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BERICHT/028: Pränataldiagnostik - damals wie heute ... (SB)



Carstens, haben Sie denn aus den Dortmunder Ereignissen nichts gelernt? Sie sind ja schon wieder Schirmherr!
Franz Christoph bei den "Krüppelschlägen" (1981) [1]

Am 18. Juni 1981 nimmt Bundespräsident Karl Carstens in der vordersten Reihe des Saales Platz, um die Fachmesse "Reha 81" zu eröffnen. Da nähert sich ihm ein Mann, der sich auf Krücken stützt. Mit den Worten: "Carstens, haben Sie denn aus den Dortmunder Ereignissen nichts gelernt? Sie sind ja schon wieder Schirmherr", schlägt Franz Christoph dem Bundespräsidenten seine Gehhilfe zweimal gegen das Schienbein. Wenige Wochen zuvor waren sich die beiden schon einmal begegnet, als eine anläßlich des "UNO-Jahres der Behinderten" organisierte Festveranstaltung in der Dortmunder Westfalenhalle von Behinderten gestört wurde, die das Podium unter dem Motto "Jedem Krüppel seinen Knüppel" besetzten und eine Resolution gegen die Sonderbehandlungen von behinderten Menschen verlasen.

Die "Krüppelschläge" Christophs zogen eine immense Medienresonanz nach sich. "Der Hieb zielte auf die verlogenen Gönner, die von Integration und Miteinander redeten, die offene und versteckte Diskriminierung behinderter Personen aber nicht wahrhaben wollten." (Udo Sierck) Christoph wählte diese Aktionsform, weil zuvor Artikel, Fernsehbeiträge und Diskussionsrunden zum Thema keine Resonanz hervorgerufen hatten. Selbst bei der Dortmunder Bühnenbesetzung wurden die Aktivisten als Teil des Programms und Beweis für eine gelungene Rehabilitationspolitik wahrgenommen, so daß sich ihr Protest ins Gegenteil verkehrte. Auch die "Krüppelschläge" zeigten nur kurzfristig Wirkung: Die Festrede wurde zwar abgesagt und Christoph mit einem Hausverbot belegt, doch hielt es Carstens nicht für nötig, ihn anzuzeigen. Er sah den Behinderten nicht als ernst zu nehmendes Rechtssubjekt an. [2]

1977 hatte Franz Christoph zusammen mit Horst Frehe in Bremen die bundesweit erste Krüppelgruppe gegründet. Sie forderte nicht die Integration, sondern wollte die "nichtbehinderte Öffentlichkeit mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert" sehen (Sierck). Christoph verfolgte die gesellschaftlichen Diskussionen um die "Enttabuisierung" des Themas "Euthanasie" sehr genau und kritisierte insbesondere die Wochenzeitung Die Zeit. Auch war er in Deutschland einer der ersten Kritiker der Thesen des australischen Bioethikers Peter Singer, die er als "Aufruf zum Mord" bezeichnete.

Das Jahr 1981 markiert den Höhepunkt der Krüppelbewegung, die sich nicht nur gegen Diskriminierung durch offene Feindseligkeit aus der Gesellschaft formierte, sondern auch gegen die repressive Hilfsbereitschaft vieler Nichtbehinderter, die ihnen die passive Rolle der Hilfebedürftigen zuweisen und damit jede Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben verbauen. Den Abschluß des "Jahres der Behinderer" bildete das Krüppeltribunal. Dabei wurden, analog zum Russell-Tribunal von Amnesty International, Menschenrechtsverletzungen an behinderten Menschen angeprangert. Die Krüppelgruppen gaben von 1979 bis 1985 die Krüppelzeitung heraus.

Die Krüppelbewegung hat die Kritik an der Ausgrenzung und Institutionalisierung sogenannter behinderter Menschen aufgegriffen und maßgeblich vorangetrieben. So fand 1982 in München ein internationaler Fachkongreß unter dem Titel "Leben, Lernen, Arbeiten in der Gemeinschaft" statt, auf dem verschiedene Modelle der Unterstützung körperbehinderter Menschen, wie das Konzept des Independent Living aus den USA, vorgestellt wurden. Im November 1986 wurde in Bremen die Beratungsstelle "Selbstbestimmt Leben" eröffnet, zahlreiche weitere Zentren folgten in anderen Städten.

