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PRESSEKONFERENZ/1753: Kanzlerin Merkel, die Präsidentin Littauens und die Ministerpräsidenten Lettlands und Estlands, 14.09.18 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut
Mitschrift der Pressekonferenz in Vilnius - Freitag, 14. September 2018
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel, der litauischen Präsidentin Dalia Grybauskaite, dem lettischen Ministerpräsidenten Maris Kucinskis und dem estnischen Ministerpräsidenten Jüri Ratas

(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultandolmetschung)


P'in Grybauskaite: Zunächst möchte ich die Bundeskanzlerin und die baltischen Ministerpräsidenten sehr herzlich in Litauen willkommen heißen. Bei dem heutigen Treffen, dessen Ziel darin bestand, über eine doch sehr komplizierte politische Jahreszeit der Europäischen Union zu sprechen, haben wir uns mit den Herausforderungen befasst, denen sich Europa gegenübersieht: mit dem Brexit, mit sicherheitspolitischen Herausforderungen, mit dem mehrjährigen Finanzrahmen. Diese Themen haben wir auf die Tagesordnung gesetzt. Denn darüber werden wir auch nächste Woche sprechen. Ein informeller Europäischer Rat wird dann in Österreich stattfinden.

Die Europäische Union muss mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen. Das heißt, wir, die Mitglieder der Europäischen Union, müssen weiterhin darauf hinarbeiten, globale Akteure zu bleiben. Das Potenzial dazu haben wir, aber wir tragen auch die Verantwortung, dies umzusetzen. Es liegt an uns, ob die geopolitischen Spannungen, die neu zu fassenden internationalen Handelsregeln zu einer Krisensaison führen werden oder ob es uns gelingen wird, unsere Region und auch Deutschland in eine friedliche Zukunft zu führen. Wir sind zu vielen europäischen Fragen einer Meinung, und wir sind bereit, die Verantwortung für die Zukunft Europas zu übernehmen.

Zunächst zum Thema Sicherheit: Die Europäische Union muss mehr in ihre eigene Sicherheit investieren. Dazu gibt es keine Alternative. Das liegt auf der Hand, wenn man sich die geopolitische Lage vor Augen hält. Wir müssen uns gegenüber den Bedrohungen aus dem Cyberraum und anderen Sicherheitsgefährdungen zur Wehr setzen.

Der internationale Handel war das nächste Thema auf unserer Tagesordnung, ein Thema, das Europa insgesamt betrifft. Die Europäische Union muss eine Stimme haben, die Gehör erhält. Das ist nur möglich, wenn wir mit einer Stimme sprechen. Der Erhalt unserer Einheit hat deshalb höchste Priorität. Das wird die Tagesordnung Europas bestimmen.

Das dritte Thema auf der heutigen Tagesordnung war der Verlauf der Verhandlungen über den neuen mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union. Heute haben wir uns damit befasst und haben darüber gesprochen. Wir befinden uns zurzeit in einer etwas komplizierteren Phase. Wir beginnen nämlich mit der Phase, die zur Wiederwahl des Europäischen Parlaments führen wird. Schwierigkeiten zeichnen sich dort auf unserem Weg ab, aber wir alle wissen, dass wir uns einigen müssen, auch unter diesen widrigen Umständen. Gleichzeitig sind wir uns der Tatsache bewusst, dass der Brexit die Verhandlungen noch komplizierter macht. Die bevorstehenden Parlamentswahlen werden natürlich auch Auswirkungen auf die Verhandlungen haben.

Das vierte Thema auf der heutigen Tagesordnung ist ein ebenfalls sehr kompliziertes Thema. Das ist das Thema der Migration und Zuwanderung. Wir müssen hierbei eine geschlossene Reaktion seitens Europas zeigen. Zunächst müssen wir Frontex stärken, damit Frontex tatsächlich in der Lage ist, die Mitgliedsstaaten beim Schutz der Außengrenzen zu unterstützen. Wir müssen aber auch versuchen, neue Vereinbarungen einzugehen, solche wie die Vereinbarung mit der Türkei, die dann auch dazu führen, dass die EU Drittländer durch finanzielle Hilfe unterstützt. Litauen ist zum Beispiel ein Land, das sich sehr aktiv an vielen Hilfsprogrammen beteiligt.

Ein weiteres kompliziertes Thema ist das Thema, das ich eben schon angesprochen habe, der Brexit. Auch damit haben wir uns heute befasst. Wir sind uns der Tatsache nur zu gut bewusst, dass ein friedlicher Austritt Großbritanniens aus der EU ohne negative Auswirkungen auf die Mitgliedsstaaten der EU und auf Großbritannien kein einfaches Ziel ist. Hierbei geht es auch um den Schutz der sozialen Errungenschaften und dessen, was wir im Rahmen der Europäischen Union geschaffen haben. Dafür müssen wir sehr starke Anstrengungen unternehmen und Lösungen für die Schwierigkeiten finden.

