselndes Erlebnis inszeniert wird.

Einmal ernsthaft betroffen nimmt der schmerzhafte Anteil an der Bindekraft des Todes so sehr überhand, daß die unterstellte Planbarkeit des Todes eine schwache Ausrede dafür ist, wie wenig der Mensch ihm gewachsen ist. Planbar erscheinen die Umstände des Ablebens, die Modalitäten der Pflege, der medizinischen Notfall- bis Palliativersorgung. Sich der gesellschaftlichen Bearbeitung, modern gesprochen dem Management eines fiktiven Verlaufes auszuliefern, bindet den potentiell Sterbenden, und das ist der Mensch von Geburt an, an eine Abstraktion, die die Konkretion jener existentiellen Fragen, die ihn schon immer umgetrieben haben und die sich am Ende noch einmal mit großer Dringlichkeit stellen, wirksam unterbindet. Alle Aufmerksamkeit auf die Modalitäten des Sterbens zu richten und dem Vermeiden finaler Konfrontationen durch die möglich erscheinende Ausflucht ins vorzeitige Ableben den nicht nur selbst-, sondern aus vielen Gründen auch fremdbestimmten Zuschlag zu geben heißt, die vorzeitige Kapitulation einer Auseinandersetzung vorzuziehen, über die der Mensch nichts wissen kann, die ihn aber zutiefst betrifft.

Vor dem Hintergrund dessen die Autonomie der Sterbenden in der Ordnung der Lebenden zu verankern, sich ihren Zwecken, Regeln und Geboten zu unterwerfen, hat mit Autonomie nur so viel zu tun, daß sie im Verzicht auf das vollumfängliche Leben negativ bestimmt wird. In Anbetracht von Vorschlägen, schon jungen Menschen die Festlegung auf die Umstände ihres Sterbens abzuverlangen, erweist sich die Planbarkeit des Todes vollends als Mittel, individuelle Freiheiten der administrativen Mangelverwaltung und der Zurichtung des Menschen auf optimale Beherrschbarkeit zu unterwerfen.


Graffiti auf dem Plakat: Banksy, Straßenkünstler London - Grafik: 2017 by Omega Bocholt e.V.

Graffiti auf dem Plakat: Banksy, Straßenkünstler London
Grafik: 2017 by Omega Bocholt e.V.

Sorge zwischen gesellschaftlichem Sollen und Sein

"Zwischen Planungssicherheit und Sorgegesprächen" lautete der Titel einer Tagung, auf der am 23. September in Münster über Vorsorgeprogramme in der Alten- und Behindertenhilfe nachgedacht wurde. Veranstaltet wurde sie von dem Biopolitischen Forum BioSkop e.V. in Essen, dem Institut für Palliative Care und OrganisationsEthik IFF in Wien und der Hospiz-Stiftung OMEGA Bocholt e.V. in Kooperation mit dem Institut für Teilhabeforschung an der der Katholischen Hochschule (KatHO) Nordrhein-Westfalen.

Eingebettet in einen Erfahrungsaustausch über Praktiken und Probleme in vorhandenen Versorgungsstrukturen wurde insbesondere über die Institutionalisierung des Anspruches auf Patientenautonomie in der letzten Phase des Lebens diskutiert. Inwiefern erfüllen Angebote, individuelle Selbstbestimmung vor dem Eintreten einer Erkrankung zu garantieren, die den Menschen seiner Möglichkeit enthebt, seine Wünsche und Interessen in bezug auf seine medizinische und pflegerische Behandlung klar zu artikulieren, ihren Zweck? Oder könnte die Absicht, mit Hilfe einer Patientenverfügung oder eines Advance-Care-Planning-Programmes Patientenautonomie bis ans Lebensende zu sichern, vielleicht sogar gegenteilige Ergebnisse zeitigen?


