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INTERVIEW/024: Berufsstand und Beteiligung - Alle für keinen, keiner für jeden, Hannelore Witkofski im Gespräch (SB)


Unabgegoltene Herausforderungen der Behindertenbewegung

Interview am 8. Februar 2014 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme



Die Sozialpädagogin und Psychologin Hannelore Witkofski ist seit vielen Jahren in der Behindertenbewegung aktiv. Im Auschwitzkomitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V. forschte sie zur Geschichte kleinwüchsiger Menschen im Konzentrationslager Auschwitz. Dabei lernte sie Perla Ovici kennen, die zusammen mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert und dort vom KZ-Arzt Josef Mengele grausamen Experimenten unterzogen wurde. Die Geschichte der Freundschaft dieser beiden kleinwüchsigen Frauen ist Gegenstand des Films "Liebe Perla", eine preisgekrönte deutsch-israelische Koproduktion des Regisseurs Shahar Rozen [1].

Zum Abschluß des Workshops "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" beantwortete Hannelore Witkofski dem Schattenblick einige Fragen.

Geschlossener Güterwaggon mit Holzwänden - Foto: © 2014 by Schattenblick

Historischer Reichsbahnwaggon mit rekonstruierter Gleisanlage in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Witkofski, Sie sind schon seit Ende der 70er Jahre mit den Themen Eugenik und Euthanasie politisch befaßt. Gibt es Ihrer Ansicht nach einen Zusammenhang zwischen den Krankenmorden im NS-Staat und heutigen biomedizinischen Entwicklungen, oder würden Sie sagen, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun?

Hannelore Witkofski: Beides hat sehr wohl miteinander zu tun. Allerdings wird die Euthanasie, die im NS praktiziert wurde, heutzutage auf diese Art und Weise nicht mehr aktiv betrieben. Es gibt keine "Kinderfachabteilung" mehr und es werden Eltern auch nicht gezwungen, ihre Kinder abzugeben. Und es müssen auch keine Soldaten, wenn sie zum Beispiel aus Afghanistan zurückkommen, eines Hungertodes sterben oder werden mit Luminal um die Ecke gebracht. Nein, so ist es ganz bestimmt nicht. Ich denke, man muß sehr genau historische Fakten und aktuelle Vorgehensweisen auseinanderhalten, aber gleichzeitig muß man auch sehr genau hinschauen, ob der Gedanke des NS-"Euthanasieprogramms" vom "lebenswerten und lebensunwerten Menschenmaterial" nicht doch die Zeiten überstanden hat. Ich habe den Eindruck, daß es nach wie vor Leute gibt, die dieser Ideologie anhängen.

Es wird dann natürlich nicht so genannt, sondern im Sinne des Gnadentodes kaschiert, aber dennoch spielen ökonomische Gründe wieder eine ganz starke Rolle. Jetzt wird die Euthanasie eher über den Weg der Pränataldiagnostik (PND) und die Präimplantationsdiagnostik (PID) oder über die Sterbehilfediskussion nach dem Motto "Jeder soll das Recht haben, seinen Tod selbst zu bestimmen" realisiert. Neu hinzugekommen ist der Ausdruck der Selbstbestimmung, den es im NS-Staat so nicht gab. Allerdings kann man Leute auch dazu bringen, sich umbringen lassen zu wollen, indem man ihre Daseinsbedingungen entsprechend verschlechtert - wenn Ärzte zum Beispiel nicht genug Schmerzmittel geben dürfen oder keine ausreichende Pflege zu Hause gewährt wird - bzw. die Pflege in den Heimen immer mehr heruntergefahren wird. Diese Sachen hängen miteinander zusammen, werden aber politisch und gesellschaftlich gerne auseinanderdividiert, damit man die Zusammenhänge nicht erkennt.