Dennoch haben die Forderungen der autonomen Krüppelgruppen der 70er und 80er Jahre nichts von ihrer Brisanz und Aktualität verloren. Wenn heute von Inklusion die Rede ist, stellt sich zwangsläufig die Frage, in welche gesellschaftlichen Verhältnisse diese münden soll. So unverzichtbar die Durchsetzung einer Selbstorganisation Behinderter gegen die Bevormundung durch Nichtbehinderte im Alltag ist, findet sie doch in einem Milieu von Kapitalismus, Rassismus und Sozialdarwinismus statt, das ein menschenwürdiges Leben für wachsende Teile der Bevölkerung ausschließt. Eine emanzipatorische Krüppel- und Behindertenbewegung kämpft daher gewissermaßen an zwei Fronten - um Barrierefreiheit im umfassenden Sinne wie auch gegen die grundlegenden Herrschaftsverhältnisse, die ihresgleichen auf doppelte Weise unterdrücken.


Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2018 by Schattenblick

Markus Dederich
Foto: © 2018 by Schattenblick


"Monster, Krüppel, ExpertInnen in eigener Sache"

"Was hat die UN-Behindertenrechtskonvention mit Pränataldiagnostik zu tun?" Zu diesem Thema fand die Jahrestagung 2018 des Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik [3] vom 15. bis 17. Juni in Essen statt. Im Rahmen der Konferenz hielt Prof. Dr. Markus Dederich einen Vortrag zum Thema "Monster, Krüppel, ExpertInnen in eigener Sache - zur Geschichte des Behinderungsbegriffes". Er ist Professor für Allgemeine Heilpädagogik an der Universität zu Köln mit den Arbeitsschwerpunkten Pädagogische Anthropologie und Ethik, Inklusion und Disability Studies sowie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für Mensch, Ethik, Wissenschaft (IMEW) in Berlin.

Wie Dederich seinen Ausführungen vorausschickte, würden Themen rund um Behinderung ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Bedeutung in jüngerer Zeit nur ausgesprochen spärlich diskutiert. Dabei war Behinderung doch seit jeher ein hochgradig affektiv aufgeladenes Phänomen, wobei die damit verbundenen Gefühle maßgeblich dafür sind, was daran wahrgenommen, wie darauf reagiert und wie damit umgegangen wird. Er habe für seinen Vortrag einen ideengeschichtlichen Zugang im groben historischen Abriß und in Form einiger Schlaglichter gewählt.


Historischer Abriß in Schlaglichtern

Läßt man die Geschichte Revue passieren, werden unter den Begriff "Behinderung", der ja eine hochabstrakte Generalisierung darstellt, sehr unterschiedliche Phänomene gefaßt, so der Referent. Zum einen haben sich die Begrifflichkeiten im Laufe der Geschichte erheblich verändert, zum anderen aber auch die Deutungsmuster gewandelt, was damit überhaupt gemeint ist. Diese Muster entwickelten sich von der metaphysischen und religiösen Deutung von behinderten Menschen als Monster hin zur Erklärung von Behinderung als Folge biologischer Schädigungen. Sie entwickelten sich von der Zuschreibung von sozialen Sonderrollen, wie die des Hofnarren bei Kleinwüchsigen oder des Dorftrottels hin zur Behauptung, es sei normal, verschieden zu sein. Von der Einbettung in einen geschlossenen religiös-moralischen Kosmos, in dem diese Phänomene einen eindeutig markierten und definierten Platz hatten, hin zu radikalen postmodernen Dekonstruktionsversuchen, bis am Ende von dem Phänomen nichts übrigzubleiben scheint. Oder von der Zurschaustellung menschlicher Kuriositäten auf Jahrmärkten über die Unsichtbarmachung in totalen Institutionen hin zur Forderung nach einem selbstbestimmten Leben, um ein viertes Schlaglicht zu nennen. Diese verschiedenen Deutungsmuster implizieren unterschiedliche Annahmen über Ursachen von Behinderung bzw. über Wirkzusammenhänge, die zu Behinderung führen. Sie wirken sich unterschiedlich auf den sozialen Status der betreffenden Menschen aus, sie legen unterschiedliche sozialpolitische Ziele und Handlungsansätze im Umgang mit Behinderung nahe und sie implizieren natürlich auch unterschiedliche pädagogische und therapeutische Präventionsansätze.