Im Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Anja Ostrop
Foto: © 2017 by Schattenblick

Zum Auftakt warf die Heilpädagogin Anja Ostrop vom Institut für Teilhabeforschung einen Blick auf die "aktuelle Teilhabe- und Versorgungslandschaft" und die rechtlich-normativen Grundlagen am Lebensende Behinderter. Die wiewohl selbstverständlichen, so angesichts der Lebensrealität vieler Betroffener zugleich idealistischen Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) lassen keinen Zweifel daran, woran es vor allem mangelt. Die dort geforderte Teilhabe setzt eine zureichende materielle Bemittelung voraus. Weil diese selbst in der Bundesrepublik nicht ausreichend gewährleistet wird, sind nicht nur den Möglichkeiten der Versorgung Grenzen gesetzt, sondern auch einer vollwertigen Teilhabe. Das grundlegende Problem bei der Realisierung der BRK in jeder Lebensphase ist der politische Willen, dies auch zu tun: "Die Umsetzung eigentlich verpflichtend geltender Rechte ist abhängig von den jeweils vertragsstaatlichen, sozialpolitischen, sozialrechtlichen, kulturellen und wirtschaftlich gesetzten Rahmungen gegenseitiger Aushandlungsprozesse und den daraus zur Verfügung gestellten Ressourcen."

Demgemäß geht es Anja Ostrop nicht um die Verabsolutierung, sondern die Optimierung von Autonomie. Bei der Realisierung des Anspruches auf Menschenwürde und Menschenrechte befinden sich Behinderte stets in einer schlechten Position, verfügen sie doch über wenig gesellschaftlichen Einfluß und sind zudem stets davon bedroht, als Kostgänger des Wohlfahrtstaates sozialchauvinistischen Ressentiments zum Opfer zu fallen. Das gilt um so mehr für Menschen mit eingeschränkter Kommunikations- und Handlungsfähigkeit. Hier fordert Ostrop, "vor der Stellvertretung die Assistenz als vorrangiges Entwicklungsziel zu berücksichtigen".

Zwar sei das 2005 verabschiedete Hospiz- und Palliativgesetz ein erster, wichtiger Schritt in der Umsetzung der Partizipation behinderter Menschen, doch wiesen vorliegende Studien und Untersuchungen auf gravierende lebensmindernde wie -behindernde Versorgungs- und Begleitsituationen innerhalb der Behindertenhilfe nicht nur im Alter und am Lebensende hin. Die soziale Abwertung älterer wie geistig behinderter Menschen, ihre vielfältige Stigmatisierung und Benachteiligung können in einer Gesellschaft, in der mittlerweile die Abwehr von Flüchtlingen ein alternativloses politisches Ziel darzustellen scheint, wohl kaum erstaunen. Hier wären deutlichere Worte angebracht gewesen, zumal die Referentin die materielle Basis der beanspruchten Teilhabe behinderter Menschen in den Rang einer "sekundären Indirektheit" verwies, gehe es doch zuerst und zuletzt um das "Selbst in seiner Potentialität", dessen Heil als Selbstverwirklichung an der Chance auf Partizipation am Gemeinwesen hänge.


Ostrop vor Projektion 'Rechtlich-normative Grundlagen am Lebensende' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Können Rechtsansprüche die Wirklichkeit des Sterbens bestimmen?
Foto: © 2017 by Schattenblick

Hier schließt sich der Kreis. Ein wie auch immer geartetes Selbst kann Teilhabe zwar beanspruchen, doch wird diese von einer zusehends sozialdarwinistisch organisierten Gesellschaft, die Leistungsfähigkeit, Schönheit und Gesundheit als Merkmale elitärer Zugehörigkeit biologisiert, in der von Klassenwidersprüchen keine Rede mehr ist und das Marktsubjekt ganz und gar ins Prokrustesbett eigenverantwortlicher Optimierungs- und schlußendlicher Opferbereitschaft gepreßt wird, immer mehr an die Parameter fremden Nutzens gekoppelt. Wo die Rationalisierungslogik der fordistischen Fabrik auch in Krankenhaus und Pflegeheim Einzug hält, läßt sich Teilhabe allerdings kaum anders denn als "Chance zum gelingenden Selbst als Potentialität" definieren. Daß ihre Verwirklichung eines "liebenden sozialen Miteinanders des Menschen in der Reziprozität des Status als Mitmensch" bedarf, um nicht bloßes Sollen zu bleiben, bleibt so unwägbar und indifferent wie alles, was sich der bloßen Möglichkeitsform bedient.

