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BERICHT/027: Pränataldiagnostik - Bezichtigung und Schuldverschiebung ... (SB)


Die Schlüsselfrage moderner, auf "Inklusion" ausgerichteter Diagnostik lautet: Wie können Menschen wissenschaftlich begründet in Gruppen eingeteilt werden, ohne dass dies mit offenkundiger Stigmatisierung verbunden ist? Die Antwort, welche die verdatete Welt bereithält, lautet: Die Menschen werden nicht auf eine imperativistische, qualitative Norm hin ausgerichtet, sondern vor dem Hintergrund eines einheitlichen Maßstabes quantitativ miteinander verglichen. Nicht: "Wie soll der Mensch sein?", sondern "Wer oder wie ist beziehungsweise wie handelt der Einzelne im Vergleich zu den anderen?"
Anne Waldschmidt - Eintrag "Normalität" im "Glossar der Gegenwart" [1]


Geht es darum, die vermeintlichen Sachzwänge einer zusehends sozialdarwinistisch orientierten Vergesellschaftung in ihre Schranken zu weisen, dann reichen vollmundige Versprechungen und gutgemeinte Absichtserklärungen nicht aus. Papier ist häufig zu geduldig, um der Gewalt materiell begründeter Argumente wirksam entgegenzutreten. Wer leben darf und wer nicht, ist keine bloße Rechtsfrage, wie die zahlreichen Opfer der Staaten, die die zwischen ihnen herrschenden Produktivitätsunterschiede im freien Welthandel bewirtschaften, in den Ländern des globalen Südens belegen. Als Subjekte unteilbarer Menschenrechte haben sie keine Handhabe dagegen, unter den Rädern des kapitalistischen Akkumulationsregimes ein Leben voller Entbehrungen und einen vorzeitigen Tod zu erleiden.

Rechtsansprüche sind nicht unwirksam, ihre Durchsetzung ist jedoch an den sozialen Status und die materielle Bemittelung derjenigen geknüpft, die sie erheben. In aller Welt begrüßte und gefeierte Fortschritte in internationalen Abkommen wie der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) des Jahres 2008 bedürfen nicht nur der jeweiligen nationalen Implementierung, sondern auch der häufig mühseligen und arbeitsintensiven Durchsetzung ihrer zentralen Normen. So sind im Fall des Praenatestes zur Feststellung chromosomaler Abweichungen bei Embryos und Feten nicht wenige Menschen der Ansicht, daß die Verhinderung der Geburt von Menschen mit Trisomien oder anderen humangenetisch markierten Normabweichungen zum Besten aller Beteiligten sei. Wer will schon ein behindertes Kind aufziehen, warum sollte die Gesellschaft dadurch entstehende Mehrbelastungen auf sich nehmen, ja ist es nicht ohnehin für den davon betroffenen Menschen besser, gar nicht erst den leidvollen Weg gehen zu müssen, der ihm aufgrund seiner ungewöhnlichen psychophysischen Konstitution vorgezeichnet ist?

Aus Fragen wie diesen spricht die Herrschaft einer Normalität, deren Ein- und Ausschließungsprozessen konkrete gesellschaftliche Wertbestimmungen zugrunde liegen. Wie die Verrohung der Sprache in der Debatte um flüchtende Menschen und die allgemeine Rechtsdrift der Gesellschaft zeigt, bricht sich eine sozialdarwinistische Abkehr von zivilisatorischen Idealen Bahn, die nicht nur Behinderte, sondern alle Menschen bedroht, die aus Gründen diskriminiert und stigmatisiert werden, für die sie häufig nichts können.

Weder geht es den Verfechtern einer nicht nur erbbiologisch, sondern auch verhaltenstechnisch durchzusetzenden "Normalität" um Menschen mit Behinderung noch um deren Eltern. Dabei wurde die Inhumanität selektiver Werturteile und daraus resultierender Konsequenzen der Diskriminierung und Eliminierung durch die im NS-Staat praktizierte Vernichtung "unwerten" Lebens hinlänglich belegt. Der den anderen Menschen be- und abwertende Blick ist jedoch mit dem Ende des NS-Regimes nicht verschwunden, und er trifft insbesondere Menschen mit Behinderung, die das Streben nach Erfolg, Leistungsfähigkeit und Schönheit durch die Unmöglichkeit konterkarieren, jemals im Wettbewerb um positiv definierte Ausschlußkriterien antreten zu können. Wieso Menschen überhaupt den ihnen aufoktroyierten Idealen nachstreben sollen, anstatt ihr Leben so autonom und souverän wie möglich zu führen, ist mithin eine relevante Frage für die große Mehrheit derjenigen, denen alle Anstrengung, der verlangten Normalisierung zu entsprechen, nicht dazu verhilft, den Ansprüchen sozial und körperlich privilegierter Eliten zu genügen.