Die Komplikationen fangen bereits bei der Verwendung des Begriffs "Behinderung" an, weil hier von einer Zeit die Rede ist, in der es diesen Begriff überhaupt noch nicht gab. Erfassen wir überhaupt, was die Menschen damals wahrgenommen und verstanden haben? Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit gab es diesen Begriff nicht. Mißgebildete Neugeborene, siamesische Zwillinge, Menschen mit schweren sichtbaren Mißbildungen oder bizarren Verhaltensweisen galten als eine Herausforderung für die natürliche und moralische Ordnung der Welt, die sie in Frage zu stellen schienen. Sie weckten sehr unterschiedliche emotionale Resonanzen und wurden mit Faszination und Schrecken, Neugier und Ablehnung, mit kühler Sachlichkeit oder voller Mitleid betrachtet und behandelt. Im aus dem Lateinischen stammenden Wort "Monster" steckt einerseits das Zeichen und andererseits die Mahnung. Das Dasein dieser Menschen wurde als eine Warnung verstanden, das behindert geborene Kind galt als Zeichen einer moralischen Verfehlung der Eltern. Bis in die frühe Neuzeit hinein ist die Geschichte dieser Menschen durchsetzt von "Sorge, Schuld und Scham, von strafenden und warnenden Göttern" (Kulturwissenschaftler Urs Zürcher).

Ein wichtiger Einschnitt war das Zeitalter der europäischen Aufklärung, weil sich trotz historischer Kontinuitäten der Blick veränderte. Es kam zu einer Entzauberung des Monsters, Menschen mit Behinderung galten nicht mehr als Zeichen und Wunder oder verkörperter Ausdruck moralischer Verwerfungen, sondern wurden zunehmend wissenschaftlich betrachtet, wobei die Faszination und der Schrecken immer noch eine Rolle spielten. Von besonderem Interesse war nun die philosophische Frage nach dem Menschen und allem, was ihn ausmacht. Man sprach nun von Monstrositäten, deren Status unklar war: Man versuchte, Merkmale des Menschen und damit zugleich Abweichungen davon festzulegen, die Frage nach dem Menschen wurde anhand der Grenzfälle untersucht. Menschen mit schwersten Behinderungen "fielen aus dem identifizierenden Wir einer menschlichen Gemeinschaft heraus, ohne etwas eindeutig anderes zu sein als ein Mensch" (Kulturwissenschaftler Jörn Ahrens). In den Naturwissenschaften galten sie als Lebewesen, die Ordnungs- und Klassifikationssysteme in Frage stellen, was sie für die Wissenschaften interessant machte. Auch die Psychiatrie und die Pädagogik entstanden in dieser Zeit. So bildeten sich einerseits die psychiatrischen Schwachsinnskonzepte und andererseits die vernunftbasierten Bildungsideale heraus. Menschen mit geistigen Behinderungen erscheinen als "das andere der Vernunft" (Klaus Dörner), denen etwas fehlt, was das spezifische Kennzeichen des Menschen in Abgrenzung vom Tier ist, so der Referent.


