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INTERVIEW/017: Berufsstand und Beteiligung - Deutungsvielfalt großgeschrieben, Michael Wunder im Gespräch (SB)


Fortschrittsfragen im freien Diskurs

Interview am 7. Februar 2014 in Hamburg-Alsterdorf



Dr. Michael Wunder ist Leiter des Beratungszentrums Alsterdorf und des Studienzentrums der Fernhochschule Hamburg. Als Mitglied im Kuratorium des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft und des Deutschen Ethikrats ist der Psychologische Psychotherapeut an zentraler Stelle in der gesellschaftlichen Debatte um das Für und Wider innovativer Entwicklungen im Bereich der Biomedizin und Life Sciences engagiert. Zum Abschluß des ersten Tages des von ihm mitveranstalteten Workshops "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus", der in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf stattfand, beantwortete Michael Wunder dem Schattenblick einige Fragen zu bioethischen Problemstellungen.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Michael Wunder
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Wunder, die Patientenautonomie ist zweifelsohne ein hohes Gut, aber es besteht die Gefahr, daß der Anspruch auf Selbstbestimmung ganz anderen Interessen als Feigenblatt dient, beispielsweise dann, wenn ein Mensch bei der Zustimmung zur Organspende nicht wirklich über die Konsequenzen informiert oder wenn er bei der Sterbehilfe über die materiellen Bedingungen seiner Entscheidung im unklaren gelassen wird. Welche Empfehlung würden Sie geben, um der Gefahr eines Mißbrauchs der Selbstbestimmung vorzubeugen?

Michael Wunder: Ich gebe Ihnen recht, daß der informed consent die Gefahr in sich birgt, daß eine Entscheidung, eben weil es keine Kontrolle der Informiertheit gibt, ohne Antizipation der tatsächlichen Folgen gefällt wird. In der Autonomiedebatte halte ich dies allerdings nicht für das größte Problem im Bereich des möglichen Missbrauchs des Selbstbestimmungsarguments und würde im Notfall sogar sagen, daß es in Kauf zu nehmen ist, weil jeder letztendlich für sich selber die Verantwortung dafür trägt, seine Entscheidung genauestens zu durchdenken. Vielleicht hat er das Glück eines fürsorglichen Umfelds oder eines Beraters, der ihm die Konsequenzen und Alternativen aufzeigt. Bei vielen Behandlungsfragen geht es in der Hauptsache um die Alternativen.

Das größere Problem in der Selbstbestimmungsdebatte ist meiner Ansicht nach tatsächlich der Mißbrauch in dem Sinne, daß Selbstbestimmung verstanden wird als gleichzeitige Durchsetzungsgarantie. Denn sobald eine selbstbestimmte Entscheidung eine moralisch strittige Handlung eines Gegenübers einbezieht, wie es bei der Sterbehilfe und auch bei der Suizidbeihilfe der Fall ist, muß die Selbstbestimmungsfrage ganz anders beleuchtet werden. Der alleinigen Berücksichtigung der individuellen Selbstbestimmung muss in diesem Zusammenhang entgegengesetzt werden, daß die tatsächliche Handlung auf situative Faktoren und das Umfeld angewiesen ist, also auf die jeweils Anderen bzw. auf den Konsens oder die Kommunikation zwischen den Handelnden. Niemand kann die Tötung auf Verlangen als Selbstbestimmungsrecht formulieren und erwarten, daß es damit ein Recht auf deren Durchführung gibt. Hinzukommt die Erkenntnis, dass eine Handlung nicht schon alleine dadurch moralisch höherwertig wird, weil sie selbstbestimmt ist. Bei der heutigen Podiumsdiskussion hat sich für den Bereich der Pränataldiagnostik (PND) herausgestellt, daß es die Entscheidungen ganz vieler einzelner Freier sind und keine staatliche Kollektiventscheidung. Das ist der große Unterschied zur Bevölkerungspolitik bzw. Sterilisationspraxis im Nationalsozialismus, aber im Ergebnis haben wir es dennoch durchaus mit eugenischen Auswirkungen zu tun.