Im Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Oliver Tolmein
Foto: © 2018 by Schattenblick


Menschenrechte und ihre technokratische Relativierung

Das Vorhaben, nicht invasive Methoden der Pränataldiagnostik zur vorgeburtlichen Entdeckung von Embryonen und Feten mit Trisomie 13, 18 und 21 in die kassenfinanzierte Regelversorgung für Schwangere aufzunehmen, zielt auf eine erbbiologische Konditionierung künftiger Menschen ab, deren Zurichtung durch die anwachsenden Möglichkeiten humangenetischer Selektion mit der beabsichtigten Verhinderung von Trisomien längst nicht ausgeschöpft ist. Insofern geht es KritikerInnen wie den AktivistInnen des Netzwerkes gegen Selektion durch Pränataldiagnostik nicht nur um die Begrenzung der Anwendung des Praenatestes, dessen Einführung in die Regelversorgung im Mittelpunkt der Beratungen im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dem Beschlußgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland, steht. Es geht auch um die prinzipielle Frage, inwiefern reproduktionsmedizinische und humangenetische Formen negativer Selektion - und absehbar positiver Eugenik - überhaupt mit den Grundsätzen einer demokratischen und egalitären Gesellschaft vereinbar sind.

Dementsprechend sinnvoll erscheint der Versuch, die grundlegenden Normen der UN-Behindertenrechtskonvention daraufhin zu untersuchen, ob sie eine rechtswirksame Möglichkeit der Intervention in den Zulassungsprozeß darstellen. Auf der Jahrestagung des Netzwerkes gegen Selektion durch Pränataldiagnostik, die vom 15. bis 17. Juni in Essen stattfand, erklärte der Rechtsanwalt und Mitbegründer der Kanzlei Menschen und Rechte in Hamburg, Dr. Oliver Tolmein, welche Möglichkeiten sich auf diesem Wege bieten.

Aus dem ersten Staatenbericht zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in der Bundesrepublik ging hervor, daß die von Kanzlerin Angela Merkel bei deren Ratifizierung 2009 aufgestellte Behauptung, in Deutschland gebe es keine Probleme bei der Inklusion behinderter Menschen, nicht zutraf. Dieser Kritik sollte mit dem Bundesteilhabegesetz entsprochen werden. Zwar beruft sich der 2016 öffentlich unter Beteiligung aller Behindertenverbände diskutierte und trotz starker Proteste gegen seine inhaltlichen Mängel in ursprünglicher Form zum Jahresende verabschiedete Gesetzestext auf Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention. Im Ergebnis hat sich jedoch gezeigt, daß es zu keiner Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderung kommt. Die erklärte Absicht, keine neue Ausgabendynamik entstehen zu lassen und statt dessen die Steuerungsfähigkeit der Eingliederungshilfe zu verbessern, führt letztlich dazu, daß die Mittel lediglich anders und nicht immer zum Vorteil ihrer EmpfängerInnen verteilt werden. Im Endeffekt hat sich an den Mängeln, unter denen Menschen mit Behinderung zuvor litten, kaum etwas geändert, was nahelegt, daß auch ein Menschenrechtsabkommen wie die UN-Behindertenrechtskonvention keinen Kurswechsel erzwingen kann. Doch selbst mit einem optimalen Bundesteilhabegesetz wäre das Thema Pränataltests nicht vom Tisch, so Tolmein, gehe es bei der Entscheidung, zu dieser Methode zu greifen, doch nicht nur um Fragen der materiellen Gerechtigkeit und des Sozialstaates.

So sei die Einführung der Pränataldiagnostik nicht nur wegen ihrer diskriminierenden Wirkung auf Widerstand gestoßen, sondern auch als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechtes auf Reproduktion begrüßt worden. Zwar wurden in den Diskussionen um Pränataldiagnostik der 1980er Jahre die Kontinuitäten und Unterschiede zwischen moderner Humangenetik und NS-Rassenhygiene kritisch untersucht, doch in der feministischen Bewegung sei es auch um die Chancen gegangen, durch PND das Selbstbestimmungsrecht der Frauen zu stärken. In jedem Fall habe man es mit konkreten sozialen und gesellschaftlichen Herrschaftsinteressen zu tun.