Das Scheitern einer Inklusion, die nicht mit Anpassung an und Unterwerfung unter die Normen und Werte nicht als behindert deklassierter Menschen erkauft werden muß, ist unter diesen Bedingungen vorprogrammiert. Sprach die Referentin von Exklusion als "sozialem Tod des Menschen" und über die zahlreichen Unterschiede in "Wissen, Macht, finanziellen Ressourcen, Anerkennung" als "Bedrohung des Selbst in seiner Potentialität und Teilhabe", dann entspricht dies durchaus einer realistischen Beschreibung des gesellschaftlichen Seins. Der abschließende Ausblick, die Gesellschaft sei mitverantwortlich für die Chance auf einen gelingenden Lebenslauf, was für Politik und alle Beteiligten bedeute, "soziale Phantasie" zu entwickeln, blieb deutlich unterhalb der Schwelle einer Streitbarkeit, derer es bedarf, um den herrschenden sozialökonomischen Exklusions- und Vereinzelungsstrategien Paroli zu bieten.


Im Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Irmgard Hewing
Foto: © 2017 by Schattenblick

Autonomie nicht erst am Lebensende

Die Kunstpädagogin, Betriebswirtin für soziale Berufe und Fachfrau für Pflege im Palliativbereich, Irmgard Hewing, schilderte ihren Werdegang von der stationären wie ambulanten Altenhilfe bis zur Sterbebegleitung im Hospiz. Letzteres habe sie als eine Parallelwelt erlebt, weil dort vieles getan wurde, was an sinnvoller Sterbebegleitung in der Altenhilfe nicht zu leisten gewesen wäre. Sie begrüßt die heute institutionalisierten Möglichkeiten der selbstbestimmten Vorsorge in Form von Patientenverfügungen und Vertretervollmachten, um bei Ungewißheiten in der letzten Lebensphase sichere Orientierung zu haben. In der Altenhilfe sei das Vorhaben, das Sterben von vornherein mit in die Pflege einzubeziehen, früher auf große Widerstände gestoßen, obwohl doch klar war, daß die Menschen an ihrer letzten Lebensstation angekommen sind.

Eigentlich sei man in der Altenhilfe schon früher in dieser Hinsicht sehr weit gewesen, doch erst die Hospizbewegung habe ermöglicht, die dort genutzten Instrumente der Sterbebegleitung auch in der Altenhilfe anzuwenden. Bei einem Informationsworkshop, den sie über Advance Care Planning (ACP) halten sollte, sei sie auf große Widerstände bei der Leitung der betreffenden Altenhilfeeinrichtung gestoßen. Man habe bereits alle erforderlichen Mittel, wurde ihr zu verstehen gegeben. Das veranlaßte sie dazu, noch einmal einen Blick auf das SGB XI zur Sozialen Pflegeversicherung zu werfen, in dem die Vorsorgeplanung am Lebensende gesetzlich verankert ist. Während dort Selbstbestimmung genannt und aktivierende Pflege zum Erhalt oder Wiedergewinnen der körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen gefordert werden, bleibe "loslassen dürfen" jedoch unerwähnt.


Hewing vor Projektion 'Vorsorgeplanung am Lebensende Altenhilfe - Sorge:' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Wieviel Sorge steckt in Vorsorge?
Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Selbstevidenz, mit der "Loslassen" gegen eine Medizin positioniert wird, die zunächst einmal alles für das Weiterleben des Menschen tut, bedarf seinerseits eines genaueren Blickes. Sicherlich muß niemand um Erlaubnis fragen, um sich vom Leben zu verabschieden, geht man einmal davon aus, daß ein solcher Schritt im Rahmen eines Sterbeprozesses überhaupt als ein Willensakt zu begreifen ist, der von der Überwältigung des sterbenden Menschen durch das Versagen zentraler physiologischer Funktionen qualitativ zu unterscheiden wäre.