So haben wir beispielsweise die Verminderung der Neugeborenenrate von Down-Syndrom-Kindern um zwei Drittel von der Mitte der 70er Jahre bis in das 21. Jahrhundert hinein zur Kenntnis zu nehmen. Dieser Rückgang fällt genau in die Zeit der enormen Ausweitung der PND hinein, als immer mehr Schwangerschaften zu Risikoschwangerschaften erklärt und verstärkt diagnostische Verfahren eingesetzt wurden, um insbesondere das Down-Syndrom aufzuspüren. Da gibt es einen direkten Zusammenhang, den man durchaus als "Eugenik von unten" bezeichnen könnte, wenngleich es sich moralisch absolut verbietet, den Stab über der Entscheidung einer einzelnen Frau zu brechen und ihr bevölkerungspolitische oder eugenische Motive zu unterstellen. Aber man muß sehen, daß die Wirkung der vielen Einzelentscheidungen dennoch eine eugenische Auswirkung auf die Gesellschaft hat.

SB: Wird man diesem Problem gerecht, wenn man auf der Basis einer Angebot-Nachfrage-Relation postuliert, daß der Kunde nun einmal nach biomedizinischen Dienstleistungen verlangt, ohne dabei in Rechnung zu stellen, daß Menschen in dieser Gesellschaft ökonomischen und materiellen Zwängen ausgesetzt sind, wie zum Beispiel gut auszusehen, leistungsfähig zu sein und sich zu optimieren?

MW: Ich würde mit der Kritik früher ansetzen, nämlich daß es auf die Formulierung der Angebote ankommt. Es muss eine kritische Debatte über die sogenannte Bedienungsmentalität von Medizin geben: Wenn die Kundin die Brust vergrößert und die Lippen aufgespritzt haben will, dann machen wir das. Die Frage ist, ob die Medizin die ganze Palette des Möglichen als Wählbares zur Verfügung stellen darf und muss. Für Frauen, die etwas kleinere Brüste und dünnere Lippen haben, ist die Verantwortlichkeit der Medizin eine sehr viel größere, als es sich in einem Angebots-Kundenverhältnis abbilden lässt. An diesen kritischen Stellen ist die Medizin gefordert, ihr Angebot zu überdenken. Das betrifft die Schönheitschirurgie wie auch die Diskussion über die Neuro-Enhancement-Angebote, wo Medikamente meiner Ansicht nach mißbräuchlich für andere Zwecke verwendet werden.

So sind Antidementiva in bestimmten Stadien der Demenz und insbesondere bei den degenerativen Demenzformen wirksam. Dasselbe gilt für Medikamente im Bereich von ADHS. Solche Medikamente sind natürlich auch bei Menschen wirksam, die keine Demenz oder krankhafte Unruhe- und Aufmerksamkeitsstörungen haben, sondern Prüfungsprobleme an der Universität oder ganz allgemein Konzentrationsprobleme. Dieses Angebot ist ein Mißbrauch der Medikamente, die für einen anderen Bereich entwickelt worden sind. In Amerika und Großbritannien, mittlerweile sogar auf einer Plattform von acht deutschen Bioethikern wird die Diskussion in der Weise geführt, daß der zweckentfremdete Einsatz dieser Medikamente eigentlich nur eine Erweiterung des Kaffee- oder Tabakangebots darstelle, da diese Genußmittel ebenfalls Enhancer seien; auf manche wirke Koffein, auf andere Tee und auf Dritte Tabak "verbessernd". Ganz unschuldig wird dann formuliert, daß lediglich bestimmte Wirkstoffe aus der pharmazeutischen Behandlung mit in diese Reihe aufgenommen würden. Da sehe ich eine rote Linie überschritten.