Ein weiteres Konfliktfeld bestehe in den konträren Positionen, die das Recht auf Wissen wie auf Nichtwissen betreffen. Letzteres sei zwar juristisch abgesichert, werde aber nicht ausreichend mit Konsequenzen und Sanktionen geschützt. Das Recht auf Wissen durch die Anwendung pränataldiagnostischer Verfahren sei juristisch demgegenüber deutlich besser gestellt. Zudem bedarf es des Wissens, um die Option des Nichtwissens überhaupt in Anspruch nehmen zu können. Wenn sich Schwangere mit den Möglichkeiten der PND befassen, werden sie vor Entscheidungssituationen gestellt, von denen sie zuvor möglicherweise nichts wußten, was dann aber nicht mehr rückgängig zu machen ist. So begrüßenswert die Forderung der informierten Zustimmung sein mag, so bahnt sie mit der dafür erforderlichen Aufklärung über die Möglichkeiten der PND auch deren selektiver Praxis den Weg. KritikerInnen beanstanden denn auch, daß die selbstbestimmte Entscheidung über die Anwendung pränataldiagnostischer Verfahren zumal dann, wenn sie Befunde hervorbringen, für deren Behebung keine medizinische Behandlung zur Verfügung steht, auch als Legitimierungsstrategie verstanden werden können.

Seit Beginn der Debatte um PND haben sich die rechtliche Rahmenbedingungen stark verändert, wie Tolmein anhand einer kurzen Auflistung belegt. So hat sich das Strafrecht durch die Streichung der embryopathischen Indikation in Paragraph 218a verändert, 1994 wurde das Grundgesetz in Artikel 3 durch das Diskriminierungsverbot für Menschen mit Behinderung ergänzt, 2009 traten die UN-Behindertenrechtskonvention und das Gendiagnostikgesetz in Kraft, 2011 wurde das Embryonenschutzgesetz dahingehend modifiziert, daß Präimplandationsdiagnostik (PID) in Ausnahmefällen erlaubt ist. Insbesondere letzteres habe gezeigt, daß es ein starkes Interesse daran gibt, selbst extrem selektive Techniken wie diese durchzusetzen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention sei als internationaler Menschenrechtspakt in der Bundesrepublik nicht mit dem Ziel in Gesetzesform gegossen worden, Menschen mit Behinderung neue Rechte zuzuerkennen, sondern die allgemeinen Menschenrechte für ihre spezielle Situation noch einmal ausdrücklich zu bestätigen. So finden sich zu jeder Vorschrift der BRK korrespondierende Vorschriften in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in den internationalen Pakten über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte oder bürgerliche und politische Rechte wie beispielsweise die Anti-Folter-Konvention. Die UN-Behindertenrechtskonvention stellt sich, gemessen an dem Erfolg anderer internationaler Menschenrechtspakte, in Deutschland als sehr gut akzeptiert dar. So wirkt sie sich auf die Rechtsprechung der Gerichte weit mehr aus als etwa die Kinderrechtskonvention, die nicht annähernd so oft erwähnt und zur Grundlage von Entscheidungen gemacht werde wie sie.

Mit der Pränataldiagnostik habe sich die BRK jedoch nicht auseinandergesetzt, nicht weil es vergessen worden wäre, sondern weil es nicht durchsetzbar war. Dementsprechend laute die kurze Antwort auf die seinem Vortrag vorangestellte Frage, was die UN-Behindertenrechtskonvention mit Pränataldiagnostik zu tun habe: ausdrücklich nichts. So könne nicht einfach argumentiert werden, daß die BRK Diskriminierung verbiete und damit auch pränataldiagnostische Verfahren einschränke. Zudem knüpfe die BRK an die Rechte von Menschen mit Behinderung an, die bereits geboren sind, während PND Menschen betrifft, die von Geburt an behindert sind.

