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INTERVIEW/014: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Therapieziel Gesellschaftswandlung, Ulrike Detjen im Gespräch (SB)


Die Linke gegen Zwangsbehandlung

Interview am 22. November 2013 in der Universität Essen



Ulrike Detjen ist Geschäftsführerin der Linksfraktion in der Landschaftsversammlung Rheinland LVR. Auf der Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?", die am 22. und 23. November 2013 an der Universität Essen stattfand, beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen.

Im Interview - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ulrike Detjen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Detjen, Ihre Partei Die Linke hat die Veranstaltung "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?" organisiert. Gab es einen besonderen Grund für dieses Engagement?

Ulrike Detjen: Gleich nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts 2011 hatten wir Kontakt zum Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen beziehungsweise zum Landesverband aufgenommen, weil der Landschaftsverband einer der größten Klinikträger im Rheinland ist und wir nach verschiedenen Workshops den Eindruck hatten, daß eine Gesamtbetrachtung des Problems notwendig ist. Die Linke ist seit 2010 als Fraktion in der Landschaftsversammlung Rheinland. Davor gehörten wir ihr nur mit zwei Einzelvertretern an. Seit dem Foucault-Tribunal ist nichts mehr in größerem Umfang passiert, und von daher verstehen wir die Veranstaltung als Anstoß, die Diskussion neu zu eröffnen. Wie ich schon in meiner Einleitung sagte, hat sich die Situation in den Psychiatrien keineswegs verbessert, sondern die Enquete ist bestenfalls zur Hälfte umgesetzt worden. Im Moment gibt es keinen Stillstand, sondern die Psychiatrie entwickelt sich immer mehr in Richtung auf eine medikamentöse Praxis, von der wir überhaupt nichts halten, weil die Langfristwirkungen zum großen Teil unbekannt und die kurzfristigen Wirkungen geradezu erschreckend sind, da die Lebensqualität der Leute dadurch vollständig eingeschränkt wird.

SB: Heutzutage werden psychopathologische Störungen faktisch nur noch als Stoffwechselveränderungen im Gehirn aufgrund endogener Ursachen diagnostiziert, obwohl in den 70er Jahren die gesellschaftliche Seite psychiatrischer Erkrankungen wesentlich stärker betont wurde. Können Sie diesen Trend bestätigen?

UD: Es gibt durchaus noch Psychiater und Psychologen, die die gesellschaftlichen Seiten sehen und diskutieren, aber in der wissenschaftlichen Diskussion geht der Trend, insbesondere durch die Ergebnisse der Hirnforschung, schon dahin, physische Erkrankungen wie in der somatischen Medizin zu betrachten und zu behandeln. Die praktischen Ergebnisse sind aber völlig andere. Man braucht sich dazu nur den gestiegenen Ritalin-Verbrauch in den letzten Jahrzehnten anzuschauen, obwohl kein Mensch weiß, welche Langzeitfolgen es hat. Ich habe den Eindruck, daß die Pharmaindustrie selber Krankheiten schafft, um ihr wirtschaftliches Überleben zu garantieren. Über die gesellschaftlichen Ursachen von psychosozialen Erkrankungen wird dagegen nur wenig geredet. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat vor drei Jahren eine Konferenz über die psychosozialen Folgen von Armut und Ausgrenzung organisiert. Ich sehe die heutige Konferenz als Fortsetzung dessen, daß wir am Thema dranbleiben.

SB: Bezeichnenderweise hat die Linkspartei als einzige Fraktion auf Bundesebene gegen Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie gestimmt.

UD: Nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts hat die Bundesregierung Ende 2012, Anfang 2013 ganz schnell die Konsequenzen aus dem Urteil gezogen und den Paragraphen 1906 im Bürgerlichen Gesetzbuch geändert. Dadurch hat sie entsprechend den Vorgaben eine allgemeine Rechtsgrundlage auf Bundesebene für Zwangsbehandlungen geschaffen, so daß diese nun erlaubt sind. Wir als Fraktion sind aber der Meinung, daß das weit darüber hinausgeht, was das Bundesverfassungsgericht vorgeschrieben hat. Tatsache ist, daß mit Ausnahme von Baden-Württemberg kein einziges Bundesland die entsprechenden Landesgesetze in diesem Sinne geändert hat. Das heißt, Zwangsmaßnahmen sind nach wie vor illegal, denn in diesen Belangen geht die Länderhoheit vor.

SB: Wenn man die heutige Konferenz Revue passieren läßt, kommt man um die Erkenntnis nicht herum, daß, abgesehen einmal von den Betroffenen selbst, wenig Interesse an dem Thema existiert. Gibt es in der Linkspartei Politiker, die ein verstärktes Engagement in dieser Richtung verfolgen?