SB: Die Selbstbestimmung ist ein sehr hohes Gut. Wer jedoch als Lohnabhängiger unter Bedingungen lebt, die Zwangscharakter haben, wie kann der dann in seinen letzten Lebensmonaten plötzlich volle Selbstbestimmung erlangen? Besteht da nicht ein gewisser Widerspruch?

HW: Das ist ein Widerspruch, aber ich würde den jetzt nicht von der Lohnarbeit herleiten. Man könnte auch ganz allgemein fragen: Wo gibt es in unserer oder in anderen Gesellschaften überhaupt Selbstbestimmung? Zunächst müßte man jedoch klären, was unter Selbstbestimmung verstanden wird. Ich bin schon der Meinung, daß niemand auf der Welt vollkommen selbstbestimmt leben kann oder sollte. Das wäre die Hölle, weil die Freiheit, mich selbst zu bestimmen, natürlich immer da aufhört, wo die Freiheit des anderen anfängt.

SB: In der aktuellen Biomedizinkritik herrscht ein Mangel an einer materialistischen Gesellschaftsanalyse, während die Kritik an biomedizinischen Verfahren heutzutage in der Hauptsache von christlichen Kreisen ausgeht.

HW: BioSkop ist ein Beispiel dafür, daß es auch andere Kräfte gibt. Mit der Formulierung, daß es auf jeden Fall zu wenig ist, bin ich einverstanden. Dennoch möchte ich BioSkop oder das Gen-ethische Netzwerk und solche Initiativen nicht einfach hinten herunterfallen lassen.

Zeichnung stehender Häftlinge in offener Tür des Güterwaggons - Foto: © 2014 by Schattenblick

Bei Häftlingstransporten mußten mehr als 80 Personen pro Waggon teilweise tagelang stehen oder kauern
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Über den Film "Pannwitzblick" [2] gab es in der Linken seinerzeit eine breite Diskussion, die sich auch in der Solidarität mit der Krüppelbewegung oder mit Behinderten allgemein ausdrückte. Könnten Sie die gesellschaftliche Entwicklung seitdem aus Ihrer und damit der Sicht einer davon unmittelbar Betroffenen schildern?

HW: Ich denke nicht, daß damals mehr Solidarität mit den Behinderten geübt wurde. Es gab aber zweifelsohne eine stärkere Solidarität und auch mehr Aktivitäten unter uns Menschen mit Behinderungen, und das hat sich verändert. Egal, ob wir die Bühnen besetzt oder Proteste veranstaltet haben, es ist uns nicht gelungen, rechtzeitig junge Leute hinzuzuziehen. Wir wußten immer alles besser und waren ja so taff. Ich denke, wir haben ganz eindeutig Fehler gemacht. Die heutige Behindertenbewegung ist nur noch ein Papiertiger. Manchmal werden noch ganz nette Aktiönchen gemacht, aber mehr auch nicht. Zum Teil werden moderne Kommunikationsmittel wie das Internet genutzt. So gibt es Seiten von Leuten, die das Thema im Netz zur Sprache bringen. Das ist bestimmt gut und ehrenwert, aber diese Seiten werden kaum hinreichend weitergepflegt. Oder es gibt Seiten mit eigenem Rollstuhlführer, wo sich jeder eintragen und auch vermerken kann, in welches Gebäude er reinkommt oder nicht. Auf diese Weise wird der Widerstand jedoch individualisiert und immer weniger gemeinsam veranstaltet.

SB: Es gibt inzwischen mehr Wohnangebote für Behinderte, doch besteht dadurch nicht auch die Gefahr der Vereinzelung?