Das Gendiagnostikgesetz wiederum bezieht sich ausdrücklich nicht nur auf den geborenen Menschen, sondern auch auf Embryonen und Feten während der Schwangerschaft. Laut dem darin verankerten Benachteiligungsverbot dürfe niemand - und das schließt Embryonen und Feten ein, was wiederum AbtreibungsgegnerInnen den Rücken stärkt - wegen genetischer Eigenschaften benachteiligt werden. Das Gendiagnostikgesetz habe jedoch die wesentliche Schwäche, daß Verstöße gegen das Benachteiligungsverbot nicht mit Sanktionen belegt sind. Zudem erlaubt es, vorgeburtliche genetische Untersuchungen zu medizinischen Zwecken vorzunehmen, soweit die Untersuchung auf bestimmte genetische Eigenschaften des Embryos oder Fötus abzielt, die seine Gesundheit während der Schwangerschaft oder nach der Geburt beeinträchtigen. Medizinische Zwecke wiederum werden, darin sei sich die herrschende juristische Meinung und Rechtssprechung einig, auch mit der Pränataldiagnostik verfolgt, da sie auch gesundheitliche Risiken betreffen könne, die die Schwangerschaft und Geburt beeinträchtigen können. Zu den dazu angeführten Symptomkonstellationen gehört auch Trisomie 21.

Laut dem Gendiagnostikgesetz dürfen keine genetischen Eigenschaften des Embryos festgestellt werden, die zu einer Erkrankung oder Behinderung führt, die erst nach Beendigung des 18. Lebensjahres manifest wird. Auch das stellt angesichts der nichtvorhandenen Sanktionierung keine hohe Hürde dar. Da bei der zwar genehemigungspflichtigen, aber meist stattgegebenen Pränataldiagnostik festgestellt wird, welche Embryonen für die künstliche Befruchtung geeignet sind, handelt es sich um eine positive Form genetischer Selektion. All das sei letztlich nur so zu verstehen, daß der Gesetzgeber die Pränataldiagnostik, wie sie 2009 bereits etabliert war, nicht untersagen wollte.

Der Praenatest, der anfangs 1250 Euro kostete, wird mittlerweile für einen Bruchteil dieser Summe angeboten und heute schon von den gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen einer freiwilligen Leistung mit Kostenabtretung übernommen. Anfangs sollte er erst nach der 12. Schwangerschaftswoche eingesetzt werden, womit ein Abbruch aufgrund des Testergebnisses nach erfolgter Beratung verhindert worden wäre. Inzwischen kann er nach der 9. Woche durchgeführt werden. Doch auch nach Ablauf der 12. Woche kann aufgrund der Vorschrift, daß ein Abbruch aufgrund von Gefahren für die Gesundheit der Schwangeren weiterhin möglich ist, ein absehbar als behindert geltendes Kind abgetrieben werden. Dies kann etwa damit begründet werden, daß seine Geburt erhebliche seelische und psychische Probleme für die Mutter mit sich brächte.

Insgesamt gibt der Referent dem Versuch, innerhalb der herrschenden Gesetzeslage Mittel und Wege zu finden, die die Anwendung des Praenatestes wirksam einschränken, wenig Chancen. Die Behinderten-AktivistInnen und KritikerInnen der humangenetischen Selektion von Menschen verbleibenden Möglichkeiten verlangten nicht weniger als eine Änderung der geltenden Rechtslage etwa in bezug auf das Gendiagnostikgesetz, wozu die UN-Behindertenrechtskonvention ein Anknüpfungspunkt sein könnte. Ansonsten gelte es, Einfluß auf das laufende Methodenbewertungsverfahren beim G-BA zu nehmen, damit nicht allein nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot des fünften Sozialgesetzbuches entschieden wird.

Ein Medizinprodukt dürfe nicht durch den G-BA quasi automatisch zugelassen werden. Es gelte, andere Rechtsvorschriften etwa des Gendiagnostikgesetzes oder des Medizinproduktegesetzes ins Verfahren einzubringen. Man müsse sich darauf konzentrieren, warum es eine Diskriminierung für Menschen mit Behinderung darstellt, wenn der Praenatest als Kassenleistung mit dem Ziel, alle Trisomien 21 zu erkennen, eingeführt wird. So wird ein Klima geschaffen, in dem das Lebensrecht von Menschen mit bestimmten Eigenschaften zur Disposition gestellt wird, das sich bereits darin zeigt, daß die Eltern von Kindern mit Trisomie 21 mehr oder minder offen bezichtigt werden, die falsche Entscheidung getroffen zu haben.


