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INNEN/2879: "Berliner Erklärung" des Bundesvorstandes von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN


Pressedienst von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 5. Januar 2016

"Berliner Erklärung", die der Bundesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heute zum Abschluss seiner zweitägigen Klausur verabschiedet hat.


Berlin, 05. Januar 2016

Berliner Erklärung

2016 wird ein entscheidendes Jahr für den Klimaschutz, für die Flüchtlingspolitik und für mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Hier braucht es entschlossenes Handeln in Deutschland und eine mutige gemeinsame Politik in Europa. Gerade jetzt geht es darum, Europa zusammenzuhalten statt in Kleinstaaterei und Renationalisierung zu verfallen.

Nach dem historischen Klimaschutz-Abkommen von Paris muss Deutschland seine Anstrengungen bei der Energiewende verdoppeln, die Erneuerbaren massiv ausbauen, den Kohleausstieg einleiten und die ökologische Modernisierung der Wirtschaft vorantreiben. Für die gute Aufnahme und möglichst schnelle Integration von Flüchtlingen sind stabile und dauerhafte Strukturen notwendig, denn angesichts leider unverminderter Fluchtursachen werden Menschen auch 2016 in großer Zahl in der EU Schutz suchen. Beides muss Hand in Hand gehen mit einer Politik für mehr Gerechtigkeit, die den sozialen Zusammenhalt stärkt und eine gerechte Teilhabe aller am gesellschaftlichen Wohlstand ermöglicht.

Deshalb stehen wir Grüne auch 2016 für Weltoffenheit, Klimaschutz und Gerechtigkeit. Wir zeigen die Alternativen auf zu einer zerstrittenen Großen Koalition, die ohne Mut, ohne Plan und oft ohne Herz agiert. Programmatisch und organisatorisch wollen wir in diesem Jahr damit die Grundlagen legen für ein starkes grünes Ergebnis bei der Bundestagswahl 2017, das uns realistische Optionen bietet, die Große Koalition abzulösen.

2016 ist für uns das Jahr der Landtagswahlen und der Urwahl der Spitzenkandidat*innen. Bei den Landtagswahlen kämpfen wir dafür, grüne Landesregierungen fortzusetzen und neue hinzuzugewinnen. Gemeinsam werden wir mit aller Entschlossenheit dafür kämpfen, die grün-rote Landesregierung unter unserem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann fortzusetzen. Ein erneuter Sieg in Baden-Württemberg wird zeigen: Wir können mehr als Juniorpartner! Die erfolgreiche rot-grüne Politik in Rheinland-Pfalz wollen wir mit einem starken grünen Ergebnis fortführen. Mit gestärkten Fraktionen in Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, wollen wir unsere Verankerung und unseren Gestaltungsanspruch in allen Bundesländern weiter ausbauen und Regierungsverantwortung übernehmen.

Klimaschutz-Abkommen von Paris umsetzen

In der Klimapolitik ist das Pariser Klimaschutz-Abkommen ein Auftrag zum Handeln. Das in Paris vereinbarte Ziel, die gefährliche Erderwärmung auf möglichst 1,5 Grad zu begrenzen, muss Leitlinie auch der deutschen Klimapolitik werden. Das bedeutet vor allem die Fortsetzung der Bürgerenergiewende und den geordneten Ausstieg aus dem Klimakiller Kohle. Er muss unverzüglich begonnen und über die nächsten zwei Jahrzehnte schrittweise vollzogen werden. Im Gegenzug muss die anstehende EEG-Reform das Ausbautempo für die Erneuerbaren Energien erhöhen statt Sonnen- und Windenergie neue Hindernisse in den Weg zu legen. Nur so wird Deutschland wieder Vorreiter im Klimaschutz und Innovationsmotor für die globale Energiewende.

Wir wollen den Klimaschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankern und in einem nationalen Klimaschutzgesetz verbindliche Klimaschutzvorgaben für Energieversorgung und Industrie, Gebäude, Landwirtschaft und Verkehr festlegen. Schon im Haushalt 2016 muss sich der Geist von Paris in einer deutlichen Kürzung der Milliardenbeträge für klimaschädliche Subventionen widerspiegeln.

Wir sind überzeugt: Wir können besser wirtschaften. Wir können unsere Lebensqualität verbessern, ohne dass unser Wohlstand auf Dauer auf Kosten des Klimas, der Umwelt, zukünftiger Generationen und ausgebeuteter Menschen geht - und ohne dass wir unsere Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Auch die Digitalisierung wollen wir für die ökologische Modernisierung der Wirtschaft nutzen. Eine gute Zukunft wird es nur dann geben, wenn unser Wirtschaften innerhalb der ökologischen Grenzen unseres Planeten stattfindet.