Ich halte diese Argumentation für unverantwortlich und wehre mich dagegen, übrigens auch aus einem sozialen Gerechtigkeitsdenken heraus. Wenn man das Neuro-Enhancement tatsächlich für den Kreis der besser situierten Studierenden, die in erster Linie davon profitieren würden, legalisiert, dann nimmt man damit große soziale Unterschiede in Kauf, denn nicht jeder kann sich die teuren Medikamente leisten. Dadurch würde ein neues Gerechtigkeitsproblem geschaffen in Hinsicht auf das Abschließen von Prüfungen und das Erlangen entsprechender Qualifikationen. Was wir in dieser Diskussion brauchen, ist eine Grenze, die nicht überschritten werden darf.

Michael Wunder im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

"Der Einfluß der Ethik ist so groß wie ambivalent"
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Wie hoch schätzen Sie als Mitglied des Deutschen Ethikrats die Chancen ein, daß eine ethische Empfehlung Wirkung zeigen könnte gegenüber der pharmazeutischen Industrie oder den berufsrechtlichen Standards der Ärzte?

MW: Ethik ist kein Siegel dafür, daß die Empfehlungen, die mit ihr begründet werden, auch vernünftig sind. Außerdem muß man bedenken, daß es sowohl den Vorschlag, das Neuro-Enhancement zu legalisieren, wie auch die Empfehlung, dies auf keinen Fall zu machen, gibt. Letzteres würde ich vertreten. Beides sind jedoch ethische Positionen. Ethik bedeutet nur, daß ein moralischer Standpunkt argumentativ untermauert und transparent her- und abgeleitet wird. Der Einfluß der Ethik ist so groß wie ambivalent.

Ich glaube schon, daß beispielsweise bestimmte Gesetzesvorhaben im Bundestag, wie der zur Präimplantationsdiagnostik (PID) und zur Reform des Transplantationsrechts auf diese ethischen Diskussionen zurückzuführen sind. Auf dem politischen Feld findet indes der gleiche Interessenskampf statt wie innerhalb der Ethik. Es herrschen einfach verschiedene Interessen vor. Auf der Podiumsdiskussion heute ist ein gutes Beispiel dafür angeführt worden. Nachdem der Bundestag Mitte der 90er Jahre entschieden hatte, auf keinen Fall die PID einzuführen, weil sie dem Embryonenschutzgesetz widerspreche, was man argumentativ sehr schnell unter Beweis stellen kann, wurde von einer bestimmten Interessensgruppe so lange gebohrt und genervt, bis es zu einer Entscheidung auf Bundesgerichtsebene kam, die in der PID kein rechtswidriges Verhalten erkannte. Das konnte auch der Bundestag nicht ignorieren. Also wurde so lange herumgeknetet, bis der Gesetzgeber schließlich das Gesetz erlassen hat, das wir heute haben, also die begrenzte Zulassung der PID von der jetzt behauptet wird, sie sei mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbar. Was ich übrigens nach wie vor bestreite. Man kann nicht vorhersagen, wie solche Debatten verlaufen und in welche Gesetzeslage sie letztendlich münden. Ich würde mich insgesamt dem Votum sehr vieler Teilnehmer hier anschließen, daß die deutsche Debatte sich durch ihre Diskursfreundlichkeit und Offenheit auszeichnet. Und davon profitieren wir alle. So gibt es nach wie vor immer noch eine große Zurückhaltung bei der embryonenverbrauchenden Forschung. Und es gibt soziokulturell wichtige Veränderungen, die durch kritische Diskussionen ausgelöst wurden und die unser Leben doch stark beeinflusst haben. Ich nenne die Entwicklung der Palliativmedizin oder die Auflösung der Anstalten und die heutige Inklusionsdebatte, wenn gleich bei beiden Gebieten eine Menge verschiedener Faktoren, insbesondere auch die internationale Entwicklung, eine Rolle spielen.

SB: Man kann den Eindruck erhalten, daß es sich bei den Kritikern der PID, der Transplantationsmedizin oder aktiven Sterbehilfe vor allem um Christen oder Wertkonservative und weniger um Liberale oder Linke handelt. Aus welcher gesellschaftlichen Richtung kommt Ihrer Ansicht nach maßgeblich die Kritik in der Bundesrepublik an biomedizinischen Innovationen?