Oliver Tolmein und Silke Koppermann auf dem Podium - Foto: © 2018 by Schattenblick

Zeit für weiterführende Fragen
Foto: © 2018 by Schattenblick


Kein Risiko ohne Schuld

Das mit humangenetischen Verfahren ermittelte Risiko stellt seiner statistischen Erwirtschaftung gemäß keine Diagnose im klassischen Sinne dar, sondern ist eine auf die Zukunft gerichtete Wahrscheinlichkeitsaussage einer erst durch diese Technologie prädiktiv gewordenen Medizin. Mit ihr wird die Verantwortung für eine mögliche Konsequenz an die Patientin delegiert, was als Zuwachs an Selbstbestimmung ein hohes Maß an gesellschaftlicher Akzeptanz genießt. Dennoch wird die Anerkennung persönlicher Autonomie im Falle einer Schwangeren, die ihr möglicherweise mit Down-Syndrom zur Welt kommendes Kind austrägt, mit dem Urteil angeblicher Unvernunft konterkariert, der immanenten Forderung des postulierten Risikos, dessen Ursache zu beseitigen, sprich einen Schwangerschaftsabbruch zu vollziehen, nicht nachgekommen zu sein.

Wird ein Kind, bevor es zur Welt kommt, zum Risiko erklärt, heißt das nichts anderes, als daß es unerwünscht ist. Im Unterschied zur völkischen Eugenik des NS-Regimes wird dies nicht mehr offen ausgesprochen und ihrer eliminatorischen Konsequenz zugeführt, sondern erscheint angesichts zugleich propagierter Politiken der Diversität, Inklusion und Nichtdiskriminierung als Ding der Unmöglichkeit. Sich zu einem Testergebnis zu verhalten oder im ersten Schritt gar keine PND anzuwenden sei eine ganz und gar individuelle, in aller Freiheit zu treffende Entscheidung. Vom Ende der gesellschaftlichen Abwertung behinderten Lebens, das mit erbbiologischen Mitteln hätte vermieden werden können, bestand diese Freiheit niemals. Menschen, die sich trotz der Feststellung einer Trisomie beim Embryo dem zu über 90 Prozent vollzogenen Schwangerschaftsabbruch verweigern, setzen sich dem Druck der Bezichtigung aus, eine falsche, die Gesellschaft, sie selbst und das Kind belastende Entscheidung getroffen zu haben. Die reproduktionsmedizinisch erwirkte Bevölkerungspolitik setzt ihren eugenischen Imperativ anhand der Kategorien eines Nutzens durch, der, jeglicher rassistischen und sozialchauvinistischen Absichten unverdächtig, einfach nur zum Besten aller sei.

Worum es sich dabei handelt ist eine Frage, die angesichts des Problems werdender Eltern, ihren Kinderwunsch einer medizinischen Risikobewertung zu unterwerfen oder sich dem nagenden Zweifel auszusetzen, vielleicht doch eine wichtige Kontrolle der Schwangerschaft versäumt zu haben, nur politisch beantwortet werden kann. Sie führt mitten hinein in die Debatte um die Frage, wie wir leben wollen angesichts des offenkundigen Versagens der kapitalistischen Wettbewerbs- und Wachstumsgesellschaft, allen Menschen zu einem auskömmlichen Leben in körperlich-geistigem Wohlbefinden zu verhelfen. Mit der humangenetisch formierten Gesellschaft der Starken, Schönen und Erfolgreichen setzt sich ein sozialdarwinistisches Denken durch, das nichts wissen will von dem Entwicklungspotential, das all die davon ausgeschlossenen Eigenschaften und Merkmale menschlicher Existenz enthalten. Demgegenüber fordert eine von Risiken aller Art umstellte Vergesellschaftung dem zugrundeliegenden kaufmännischen Kalkül gemäß die totale Verwertung der Marktsubjekte. Die auf ihnen lastende Schuld, die sie auf diese oder jene Weise zu begleichen haben, wird ihnen mit der herrschaftstechnisch nützlichen Unterstellung, nicht das Optimum für die eigene Gesundheit und damit das staatliche Gemeinwesen geleistet zu haben, quasi in die Wiege gelegt.

Dieser Fluchtpunkt auch diesseits medizinischer Grenzfragen zu Beginn und Ende des Lebens herrschender Normalisierungspraxen könnte ein Anknüpfungspunkt dafür sein, der humangenetischen, mit den erweiterten Möglichkeiten informationstechnischer Systeme zusätzlich dynamisierten Konditionierung des Menschen auf Zwecke und Ziele, die nur sehr bedingt oder gar nicht die eigenen sind, auch außerhalb der Institutionen der Rechtsprechung und Stellvertreterpolitik entgegenzutreten.


Sortiment der Buchhandlung buchkontext in Essen - Foto: © 2018 by Schattenblick

Bücher zur vertiefenden Lektüre im Foyer
Foto: © 2018 by Schattenblick


Fußnote:


[1] Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.): Glossar der Gegenwart; Frankfurt am Main 2004, S. 194


16. Juli 2018


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