HW: Nein, die Bewegung Raus aus den Heimen ist zumindest ein positiver Ansatz. Die wenigen Leute, die es aus eigenen Kräften schaffen, aus dem Heim auszuziehen, um dann mit Assistenzen ein selbstbestimmtes Leben zu führen, werden nicht einsam in ihren Wohnungen leben. Schwieriger ist die Situation der Leute, die von Amts wegen ambulantisiert werden. Leute, die früher zusammen in einer Wohngruppe gelebt haben, werden mit Verwaltungstricks ins Ambulantisierungsprogramm genommen. Sie leben dann zwar immer noch mit anderen Leuten zusammen in einer Wohngruppe, bekommen aber weniger Unterstützung. Was nützen einem Rechte ohne Ressourcen? Alles ist schön ratifiziert, aber was nützt es, wenn das Ganze nichts kosten darf und gegen uns gedreht wird? Es ist eine trickreiche Methode, um Sparmaßnahmen zu realisieren. Ob Leute, die gesund genug sind, um arbeiten zu können, irgendwann im Rahmen der Inklusion ihre Ziele erreichen werden, bleibt abzuwarten. Man hat das Wort Integration durch Inklusion ersetzt, aber die Ergebnisse der Inklusion werden wir erst in 20 Jahren kennen.

Luke mit gezeichneten Häftlingsgesichtern, darunter Aufdruck 'Deutsche Reichsbahn - Kassel' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Aus ganz Europa zur Vernichtung durch Arbeit ins KZ-Neuengamme
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Die Ressourcenfrage ist eminent wichtig gerade für Leute, die aufgrund ihrer körperlichen Situation auf Sozialtransfers angewiesen sind. Könnten Sie in diesem Zusammenhang vielleicht Ihre eigenen Lebensumstände schildern?

HW: Ich bin zur Zeit recht gut ausgestattet. Ich habe Assistenz rund um die Uhr und bekomme Kraftfahrzeughilfe. Ich lebe in einer eigenen Wohnung, aber Mitte nächsten Jahres gehe ich mit 65 Jahren in Rente. Ich kann im Augenblick nicht einschätzen, was dann auf mich zukommt, ob ich mein Kraftfahrzeug behalten kann oder mir vielleicht die Assistenz rund um die Uhr gestrichen wird. Möglicherweise werde ich unter Druck gesetzt, doch in ein Heim zu ziehen oder muß mit dem Betrag, den ein Heimplatz für Leute mit Pflegestufe III kostet, zurechtkommen.

Der Kampf um mehr Selbständigkeit und Ressourcen für das eigene Leben ist in den letzten Jahren zunehmend schwerer geworden. Einerseits heißt es immer "ambulant vor stationär", aber andererseits steht im Sozialgesetzbuch XII, daß das nicht teurer sein darf als eine stationäre Unterbringung. Nur werden dabei nicht die tatsächlichen Kosten zugrunde gelegt, sondern nur das, was ein Bewohner einer Einrichtung oder der Staat unmittelbar zahlt. Die versteckten Subventionierungen jedoch werden dabei nicht berücksichtigt.

SB: Bei den Sommer-Paralympics vor zwei Jahren in London wurde die Leistung des Staates für Behinderte geradezu in den Himmel gehoben, und das, obwohl Großbritannien eine für behinderte Menschen drakonische Sozialgesetzgebung besitzt. Man könnte den Eindruck gewinnen, daß der Sport mit Behinderten als Legitimationsfaktor für eine Politik fungiert, die alles andere als behindertenfreundlich ist. Wie bewerten Sie den Behindertensport im Kontext seiner gesellschaftspolitischen Funktion?

HW: Ich kann über das britische Sozialsystem nichts sagen, weil ich mich mit diesem Aspekt nicht befaßt habe. Doch während Presse und Politik über die Sportförderung in der Bundesrepublik jammern, geraten die Behinderten ins Jubeln. Das liegt daran, daß Frau Verena Bentele als neue Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen selbst Paralympics-Siegerin im Biathlon ist. Mit ihr verbindet sich die Hoffnung, daß die Sportförderung für Behinderte jetzt angehoben wird. Solange im Sport letztlich unter der Maxime schneller, höher, weiter einer gegen den anderen kämpft, macht ein inklusiver Behindertensport natürlich keinen Sinn. Sport ist etwas Schönes, jeder sollte sich bewegen, aber ich kann Großwettkämpfen, egal, ob Fußball-WM oder Olympische Spiele, persönlich nichts abgewinnen. Aber wenn Sportförderung genutzt wird, um Menschen mit Behinderung gegeneinander auszuspielen, bin ich dagegen.