Zunächst einmal handelt es sich bei der Idee des Loslassens um die Antipode eines Kontrollanspruches, der bei genauerer Betrachtung nicht minder problembeladen und widersprüchlich ist als die Vorstellung, lediglich die Verweigerung des Loslassens hindere den sterbenden Menschen daran, der Endlichkeit seiner Physis zu entsprechen. Den Anspruch, stets die Kontrolle über das eigene Leben auszuüben, kann nur erheben, wer soziale und gesellschaftliche Zwänge aller Art aktiv ausblendet respektive privilegiert genug ist, ihnen nicht ausgesetzt zu sein. Wo sich Menschen in materieller Abhängigkeit von anderen befinden, wo sie die Ware Arbeit zu Markte tragen und Tätigkeiten zum Lebenserhalt verrichten müssen, die ihnen keinerlei Freude bereiten geschweige denn sinnvoll erscheinen, kann Kontrolle über ihr Leben nur mittelbar durch die Akzeptanz eines Gesellschaftsvertrages suggeriert werden, der die Entfremdung von eigenen Wünschen und Interessen seiner kapitalistischen Konstitution gemäß voraussetzt.

Der auf die Norm tauschwertbasierter Vergesellschaftung zugerichtete Mensch muß mithin schon Kontrollverluste akzeptieren, wenn er sich widerwillig materiellen Zwangslagen beugt, denen nicht positiv zu entsprechen seinen Lebenserhalt in Frage stellte. Die von Ärzten am Bett moribunder Patienten durchaus zu vernehmende Aussage, sie oder er könne nicht loslassen, sprich bürde sich vermeintlich unnötige Qualen auf und verlange allen anderen übergroßen Aufwand ab, kann dementsprechend als Ausdruck einer Nutzenerwägung verstanden werden, die individuelle Autonomie durch abstrakte Zwecke wie die Kosteneffizienz des Krankenhaus- oder Pflegebetriebs relativiert. Wer wollte schon darüber befinden, warum ein Mensch bis zum letzten Atemzug kämpft, anstatt sich bereits beim Eintreten einer mittelschweren Demenz den Tod zu wünschen und ggf. auch gewährt zu bekommen? Wie bei dem ärztlichen Urteil, das Leben eines Patienten besitze keinen Benefit mehr, erbringe also keinen Ertrag, für den es sich zu leben lohne, handelt es sich bei der Unterstellung, der Mensch müsse loslassen können, um leicht und würdig zu sterben, um eine bioethische Norm, deren Zwecksetzungen keineswegs mit den Nöten, Ängsten und Schmerzen der betroffenen Person identisch sein müssen.

Als kundige Praktikerin hat Irmgard Hewing sicherlich allen Grund, das Fehlen von Patientenverfügungen oder Vorsorgevollmachten zu bemängeln, wenn der Notarzt kommen muß, um lebensbedrohliche Situationen in der Altenhilfe zu bewältigen. Demgegenüber enthalte das 2015 in Kraft getretene Hospiz- und Palliativgesetz (HPG) Verbesserungen für den flächendeckenden Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung etwa durch die Verankerung der dazu erforderlichen Maßnahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung, der Förderung von Kooperationsverträgen zwischen Pflegeheimen und Haus- und Fachärzten wie des dazugehörigen Transparenzgebotes. Die Überwindung der von ihr bestätigten Personal- und Ressourcenknappheit in der Altenhilfe wurde allerdings nicht zum Thema gemacht, sondern eher die Bereitschaft betont, sich unter diesen Umständen auf vorhandene Stärken zu berufen. Zumindest implizit plädierte die Referentin für eine keineswegs irreversible, so doch im Rahmen prozeßhafter Sorgegespräche, begleitet von großer Achtsamkeit und viel Respekt für die Betroffenen, durchaus in Anspruch zu nehmende Planbarkeit des Todes.