UD: Ich fange einmal andersherum an. Wir haben eine tatkräftige und allgemein akzeptierte Arbeitsgemeinschaft von Menschen mit Behinderungen in der Linkspartei. Das hat Tradition, denn eine solche gab es bereits in der PDS. Für uns als Partei ist die Umsetzung der UN-Konvention mit verbrieften Rechtsansprüchen ein wichtiges Ziel. Die UN-Konvention schließt auch Menschen mit psychischen Erkrankungen ein. Demzufolge gilt die darin geforderte Inklusion auch für diese Menschen. Darüber gibt es in unserer Partei einen lebhaften Diskurs. Wir haben die Zwangsbehandlung nicht nur im Bundestag abgelehnt, sondern unsere Forderung auch ins neue Bundeswahlprogramm aufgenommen. Ich denke, eine Aufgabe der Linkspartei besteht darin, Wächter zu sein gegenüber Verstößen gegen Menschenrechte und der Diskriminierung und Isolierung von Minderheiten. Diese Rolle können Regierungsparteien nur schwerlich übernehmen. Das müssen wir leisten.

SB: Ilja Seifert ist nicht mehr in Ihrer Bundestagsfraktion. Gibt es in der Linkspartei jemanden, der seine Aufgabe übernommen hat und eine linke Behindertenpolitik weiterführt?

UD: Unsere Bundestagsfraktion hat sich gerade erst konstituiert und die Gesamtarbeitsteilung noch nicht abgeschlossen, aber ich bin sicher, daß eine Behindertenpolitik mit linkem Verständnis weitergeführt wird. Herr Seifert ist auf jeden Fall noch verbandspolitisch tätig. Er wird also nicht von der Bildfläche verschwinden.

SB: Kritik an der Gesundheitspolitik im allgemeinen, aber vor allem an der Biomedizin und Gentechnik war früher fester Bestandteil linker Positionen, die heutzutage fast rückstandslos verschwunden ist. Daß Ansätze einer Fundamentalkritik in einer Bundestagspartei hin und wieder Gehör finden, ist zumindest ein kleiner Lichtblick. Könnten Sie sich vorstellen, daß eine grundlegende Kritik an medizinischen Verfahren und der Zurichtung des Menschen auf seine bloße Funktionfähigkeit noch einmal zu einem Essential linker Politik werden könnte?

UD: An diesem Themenkomplex hat die letzte Bundestagsfraktion auf jeden Fall schon gearbeitet, und ich hoffe, daß sie es weiterhin tun wird. Unstrittig ist, daß die momentane Gesellschaftsordnung den Menschen zur Ware macht. Eine grundlegende Veränderung wäre indes nur möglich, wenn für eine Gesellschaft gestritten wird, die diese Warenbeziehung auflöst. Die Verdinglichung der gesellschaftlichen Prozesse spitzt sich in der Gesundheitspolitik wie überhaupt im ganzen Gesundheitsbereich immer weiter zu. Inzwischen wird praktisch alles der Warenbeziehung unterworfen.

SB: In der Konferenz wurde auch das Thema Zwangsmedikation aufgeworfen. Inwieweit könnte der ökonomische Faktor der Pharmaindustrie mitverantwortlich dafür sein, daß immer mehr Menschen in der psychiatrischen Behandlung mit hohen Dosierungen von Psychopharmaka ruhiggestellt werden?

UD: Wie inzwischen nachgewiesen spielt die Pharmaindustrie dabei eine umfassende Rolle. Es gibt Krankheiten, die von der Pharmabranche überhaupt erst erfunden wurden. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) hat vor nicht allzu lange Zeit eine Erklärung abgegeben, derzufolge bestimmte psychische Erkrankungen wie etwa das Hausfrauensyndrom, gegen das Medikamente verschrieben worden sind, gar nicht existieren.

SB: Sieht man einmal von christlichen Lebensschützern ab, die sich vehement gegen die Präimplantations- und Pränataldiagnostik engagieren und die aktive Sterbehilfe als Verstoß gegen christliche Prinzipien strikt ablehnen, wird wenig öffentliche Kritik an medizinischen Verfahren und der Gesundheitswirtschaft geübt. Hat sich die Linkspartei von den konservativen Kräften das Ruder aus der Hand nehmen lassen oder machen politische Initiativen in diese Richtung keinen Sinn mehr, weil kaum noch Ansatzflächen für einen kritischen Diskurs in der Bevölkerung vorhanden sind?