'Niedrig entwickelter Mensch oder hoch entwickelter Affe?' Abbildung eines Mannes mit Mikrocephalus als Schauobjekt (1859) - Foto: 2018 by Schattenblick

Auf dem Weg zum "Untermenschen" ...
Foto: 2018 by Schattenblick

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde ihnen ein subhumaner Status zugeschrieben, wobei einige Psychiater urteilten, sie stünden noch unter dem Tier, weil sie nicht einmal über die Instinkte verfügten, den notwendigen Bedürfnissen zur eigenen Lebenserhaltung nachzukommen. Vergleichbare Diskussionen wurden in den USA um die Frage geführt, welchen Status Schwarze hätten, um sie demzufolge als Sklaven halten und wie Gegenstände kaufen und verkaufen zu können. Ab Ende das 18. Jahrhunderts brachten staatliche und nichtstaatliche Organisationen immer mehr unterschiedlich spezialisierte Institutionen hervor, die mit wenigen Ausnahmen exkludierende und separierende Einrichtungen waren. Während man diesen Personenkreis also erstmals institutionell in den Blick nahm, wurde er zugleich ausgegrenzt und eingesperrt. In Paris gründete ein katholischer Priester 1770 eine Taubstummenschule, erste Hilfsschulen entstanden 1863. Ab 1830 wurden die sogenannten Idiotenanstalten eingerichtet, wobei "Idiot" im 19. Jahrhundert der Oberbegriff für Menschen mit einer geistigen Behinderung war, während Menschen mit einer körperlichen Behinderung als "Krüppel" bezeichnet wurden.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen sozialdarwinistische und eugenische Theorien auf, die Behinderungen in einen pseudonaturwissenschaftlichen Bedeutungsrahmen stellten, was zu einer "Biologisierung der sozialen Frage" (Klaus Dörner) führte. Die sozialen Probleme der Gesellschaft waren diesen Theorien zufolge auf die biologische Minderwertigkeit bestimmter Gruppen wie etwa der Behinderten zurückzuführen. Die Ursache dafür, daß sie sich in bestimmten gesellschaftlichen Feldern nicht etablieren konnten, wurde einzig und allein in dem betreffenden Individuum gesehen und war demnach auf ihr biologisches Substrat zurückzuführen. Daran schloß sich eine Kritik an gesellschaftlichen Institutionen wie Psychiatrie oder Armenfürsorge an, die dieser Auffassung zufolge kontranaturale Tendenzen förderten und die Mechanismen der natürlichen Selektion außer Kraft setzten. Der Sozialdarwinismus unterstellte, daß Mechanismen, wie sie für die Natur angenommen wurden, auch für die Gesellschaft gelten sollten. Diese Theorien wurden einige Jahrzehnte später zum Nährboden der nationalsozialistischen Rassenpolitik, die mithin eine lange Vorgeschichte hatte.


Zur Geschichte des Begriffs "Behinderung"

Im zweiten Teil seines Vortrags ging Dederich auf den Begriff "Behinderung" ein, der erst nach dem Ersten Weltkrieg aufkam. Hans-Walter Schmuhl schreibt in einer Studie, daß Menschen mit Behinderung "das Resultat eines komplexen und konfliktgeladenen Interaktionsprozesses waren oder sind, an dem eine Vielzahl von Akteuren mit ganz unterschiedlichen und häufig sogar gegenläufigen Interessen und Motiven bewußt und mit klarer Zielsetzung mitwirkt. Von besonderer Bedeutung sind Bestrebungen, die Interessen von bestimmten Positionen politisch durchzusetzen." Das läßt sich für das 19. Jahrhundert anhand der Bezeichnungen "Idioten" oder "Idiotenanstalten" sowie "Krüppel" und "Krüppelfürsorge" zeigen. Daß sich diese Begriffe für eine gewisse Zeit in Politik und Gesellschaft durchgesetzt haben und in Psychiatriebüchern gängig waren, geht zum Teil auf ganz spezifische Professionen und Interessen zurück. Der Begriff "Idiot" wurde unter anderem angesichts der Frage etabliert, welche Menschen durch die neu entstandene Psychiatrie heilbar sind und welche nicht. Hielt man anfangs alle für heilbar, so kam es später angesichts gescheiterter Heilversuche bei bestimmten Phänomenen zur Unterscheidung in psychiatrische Erkrankungen und sogenannte Idioten. Für letztere fühlten sich bestimmte Professionen aus einem christlichen Kontext zuständig, die Anstalten gründeten. Der Begriff "Krüppel" geriet um das Jahr 1900 sogar zu einem Kampfbegriff in der Krüppelfürsorge, deren Hauptziel darin bestand, Menschen mit Körperbehinderungen Zugang zu Leistungen des Sozialstaats zu eröffnen und auf ihre Eingliederung in den Arbeitsmarkt hinzuwirken. Damals hatte der Begriff "Krüppel" zeitweise eine positive Funktion.