Diese Herausforderungen sind unser Ansporn. Um sie zu meistern, ist eine bessere Wirtschaftspolitik unerlässlich. Wir setzen dabei auf Ordnungspolitik mit klaren ökologischen und sozialen Leitplanken für Märkte, um die Natur vor Übernutzung und die Menschen vor Ausbeutung zu schützen. Die Politik muss Richtung und Ziel vorgeben, den Weg zu den besten Lösungen zu finden, ist Aufgabe der Unternehmen im fairen Wettbewerb.

Integrationsoffensive für ein weltoffenes Deutschland

In der Flüchtlingspolitik ist angesichts der unverminderten Fluchtursachen nicht mit einem Rückgang der Zahl der Schutzsuchenden zu rechnen. Darauf muss die Politik endlich reagieren - nicht durch Abschottung und Abwehr, sondern durch die Schaffung sicherer Einreisewege nach Europa und den Aufbau der notwendigen Infrastruktur für die Aufnahme und Integration der geflüchteten Menschen. Wir Grüne werden das Asylrecht weiter gegen die zynischen Versuche von Seehofer und Co. verteidigen, es durch Obergrenzen einzuschränken.

Deutschland muss sich auf seine Kräfte besinnen. Wir müssen 2016 einen Schritt weitergehen und umschalten - von der kurzfristigen Nothilfe hin zum Aufbau einer dauerhaften Willkommens-Infrastruktur. Dazu braucht es ein zwischen Bund, Ländern und Kommunen abgestimmtes Programm und einen bundesweiten Investitionspakt. Die Schwerpunkte wollen wir auf die zentralen Bereiche Bildung und Spracherwerb, Arbeitswelt, Gesundheit und Wohnen fokussieren. Zur Koordinierung dieser Aufgaben fordern wir ein Integrationsministerium als Querschnittsressort auf Bundesebene, das in den Bereichen Einwanderung, Flüchtlingspolitik, Integration und Staatsangehörigkeitsrecht federführend sein soll. Wir werden die Bundesregierung an ihrer Zusage messen, die Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in drei Monaten abzuwickeln, damit Asylsuchende schneller raus kommen aus der Erstaufnahme und früher Zugang erhalten zu Integrationskursen, Fortbildung und Arbeitsmarkt oder damit zumindest Klarheit herrscht, ob sie bleiben können oder nicht.

Es ist höchste Zeit, durch humanitäre Visa und großzügige Kontingente für Flüchtlinge aus Kriegsgebieten sichere und legale Zugangswege nach Europa zu schaffen, damit die Flüchtlinge nicht mehr auf gefährliche Routen übers Mittelmeer und den Balkan angewiesen sind. Deutschland muss sich nachdrücklich für eine solidarische Lösung zur Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge in der EU einsetzen, die das gescheiterte Dublin-System ablöst. Wir wenden uns gegen die Einführung von nationalen Grenzkontrollen innerhalb der EU. Grenzschutz an den europäischen Außengrenzen ist eine gemeinsame Aufgabe. Die Kontrolle der gemeinsamen Außengrenzen muss auf geltendem Recht und Menschenrechten beruhen. Sie darf nicht der Abschottung oder Abschreckung dienen.

Wer will, dass weniger Menschen zur Flucht gezwungen werden, muss sich wirksam mit den vielfältigen Ursachen der Flucht beschäftigen. Die Beseitigung von Fluchtursachen muss zur Maxime der deutschen und europäischen Außen-, Entwicklungs-, Wirtschafts- und Rüstungsexportpolitik werden. Das ist anstrengend und liefert oft keine kurzfristigen Ergebnisse. Aber wohlfeile Sonntagsreden werden an den Fluchtbewegungen nichts ändern.

Gerechtigkeit gestalten

Wir Grüne kämpfen für ein gerechtes Land, in dem jeder Mensch ein selbstbestimmtes Leben führen kann und in dem unsere Gesellschaft als Ganzes zusammenhält. Deutschland ist wirtschaftlich stark und verfügt über leistungsfähige soziale Sicherungssysteme. Gleichzeitig gibt es in unserer Gesellschaft aber sehr berechtigte Zukunftsängste und eine tiefe Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt angesichts einer sich verfestigenden sozialen Spaltung.

Immer häufiger entscheidet die soziale Herkunft über den Lebensweg. Aufstieg aus eigener Kraft ist schwieriger geworden. Vermögen und Chancen sind so ungleich verteilt wie nie zuvor seit dem 2. Weltkrieg - und die Ungleichheit wächst mit jedem Jahr. Auch zwischen Männern und Frauen sind die Möglichkeiten immer noch höchst ungleich verteilt. Auch diejenigen, denen es gut geht, machen sich Sorgen: um Armut und Vereinsamung, Armut im Alter, um schlechte Pflege, um wachsende Ungleichheit und soziale Kälte. Diese Sorgen und diese Unzufriedenheit gefährden den sozialen Zusammenhalt, schwächen die Akzeptanz der Demokratie und öffnen rechtspopulistischen Ressentiments Tür und Tor.