SB: Nun gibt es unterschiedliche Formen der Behinderung. Während Menschen mit Unfallfolgen, wie unser Finanzminister Herr Schäuble, sozusagen aus dem normalen Leben gerissen werden, sind andere Menschen von Geburt an behindert und tauchen im Zusammenhang der Paralympics in der Regel gar nicht auf. Könnte man in diesem Zusammenhang nicht sogar von einem Klassenunterschied sprechen?

HW: Das kommt auf die Art der Behinderung an. So war Frau Bentele von Geburt an blind. Bei Blinden würde ich es daher bezweifeln. Wer jedoch im Laufe seines Lebens erblindet, wird wahrscheinlich Schwierigkeiten haben, mit dieser Behinderung klarzukommen. Allerdings gibt es für Menschen mit sogenannten Lernbehinderungen oder Menschen mit Down-Syndrom Special Olympics. Dennoch ist das für mich ein Nebenschauplatz, weil die Paralympics die gesellschaftliche Ausgrenzung und Benachteiligung behinderter Menschen nicht aus der Welt schaffen.

SB: War die Tagung für Sie alles in allem konstruktiv und zufriedenstellend?

HW: Ja, ich habe ein paar schöne Vorträge gehört. Sehr gefallen hat mir heute Ingo Harms, weil er politisch argumentiert hat und darauf hinwies, daß die "Euthanasie" lange vor den Nationalsozialisten angefangen hat. So sind unter den Briten Tausende Behinderte verhungert. Für mich war das ein eindeutig politischer Ansatz. Bei manchen Vorträgen fehlte mir allerdings die scharfe Trennung zwischen Tätersprache, Zitat und eigener Meinung. Deswegen bin ich gestern auch eingeschritten. Das waren sehr junge Historiker, die gerade ihre ersten Arbeiten schreiben, aber bei einigen habe ich doch den Eindruck gewonnen, daß sie die Euthanasietoten nicht in das Gesamte einordnen können. Sie sind zwar erschüttert, aber wenn dann festgestellt wird, daß Ärzte "motivationsgeleitete Diagnosen" stellen, dann frage ich mich, wie das sein kann.

Die kritische NS-Aufarbeitung fing ja nicht im Jahr 2010 oder 2014 an. Deshalb wundert es mich, wenn manche Zusammenhänge überhaupt nicht erkannt werden. Das zentrale Forschungsinteresse an den Kleinwüchsigen im NS-Staat, um an ihnen das Faktum einer Erbkrankheit zu postulieren, habe ich schließlich nicht erfunden. Daher hat es mich ein bißchen erschreckt, daß die Sorgfalt der Sprache, die zum Beispiel Karl Heinz Roth sehr wichtig war, heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr zu sein scheint. Gut gefallen hat mir dagegen der Referent Roman Behrens, der zum Thema der Militärpsychiatrie in der deutschen Kriegsmarine vortrug, weil er immer von einer sogenannten psychiatrischen Erkrankung oder einer vermeintlichen Schizophrenie gesprochen hat. Diese sprachliche Genauigkeit hätte ich mir durchgängig gewünscht.

SB: Frau Witkofski, vielen Dank für das Gespräch.

Rote und weiße Nelken am Güterwaggon über Tafel mit polnischem Text - Foto: © 2014 by Schattenblick

Trauer vergißt nie ... für Europas Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://terfloth.de/uber____/uber__Dokumentarfilme/Liebe_Perla/liebe_perla.html

[2] BERICHT/002: "Der Pannwitzblick" ... den Marsch in die eugenische Gesellschaft verhindern (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/pprb0002.html


Bisherige Beiträge zum Workshop "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

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15. Mai 2014