Nach dem Ersten Weltkrieg bekam diese Bezeichnung jedoch eine ausgesprochen negative Konnotation, als eine begriffliche Hierarchiebildung zwischen unterschiedlichen Arten von Behinderung einsetzte. Angesichts einer Heerschar von Kriegsversehrten, die sich von Menschen mit angeborenen Behinderungen abgrenzten, verbot es sich nach vorherrschender Auffassung, sie alle in einen Topf zu werfen. Zur Rehabilitation der Kriegsversehrten wurde ein prothetischer Ansatz gewählt, der zu einem Aufstieg dieses Forschungszweigs und Handwerks führte. Mit der statusmäßigen Aufwertung der versehrten Soldaten ging die Verwendung der abgrenzenden Bezeichnung "Körperbehinderung" und später "Behinderung" einher.

Dann ging Dederich auf die Semantik des Begriffs "Behinderung" ein, der Hindernis, Erschwernis, Barriere, Bürde, Einschränkung oder Engpaß umfaßt. Wenngleich es heute Strategien gibt, den Begriff aus dieser Negativumklammerung zu befreien oder ihn zu einem anthropologischen Empfinden zu verallgemeinern, bleibt er doch von der Wortbedeutung her eindeutig negativ konnotiert: Gesellschaftliche Erwartungen des Umfelds werden in der Begegnung mit bestimmtem Menschen enttäuscht. Die Negativität findet sich auch in anderen Sprachen wie etwa bei "Disability" im Englischen, das eine negative Differenz markiert. Es verweist auf ein Fehlen oder eine Einschränkung, das Präfix "dis" bedeutet Trennung, Auseinandergehen, Absonderung, so daß Disability also etwas Fehlendes oder Abwesendes meint: Der Gegensatz von wir und die anderen, zugehörig - nicht zugehörig, meinesgleichen - nicht meinesgleichen, fähig - eingeschränkt fähig/nicht fähig. Als abstrakte Generalisierung trägt die Kategorie "Behinderung" wesentlich dazu bei, eine als homogen wahrgenommene soziale Gruppe, deren gemeinsames Merkmal eine wahrnehmbare negativ bewertete Abweichung ist, zu produzieren. Es geht dabei um Merkmale, die in der Regel keiner für sich will.

Daß Kulturen auf Schriftsprache beruhen, ist menschheitsgeschichtlich ein relativ neues Phänomen. Noch im Mittelalter konnten 90 Prozent der Bevölkerung in unseren Regionen weder lesen noch schreiben. Das hatte unter anderem zur Folge, daß es in dieser Zeit keine Lernbehinderungen gab. Der Begriff "Behinderung" verweist nicht auf eine Eigenschaft des Individuums, sondern auf ein gestörtes Verhältnis zwischen Individuum und Umwelt und insofern ist es ein relationaler Begriff. In der NS-Zeit gewann der Begriff "Behinderung" an Bedeutung, unter anderem in Folge des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Institutionen wie spezielle Schulen waren die Sammelstellen, um an diese Menschen heranzukommen und sie der Euthanasie auszuliefern.