UD: Jein. Es gibt erstens die Selbstorganisation der Betroffenen, die sich durchaus Gehör verschafft, und zweitens die Sozialistische Selbsthilfe Köln (SKK), die ein Ansprechpartner für uns ist. Diese Initiativen gibt es immer noch, weil die Probleme, aufgrund derer sie sich gebildet hatten, nach wie vor existieren. Man muß sich vor Augen halten, daß die Debatte um die Psychiatriereform ohne die heftigen Proteste des SKK gegen die Einrichtungen in Brauweiler in dieser Form niemals in Gang gekommen wäre. Allerdings muß man sich überlegen, wie man die Debatte heute von neuem anstößt. Ich sehe darin eine gesellschaftliche Aufgabe, weil eine entwürdigende und schädigende Behandlung mit der Demokratie unvereinbar ist.

SB: Wie schätzen Sie die Möglichkeit der Betroffenen ein, gemeinsam zu lernen, die psychosozialen Probleme, die zu einem gut Teil gesellschaftlich bedingt sind, wieder selbst in die Hand zu nehmen?

UD: Das halte ich für unbedingt notwendig. Die Selbstorganisationen können betroffene Menschen darin unterstützen, von den Medikamenten herunterzukommen, denn die Psychopharmaka machen in hohem Grade abhängig. Man kann nicht einfach sagen, ab heute schlucke ich das Zeug nicht mehr, sondern man muß sich da wirklich rausschleichen. Und dazu braucht man Unterstützung und Erfahrung. Meines Erachtens kann das im Augenblick nur über die Selbstorganisationen und Betroffenenverbände funktionieren.

SB: Das Thema Arbeit und geistige Gesundheit ist unter dem Stichwort Burnout wieder verstärkt in den gesellschaftlichen Blickpunkt geraten. Ist die objektive Zunahme psychischer Erkrankungen im Bereich der Lohnarbeit für die Linkspartei ein relevantes Thema?

UD: Ja, wir befassen uns damit im Rahmen des Landschaftsverbandes Rheinland, wobei ich bei diesem Thema zur Vorsicht rate, denn sobald Institutionen entstehen, neigen sie dazu, sich selbst eine Nachfrage zu schaffen. Ich arbeite jedenfalls im Rahmen gewerkschaftlicher Projekte auch mit Leuten zusammen, die die Meinung vertreten, daß Arbeit nicht nur angemessen entlohnt werden sollte, sondern an sich gut sein müsse. Gute Arbeit heißt, daß sie unter Verhältnissen stattfindet, die ein Mensch aushalten kann, ohne krank zu werden. Das Burnout-Thema ist eher eine Frage der Verdichtung und Beschleunigung der Arbeit, was zweifelsohne immer größere Ausmaße annimmt.

SB: Halten Sie es grundsätzlich für möglich, daß man in einer kapitalistischen Gesellschaft Verhältnisse der Zufriedenheit und des Wohlbefindens herstellen kann, obwohl die krisenhafte Entwicklung andauert und immer mehr Menschen verelenden?

UD: Ich glaube das grundsätzlich nicht, sonst wäre ich nicht in der Linkspartei, die sich immerhin eine Änderung der Gesellschaft programmatisch vorgenommen hat. Ich bin mir aber sicher, daß man auch in der kapitalistischen Gesellschaft Bereiche erkämpfen kann, die nicht vom Profit diktiert werden. Gerade im Gesundheitsbereich muß das rückgängig gemacht werden. In anderen Ländern funktioniert das. Ansonsten gibt es erstaunlich viele Dinge, die im Kapitalismus funktionieren und ihn menschlicher und aushaltbarer machen, ohne daß der Kapitalismus verschwunden ist.

SB: Frau Detjen, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:


Bisherige Beiträge zur Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/003: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Keine Fesseln und Gewalt (SB)
BERICHT/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Unfixiert und nicht allein (SB)
BERICHT/005: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Faule Kompromisse? (SB)
BERICHT/006: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Herrschaft, Brüche, Pharmafessel (SB)
INTERVIEW/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Geschlossene Gesellschaft, Dr. David Schneider-Addae-Mensah im Gespräch (SB)
INTERVIEW/008: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Langsam von der Leine lassen, Dr. Piet Westdijk im Gespräch (SB)
INTERVIEW/009: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - "Und weil der Mensch ein Mensch ist ...", Kathrin Vogler im Gespräch (SB)
INTERVIEW/010: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Kein Flug übers Kuckucksnest, Friedrich Schuster im Gespräch (SB)
INTERVIEW/012: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Humanes Erbe, Rolf Kohn im Gespräch (SB)

24. März 2014