MW: Ich glaube, daß in einer ganzen Reihe von Diskussionspunkten schon theologische Begründungen und christliche Überzeugungen eine große Rolle spielen. Dies gilt vor allem für die Debatte über Sterbehilfe, Embryonenschutz und PID. Allerdings kann man auch für Bereiche wie die Palliativversorgung oder die Organtransplantation auch ganz kirchen- oder glaubensferne Impulsgeber benennen, wie beispielsweise die Debatten um Gerechtigkeit, Verantwortung oder humanistische Werte. Aber gerade im Pränatalbereich und bei der Sterbehilfe sind die Kirchen, insbesondere die katholische, im Grunde genommen wichtige Stichwortgeber, was ich sehr begrüße, wenngleich ich an vielen anderen Punkten mit den ethischen Positionen der katholischen Kirche oder der Caritas nicht übereinstimme. Dennoch gibt es Übereinstimmungen. Darin sehe ich das Zeichen einer freiheitlichen Diskurskultur, die ich als Nicht-Katholik durchaus lobenswert finde und mich auch darüber freuen kann, daß wir einer Meinung sind mit Bischöfen oder Vertretern der katholischen Kirche.

SB: Die linke Biomedizinkritik, die sich auf eine materialistische Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse beruft, war in den 80er Jahren recht stark. Was ist aus ihr geworden?

MW: Sie hat sich weitgehend verflüchtigt, und ich glaube, daß sie vor allem an dem Freiheitsargument gescheitert ist. Die Argumentation, daß die verstärkte biomedizinische Präsenz in der Gesellschaft auf den Einfluß und die Geschäftsinteressen der großen Pharmaindustrie zurückgehe, ist bei bestimmten Fragen, bei denen die Individualentscheidung sehr stark im Vordergrund steht, schlichtweg nicht mehr brauchbar. Bei Debatten zum Beispiel zum Umgang mit Inzest oder Intersexualität oder über die Rolle der Medizin bei psychosozialen Problemlagen wird die Begriffslosigkeit dieses Ansatzes, der die Ökonomie in den Vordergrund rückt, offensichtlich. Im übrigen glaube ich, dass die Biomedizinkritik auch gerade in ihren Anfängen überwiegend eine Wertediskussion war, eine antiutilitaristische insbesondere, wenn ich an die Kritik der Bioethik-Konvention des Europarates zurückdenke. Heute kann man aber sagen, daß der kritische Blick auf den Ökonomismus im Gesundheitswesen durchaus von vielen getragen wird. Es gibt einen relativ breiten Konsens gerade hier in Hamburg darüber, daß die Privatisierung der Krankenhäuser in der Form, daß jetzt Asklepios als Monopolist und Massenanbieter fungiert, zu kritisieren ist, übrigens auch von Leuten, von denen man das vorher nicht erwartet hatte, weil sie trotz des Volksentscheids den Verkauf des Landesbetriebs Krankenhäuser Hamburg (LBK) an die Privatiseure durchgedrückt haben. Über 7 Prozent Rendite müssen erwirtschaftet werden. Was das heißt, erkennen jetzt viele und kommen angesichts dieser Wirklichkeit zu der begrüßenswerten Erkenntnis, dass ein Krankenhaus zwar wirtschaftlich geführt werden muss, aber eben kein Rendite erbringendes Wirtschaftsunternehmen ist.

SB: Herr Wunder, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

Bisherige Beiträge zum Workshop "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/008: Berufsstand und Beteiligung - Die im Schatten sieht man nicht ... (SB)
BERICHT/010: Berufsstand und Beteiligung - Alte Schuld runderneuert (SB)
INTERVIEW/015: Berufsstand und Beteiligung - Spuren der Täuschung, Christl Wickert im Gespräch (SB)
INTERVIEW/016: Berufsstand und Beteiligung - Archive, Forschung und Verluste, Harald Jenner im Gespräch (SB)

14. April 2014