Im Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Karin Michel
Foto: © 2017 by Schattenblick

Das Unplanbare planen - Vorausverfügungen zur Therapiebegrenzung

Im dritten Vortrag der Tagung ging die Philosophin Karin Michel von der Diagnose der Versorgung zur Diagnose der Vorsorge über. Mit 15 Jahren Erfahrung als rechtliche Betreuerin im Rücken sind ihr die juristischen, institutionellen und sozialen Wirkungen von Patientenverfügungen nicht nur vom Schreibtisch her vertraut. Was einst im Wunsch nach der Sicherung individueller Autonomie zum Lebensende auch in nurmehr bedingt einwilligungsfähigem Zustand wurzelte, sei in den letzten Jahren zu einem Diskurs zur selbstbestimmten Planung mutiert. Mit dem 2009 neu geschaffenen Paragraphen 1901a im BGB, auch Patientenverfügungsgesetz genannt, wurde die Brücke von einem Zustand vollständiger Entscheidungsfähigkeit in die mögliche Situation, daß nur noch ein rechtlicher Stellvertreter anhand einer Patientenverfügung den mutmaßlichen Patientenwillen bezeugen kann, geschlagen.

Obschon inhaltlich offen, ziele das Gesetz faktisch nicht auf eine positive Gestaltung von Erkrankungs- und Behandlungssituationen ab, also etwa die Forderung, alles nur erdenklich Mögliche an medizinischen Maßnahmen zu treffen. Ziel sei eher die Abwehr unerwünschter Behandlungsformen im Sinne eines Selbstbestimmungsrechts am Lebensende, das den Sterbenden vom Diktat des medizinisch Machbaren im Rahmen einer Therapiebegrenzung befreit. Diese Ausrichtung dürfte allerdings auch darin begründet liegen, daß der unbedingte Lebenserhalt ethische Grundlage allen ärztlichen Handelns sein sollte.

Verfassungsrechtlich begründet sind Patientenverfügungen in zentralen Gütern des liberalen Rechtstaates wie Menschenwürde, Handlungsfreiheit, individuelle Selbstbestimmung oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Diese Werte aufrechtzuerhalten ist im Falle einer Einwilligungsunfähigkeit Aufgabe des gesetzlichen Stellvertreters oder Bevollmächtigten. Ihre Entscheidungen bleiben an den Willen der Betroffenen gebunden, die damit als Rechtsperson fortbestehen, auch wenn sie den formalen Status der Mündigkeit aus körperlichen Gründen nicht mehr erfüllen können.

Mit seiner trotz Nichteinwilligungsfähigkeit aufrechterhaltenen Selbstbestimmung übernimmt der Patient allerdings auch die Verantwortung für alle daraus erwachsenden Konsequenzen, was einer Haftungsentlastung für das Helfersystem gleichkommt. So erzeugen Patientenverfügungen den Eindruck einer größeren Handlungssicherheit, sie vereinfachen und optimieren die Abläufe in der letzten Lebensphase und entlassen die zuständigen Helfer aus der Verantwortung, über die Deutung des mutmaßlichen Patientenwillens nachdenken zu müssen.

