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INTERVIEW/001: Interview mit B. Portocarrero, Botschafterin Venezuelas (SB)


"Deswegen verteidigt die Bevölkerung auch ihre Revolution"

Interview mit Dr. Blancanieve Portocarrero,
Botschafterin der Bolivarischen Republik Venezuela in der Bundesrepublik Deutschland
anläßlich der Vorstellung des venezolanischen Tanzensembles TRANSITO


Am 3. Dezember 2008 stellte in der Botschaft der Bolivarischen Republik Venezuela in Berlin das venezolanische Tanzensemble "Transito" sein Programm "Tanz und Behinderung" vor. Auf Einladung der Botschaft nahm die Redaktion Schattenblick an dieser Präsentation teil.

Im Anschluß an diese Veranstaltung erklärte sich Botschafterin Blancanieve Portocarrero bereit, uns einige weitere Fragen zu beantworten.


SB: Wir haben die Einladung bekommen und sie auch gerne angenommen aus Interesse an Theater und Tanz, aber auch aus einem politischen Interesse heraus. Denn es ist uns natürlich sofort aufgefallen, daß Sie ein Projekt zur Präsentation Ihres Staates hier in Deutschland gewählt haben, das nicht gerade konventionell zu nennen ist. Sie haben in Ihrer Ankündigung vorhin auch schon darauf Bezug genommen. Können Sie noch einmal ausführlicher darstellen, wie Sie die Kulturpolitik in Venezuela verstehen und speziell die Förderung von Menschen "mit Behinderung"?

Im Gespräch


Frau Blancanieve Portocarrero: Ich möchte euch etwas sehr Wichtiges sagen, was in den Annalen und in der Erinnerung der Verfassungsgebenden Versammlung bereits geschrieben steht. 1999, als wir die neue Verfassung diskutiert und sie auch wirklich gebaut haben - ich war Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung -, gab es eine sehr große Vertretung auch von Menschen mit Behinderung in dieser Versammlung und unter den über 700 Arbeitsgruppen, die es gegeben hat. Um die neue Verfassung auszuarbeiten, gab es auch eine Arbeitsgruppe der Behinderten. Dabei waren dann Blinde, Taube, Menschen mit Bewegungseinschränkung, wie wir sie heute gesehen haben, und sie alle haben uns eigentlich eine große Lektion erteilt. Denn sie haben eine große Mannschaft gebildet und eine Wache aufgestellt in den Räumen der Verfassungsgebenden Versammlung mit der Zielsetzung, daß sie gesehen werden und damit auch nicht übergangen werden können.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt die Aufgabe, die Kapitel über die sozialen Rechte in der Verfassungsgebenden Versammlung zu koordinieren. Heute dann zu sehen, daß diese Gruppen ins Ausland reisen können, um im Ausland dann ihre kulturellen Ausdrucksweisen auch vorstellen zu können, da habe ich gemerkt, daß diese Anstrengungen damals wunderbar waren. Denn es geht ja nicht um Leute - das habt ihr ja selbst gesehen -, die sich selbst behindert fühlen, sondern sie verhalten sich als besondere Menschen, von einer ganz tiefgreifenden gesellschaftlichen Sensibilität aus und einer sehr tiefgreifenden Ethik und künstlerischen Ausdrucksweise und Ästhetik.

Die gemeinsame Ausdrucksweise ist wirklich ein Gefühl und ein Ausdruck von gemeinsamer Seele. Wenn ihr zum Beispiel an diesen ersten Auftritt von dem Paar denkt - ich dachte dabei an eine große Möwe, die fliegen wollte. Wenn ich so etwas sehe, dann habe ich den Eindruck, daß die venezolanische Regierung, das venezolanische Volk also, die eigenen Rechte wirklich in sich aufgenommen hat. Das hat bewirkt, daß die Menschen sich darin selbst erkennen, daß sie ihre Rechte respektieren und verteidigen, und die venezolanische Regierung unterstützt und fördert sie. Und das, denke ich, ist sehr wichtig.

Die kulturelle Ausdrucksweise in Venezuela lebt im Augenblick von einer großen Vielfalt. Denn die Kultur ist anerkannt als das unantastbare und unveräußerliche Erbe des venezolanischen Volkes. Das ist das Interessante eigentlich an diesem Projekt "Transito" im Sinne von fortgehen oder sich bewegen. Ich möchte ja nicht davon sprechen, daß ihre Beine irgendwie behindert wären, sondern ich würde eher sogar sagen, sie bewegen sich mit ihren Beinen ganz genauso wie wir mit unseren. Und deswegen sind wir sehr glücklich, daß ihr heute gekommen seid und daß ihr das auch miterleben konntet.

SB: Ja, das sind wir auch. Zum Kulturbereich gehört ja auch die Alphabetisierungskampagne. Wären Sie bereit, uns einmal noch genauer zu schildern, wie weit die Erfolge fortgeschritten sind und wie die Situation vor der Übernahme der bolivarischen Regierung gewesen war?

Frau Portocarrero: Es gab immer von früheren Regierungen auch die Sorge darum, das Problem des Analphabetismus in Venezuela beseitigen zu wollen, und es gab auch einige Programme. Aber das Problem ist, daß eben die Ergebnisse nicht wirklich die besten waren. Der entscheidende neue Schritt ist, daß das neue Programm davon ausging, die Menschen erst einmal davon zu überzeugen, daß sie auch in der Lage sind, lesen und schreiben zu lernen, auch wenn sie älter sind - eben auch einen alten Mann und eine alte Frau davon zu überzeugen. Deswegen ist es auch kein Zufall, daß das ganze Programm heißt: "Ja, ich kann es".