Unser Ziel ist ein Land, in dem sich jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft entfalten kann, und dessen Wohlstand allen zugute kommt. In der Gesellschaft, die wir wollen, dient die Wirtschaft dem Menschen und nicht umgekehrt. Unternehmen zahlen faire Löhne. Kein Mensch muss finanzielle Ängste vor Krankheit und Alter haben - ganz egal wie er versichert ist. Frauen haben die gleichen Rechte und Chancen wie Männer, und Familien haben Zeit füreinander. Der öffentliche Raum genießt höchste Wertschätzung und hat ausreichende Mittel: Schulen, Straßen, Spielplätze und Parks, Theater und Sportanlagen. Für gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland wird es weiter einen Soli brauchen, der aber nicht an Himmelsrichtungen sondern am Bedarf ausgerichtet sein muss.

Wir wollen als Grüne deshalb in diesem Jahr an einem Programm für mehr Gerechtigkeit, Zusammenhalt und Teilhabe arbeiten. Konkret geht es uns dabei um gute Arbeit für alle und gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, um mehr Steuergerechtigkeit und Steuerehrlichkeit, um bezahlbaren Wohnraum und faire Energiepreise, um eine armutsfeste Grundsicherung, um ein gerechteres Gesundheits- und Pflegesystem und um eine zukunftssichere Rentenversicherung, die vor Altersarmut schützt. Riester-Rente und betriebliche Altersversorgung reichen bei weitem nicht aus, um das Absinken des gesetzlichen Rentenniveaus auszugleichen - gerade für Geringverdiener*innen. Wir werden im Laufe des Jahres ein grünes Rentenkonzept vorlegen. Die grüne Bundestagsfraktion und unser grüner Wirtschaftsminister in Hessen haben dazu bereits neue Instrumente in die Diskussion gebracht.

Freiheit und Demokratie verteidigen

Die Anschläge von Paris haben uns einmal mehr verdeutlicht, dass wir in Europa zusammenstehen müssen. Die Krisen im Innern wie im Äußeren können wir nur gemeinsam meistern. Allen Versuchen, jetzt Nationalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu propagieren, treten wir entschieden entgegen. Auch nach dem Terroralarm von München gilt: Wir führen eine besonnene Debatte, die die Sicherheitsbedürfnisse und Ängste der Menschen anerkennt, notwendige Konsequenzen ermöglicht und nicht auf Verängstigung oder Ausgrenzung setzt. Unserem Verständnis nach muss die Sicherheit im Dienst der Freiheit stehen. Die notwendige Bekämpfung des Terrors muss zielgerichtet erfolgen, ohne unsere Bürgerrechte zur Disposition zu stellen.

Die europäischen Werte von Freiheit und Demokratie sind eine Verpflichtung für alle Mitglieder der Europäischen Union. Deshalb betrachten wir die Entwicklungen in Polen mit Sorge. Versuchen, die Pressefreiheit einzuschränken, Oppositionsrechte zu beschneiden oder die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben, müssen alle überzeugten Europäer*innen entschieden widersprechen.

Beteiligung stärken

Im Jahr 2016 wollen wir uns auch als Partei weiterentwickeln und die Beteiligungsmöglichkeiten der Mitglieder weiter erhöhen. Bis 2020 wollen wir GRÜNE als erste Partei off- und online auf allen Ebenen verbinden. Auf dem Weg dahin wollen wir immer wieder neue Ideen ausprobieren. 2016 werden wir eine Mitgliederbefragung zum Thema Gerechtigkeit durchführen, die Input bietet für die Beratungen unserer BDK im November 2016. Mit der Urwahl setzen wir das Zeichen: Wir sind die Beteiligungspartei mit vielen klugen Köpfen. Auch beim Bundestagswahlprogramm werden on- und offline alle Mitglieder mitdiskutieren können. Ende 2016 soll es eine Online-Befragung über die Schwerpunktprojekte für den Programmentwurf geben. Über einen Koalitionsvertrag nach der Bundestagswahl 2017 werden alle Mitglieder in einer Urabstimmung entscheiden können.

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Quelle:
Pressedienst vom 5. Januar 2016
Bündnis 90/Die Grünen Bundesvorstand
Sigrid Wolff, Pressesprecherin
Platz vor dem Neuen Tor 1, 10115 Berlin
E-Mail: presse@gruene.de
Tel: 030/28 442-131, -134, Fax: 030/28 442-234
Internet: www.gruene.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2016

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