Michels Kritik betrifft vor allem das Problem der Festlegung des Patientenwillens auf eine fiktive gesundheitliche Zukunft. Die bereits aus der Debatte um aktive Sterbehilfe bekannten Fälle von Menschen, die ihr Votum für den ärztlich beigebrachten Tod revidierten, als sie mit der finalen Situation konfrontiert waren, dokumentieren die existentielle Dramatik, die die Diskrepanz von Vorstellung und Erfahrung hervorbringen kann. Das Bewußtsein einer nicht mehr entscheidungsfähigen Person ist bei aller Empathiefähigkeit nicht zu erschließen, und ob eine Vertreterverfügung ein angemessenes Surrogat dessen ist, kann die Vertreter und Betreuer schon in Gewissenskonflikte stürzen. Da das Patientenverfügungsgesetz die Möglichkeit offenhält, jederzeit eine einmal getroffene Festlegung widerrufen zu können, wird auch versucht, die Wünsche der Betroffenen durch interpretierende Verfahren wie die Deutung von Ausdrucksbewegungen zu ermitteln. Anhand der relativen Unbestimmtheit von Patientenverfügungen wird denn auch für Advance Care Planning geworben, soll damit doch eine größere Sicherheit bei der Feststellung des Patientenwillens erzielt werden.

Indem die Patientenverfügung eine Kultur des einsamen Entscheidens des auf sich selbst gestellten Individuums schafft, konvergiert sie mit der neoliberalen Doktrin maximaler Eigenverantwortung, die wiederum die Zuständigkeit der Gesellschaft für die sozialen und materiellen Probleme besonders verletzlicher Menschen negiert. Die Schattenseite des Primats individueller Selbstbestimmung liegt mithin in der programmatischen Ausblendung aller Mängel an Versorgung wie der grundlegenden Eigentums- und Verteilungsfrage. Was gesamtgesellschaftlich seit den 1980er Jahre als Rückbau sozialer Sicherungssysteme und Privatisierung öffentlicher Ausgaben unter anderem in der Gesundheits- und Daseinsvorsorge in Erscheinung tritt, wird an dieser Stelle positiv ausgedeutet als Konsequenz der neoliberalen Doktrin, laut der jeder Mensch selbst für seine Erfolge und Miseren zuständig sei. Selbstmächtigkeit, Selbstkontrolle und Selbstoptimierung, so die von Michel genannten Leitbegriffe dieser Doktrin, werden auf diese Weise auf die letzte Lebensphase angewendet, auch wenn der Mensch dort faktisch alles andere als selbstbestimmt agiert.

Indem das Konzept der Patientenverfügung diese Werte konzentriert zum Ausdruck bringt, lastet es die Verantwortung für eine medizinische Behandlung dem betroffenen Individuum auf, so die Schlußfolgerung der Referentin. Ihrer Ansicht nach bleiben Therapiebegrenzungsverfügungen nicht auf Szenarien der vermeintlichen Übertherapie am Lebensende beschränkt, sondern werden etwa auf Demenzerkrankungen angewendet, wenn dort ohne jede konkrete Sterbesymptomatik auf kurative Maßnahmen verzichtet wird. Auf diese Weise wird die Selbstverfügung zum Lebensende als Absicherung gegen Altersrisiken eingesetzt und ihrem nominellen Zweck, die Sicherung der Patientenautonomie auch in Situationen nicht mehr vorhandener Entscheidungsfähigkeit, enthoben.

Sollten sich Vorausverfügungen als persönlicher Ausweg aus der Abhängigkeit von Pflegekräften, aus Einsamkeit und Depression wie als gesamtgesellschaftlicher Beitrag zur Linderung des Pflegenotstands und der Ressourcenknappheit etablieren, dann bliebe die Inanspruchnahme einer sozialpolitischen und gesellschaftlichen Verbesserung der Lebenssituation auf Hilfe angewiesener Menschen mit Demenz oder anderen Behinderungen oder einer lediglich altersbedingen Gebrechlichkeit vollends außerhalb jeglicher Diskussion. Positiv gewendet bedarf es einer verstärkten Auseinandersetzung mit Fragen der Ausgestaltung gemeinschaftlicher Hilfssysteme und der Entwicklung integrierter Versorgungsmodelle in Medizin, Pflege und sozialem Feld, so die abschließende Empfehlung Karin Michels.


Plakatwand im Vortragssaal - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnote:


[1] David Cooper: Tod der Familie, Reinbek bei Hamburg, 1972, S. 73 f.


11. Oktober 2017


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