Denn es geht nicht nur darum, daß das Gehirn des Menschen, sein kognitives Denken angesprochen wird, sondern daß man bis in die tiefsten inneren Werte des Menschen miteindringt. Es wird dabei gearbeitet mit der Selbstachtung des Menschen, mit seinen Wünschen und auch mit seinen Möglichkeiten, die er vielleicht selber noch gar nicht kennt. Und das Eindrucksvollste dieser neuen Methode ist eben, daß Venezuela heute keine Analphabeten mehr hat. Es gibt 1,4 Millionen Erwachsene in Venezuela, die durch unsere Alphabetisierungskampagne lesen und schreiben gelernt haben. Wir sind deswegen auch von der UNESCO anerkannt worden als ein Land, das das Problem des Analphabetismus gelöst hat.

Und alle die, die weitermachen wollten, nachdem sie lesen und schreiben gelernt haben, konnten dann weiter in den Grundschulunterricht gehen. Zum Beispiel Menschen, die in der dritten oder vierten Klasse von der Grundschule abgegangen wurden, sind dann wieder ins Bildungssystem einbezogen worden. Jugendliche, die zum Beispiel nach der Hälfte ihres Weges zum Schulabschluß oder zum Abitur aufgegeben haben oder aufgeben mußten, sind jetzt wieder im Schulbereich, um ihren Schulabschluß nachzuholen. Diejenigen, die jetzt das neue Abitur auf diesem Weg geholt haben, treten jetzt auch in die neue bolivarische Universität ein. Es gibt jetzt in Venezuela das spannende Phänomen, daß alle Welt studieren will. Ich glaube, das ist wirklich ein sehr interessantes Produkt und eben auch Ausdruck und Anwendung des Verfassungsrechts auf eine Bildung für alle.

Blancanieve Portocarrero

SB: Sie sagen, daß Sie bei der Verfassungsgebenden Versammlung dabei waren. Was waren noch die für Sie spannendsten Momente oder kritischsten und wichtigsten Fragen in der damaligen Zeit?

Frau Portocarrero: Oh, sehr, sehr viele. Ich kann euch da wunderschöne Anekdoten erzählen von den Menschen. Das war ein sehr produktives Kollektiv. Wie gesagt, es gab über 700 Arbeitsgruppen im ganzen Land. Es gab zum Beispiel in den Schulen die sogenannte Kinderverfassunggebende oder Verfassunggebende der Kinder. Die Kinder haben dann selber ihre eigenen Rechte aufgeschrieben, die Arbeitsgruppen der Jugendlichen haben ihre eigenen Rechte formuliert. Die Alten, die Rentnerinnen und Rentner haben in Arbeitsgruppen ihre Rechte selber formuliert, die Frauen haben ihre eigenen Rechte vorbereitet. Die Indigenas haben ihre eigenen Rechte vorbereitet und auch die Fischer, die Handwerker, die Arbeiter und die Bauern. Deswegen haben wir natürlich auch eine Verfassung mit über 3000 Artikeln gemacht.

Es gab auch Arbeitsgruppen, die eine gesellschaftliche Bewertung oder Überprüfung vornahmen. Mit all diesem Material, das wir zusammengetragen haben, haben wir 20 Arbeitsgruppen mit der gesellschaftlichen Bewertung dieses ganzen Materials in Caracas durchgeführt, damit die Menschen selber ihre Rechte auch kennenlernen und diskutieren. Dann haben wir eine Kommission gebildet, um dann wirklich zu sehen: Was ist eigentlich der konkrete Gehalt dieser Rechte, was soll damit ausgesagt werden?

Eine ganz außergewöhnliche Arbeitsgruppe, an die ich mich erinnern kann, war zum Beispiel die Arbeitsgruppe der Hausfrauen. In Artikel 88 der Verfassung wird die Tätigkeit der Hausfrauen als eine wertschaffende Tätigkeit anerkannt. Auf der Grundlage dieses Artikels empfangen heute 150.000 Hausfrauen, die nie irgendeine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hatten, Leistung aus der Sozialversicherung, ohne daß sie jemals irgendeinen Beitrag in die Sozialversicherung eingezahlt hätten. Denn die Arbeit der Hausfrauen wurde anerkannt als eine große, umfassende Tätigkeit der Begleitung und Wiederherstellung usw. in den Familien und in der gesamten Gesellschaft. Und damit die Hausfrauen, also gerade die, die es angeht, die Inhalte dieses Artikel 88 sehr genau kennenlernen, ist der auf eine Packung von Maismehl draufgedruckt worden. Dieses weiße Maismehl, das man hier in den chinesischen Lebensmittelläden bekommen kann, ist eben für das - wie man sagt - ganz traditionelle venezolanische Essen: Arepa, ein Maisfladen. Wie gesagt, auf diesen Mehlpackungen wurde dann in großen Buchstaben genau dieser Artikel 88 abgedruckt, damit sie wissen, was ihre Rechte sind.

Ich kann euch da ganz viele wunderschöne Sachen erzählen. Und deswegen erlebt man, daß in Venezuela heute alle Welt mit einer kleinen Verfassung in der Hemdtasche oder in der Innentasche herumläuft und die auch sofort rausholt und wirklich die Rechte studiert. Das ist nun wirklich eine sehr, sehr schöne Erfahrung. Deswegen gibt es auch eine sehr umfassende soziale oder gesellschaftliche Kontrolle der öffentlichen Gewalt, und deswegen verteidigt die Bevölkerung auch ihre Revolution. Deswegen war die Bevölkerung auch in der Lage, im April 2002 ihren Präsidenten zu retten. Das ist einer der Gründe dafür.

SB: Ein gutes Schlußwort, dem wir uns gerne mit einem Dankeschön für das Interview anschließen möchten.

9. Dezember 2008