In der Bundesrepublik wurde der Begriff "Behinderung" dann in den 50er und 60er Jahren verstärkt etabliert und er hielt Einzug in Gesetzestexte. Gleichzeitig trat Kritik auf den Plan, welche die Forderung nach Integration erhob. Kritisiert wurde die erhebliche metaphorische und sozialnormative Breite des Behinderungsbegriffs und damit auch sein Mangel an Spezifität. Ihm wurden Abgrenzungsprobleme zu teilweise synonym verwendeten, teilweise ergänzenden Termini wie Krankheit, Schädigung oder Beeinträchtigung, Gefährdung oder Benachteiligung, aber auch Verdinglichungs- und Stigmatisierungseffekte, fehlende pädagogische Aussagekraft und nicht zuletzt Mißbrauch für berufspolitische Zwecke attestiert.

Vor allem in den USA und in England machte erstmals ein anderes Verständnis von sich reden, das nicht aus der Wissenschaft, sondern aus der Behindertenbewegung kam, in der das sogenannte soziale Modell von Behinderten entwickelt wurde. Dieses Modell erkennt an, daß einige Menschen Schädigungen haben, Behinderung jedoch etwas anderes sei. Sie wird den betreffenden Menschen durch die Gesellschaft zugeschrieben und auferlegt. Behinderung ist mit Exklusion bzw. verhinderter Teilhabe gekoppelt, so daß diese Menschen nicht Opfer tragischer individueller Umstände, sondern eine unterdrückte soziale Minderheit sind. Der Begriff Behinderung wird politisiert, das soziale Modell erkennt betroffene Menschen als ExpertInnen in eigener Sache an und macht ihre Erfahrungen zum Ausgangspunkt der Forschung und Praxis. Betroffene Menschen sollen in den Forschungsprozeß einbezogen, ihre Probleme durch Selbsthilfe und durch Veränderung der Gesellschaft gelöst werden. Das Modell verfolgt die Überwindung von Aussonderung und Unterdrückung, Herstellung von Barrierefreiheit, Anerkennung als Rechtssubjekt, Selbstbestimmung und Empowerment, so der Referent.


Markus Dederich beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2018 by Schattenblick

Widerstände gegen Inklusion nach wie vor virulent?
Foto: © 2018 by Schattenblick


Wachsender Widerstand gegen Inklusion?

Dederich schloß den Vortrag mit der Anmerkung, daß nach seiner Wahrnehmung mit der anschwellenden Rede über Inklusion und den vielfältigen politischen Bemühungen, Inklusion in die Gesellschaft hineinzutragen, zu implementieren und gesetzlich zu verankern, die Widerstände größer geworden sind. Häufig würden technokratische Gründe genannt, es gibt angeblich Schwierigkeiten in der Umsetzung. Dies nähre seinen Verdacht, daß die negative affektive Aufladung, über die niemand rede, immer noch virulent ist und einen Teil der Energie liefert, die diesen Widerstand mobilisiert.

In einer Gesellschaft, die Menschen auf vielfältige Weise ausgrenzt, ausschließt und abhängt, liegt die Reaktion in der Tat allzu nahe, die eigenen Nöte auf schwächere Minderheiten zu projezieren und umzulasten. Wie der Referent aufgezeigt hat, durchzieht dieses Muster auch im Umgang mit behinderten Menschen die Jahrhunderte, wenngleich in wechselnden Erscheinungsformen, so doch ohne jemals zu enden. Der zum Scheitern verurteilte Versuch, den Schmerz endgültig zu bannen, indem man die Schmerzen des anderen mehrt, gemahnt an fundamentale menschheitsgeschichtliche Fragen, die es erst noch in aller Entschiedenheit zu stellen gilt.


Fußnoten:


[1] www.ak-mob.org/2010/10/19/ak-mob-fur-barrikaden-statt-barrieren/

[2] www.direkteaktion.org/188-zuruck-zu-den-wurzeln/

[3] www.netzwerk-praenataldiagnostik.de/startseite.html


Berichte und Interviews zur Jahrestagung des Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik im Schattenblick unter:
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BERICHT/026: Pränataldiagnostik - Test inbegriffen ... (SB)
BERICHT/027: Pränataldiagnostik - Bezichtigung und Schuldverschiebung ... (SB)
INTERVIEW/034: Pränataldiagnostik - der Wert zu leben ...    Silke Koppermann im Gespräch (SB)


17. Juli 2018


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