Im Vereinigten Königreich gibt es dazu Diskussionen. Das macht die Position der britischen Premierministerin nicht einfacher. Es wirkt sich auch auf ihr Mandat aus. Aber auch wenn wir hier Verständnis zeigen, werden wir dennoch versuchen, eine Lösung für das Brexit-Problem zu finden. Noch einmal unterstreiche ich, dass wir hierbei eine Verantwortung tragen.

Erlauben Sie mir, die Bundeskanzlerin und die baltischen Ministerpräsidenten noch einmal herzlich willkommen zu heißen. Unser Ziel ist es, zusammenzuarbeiten, um ein zuversichtliches, selbstbewusstes und kühnes Europa zu schaffen. Ich danke Ihnen.

BK'in Merkel: Sehr geehrte Präsidentin, liebe Dalia, und liebe Kollegen, lieber Maris und lieber Jüri, ich freue mich, dass wir heute hier in Wilna mit den Kollegen aus dem Europäischen Rat der drei baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland zusammenkommen können. Mein Gruß gilt allen Bürgerinnen und Bürgern in den Ländern anlässlich des hundertsten Jahrestages der Erklärung der Unabhängigkeit. Das ist ein wichtiges, gutes Jubiläum. Dass wir nach hundert Jahren alle gemeinsam Mitglieder der Europäischen Union und Mitglieder der NATO sind, zeigt, was sich in Europa verändert hat. Deshalb sind unsere bilateralen präche heute auch sehr unauffällig verlaufen, weil wir alle sehr, sehr gute bilaterale Kontakte haben: wirtschaftlich, kulturell, zwischen den Menschen unserer Länder, aber eben auch politisch.

Deshalb war auch unser gemeinsames Mittagessen dadurch gekennzeichnet, dass wir bei der Definition der Herausforderungen, vor denen wir stehen, die gleiche Analyse teilen und dass wir auch alle gewillt sind, Verantwortung zu übernehmen, um diese Herausforderungen zu bewältigen, weil wir alle uns einig sind, dass nur ein starkes Europa seine Rolle in der Welt spielen kann, dass nur ein starkes Europa auch seine Werte sichern kann und dass wir auch nur gemeinsam einen Beitrag leisten können, um unsere Verteidigung und unsere Sicherheit zu erreichen, sowohl mit dem Pfeiler der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik als aber auch als Element der transatlantischen Partnerschaft.

Wir haben uns in der Tat auch im Angesicht des jetzt bald erfolgenden informellen Gipfels in Salzburg über die von Dalia Grybauskaite genannten Themen verständigt. Ich will auch von meiner Seite aus sagen, dass es vor allem auch im Blick auf die europäischen Wahlen im Frühjahr des nächsten Jahres darum geht, den Bürgerinnen und Bürgern in unseren Ländern deutlich zu machen, dass Europa einen Mehrwert für unseren Wohlstand bedeutet, einen Mehrwert für die Möglichkeit, bei Forschung, bei Entwicklung und in der Wirtschaft leistungsfähige Unternehmen und leistungsfähige Forschungsinstitutionen zu haben. Die Europäische Union hilft uns dabei, uns im Niveau immer weiter anzunähern.

Deshalb hat natürlich die Frage, wie es mit den Finanzen nach 2020 weitergeht, eine zentrale Rolle gespielt. Wir wissen: Das wird nicht einfach zwischen den Empfängerländern und den Nettozahlern. Aber alle vier, die hier stehen, sind daran interessiert, dass wir möglichst viel Berechenbarkeit, auch möglichst viel Kontinuität zwischen 2020 und 2021 haben. Denn und das ist so wichtig die Herausforderungen werden ja auch dahingehend größer sein, dass Großbritannien ab 2021 nicht mehr in den europäischen Haushalt einzahlen wird. Wir wollen gute, zuverlässige Beziehungen zu Großbritannien. Wir wollen eine enge Zusammenarbeit auf den Feldern der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, und wir wollen natürlich auch eine möglichst enge Zusammenarbeit zwischen den 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und Großbritannien. Aber es liegt auch an Großbritannien, in welcher Form es seine Beziehungen zur Europäischen Union definieren will. Wir sind jedenfalls alle darin einig, dass wir auch vom Stil und von der Atmosphäre der Verhandlungen her deutlich machen wollen, dass Großbritannien zwar aus der Europäischen Union austritt, was wir bedauern, dass aber Großbritannien unser Nachbar und ein Teil Europas bleibt. In diesem Geiste werden wir die Verhandlungen durchführen.

Wir haben uns auch über das schwierige Thema der Migration unterhalten. Hierbei gibt es eine große Übereinstimmung, insbesondere auch dabei, was die Bekämpfung von Fluchtursachen und die Sicherung der Außengrenze anbelangt. Wir haben heute mit allen Mitgliedsstaaten, die hier versammelt sind, darüber gesprochen, dass die Außengrenze in Lettland, Estland und Litauen eine ganz andere ist als die Außengrenze, über die wir meistens sprechen, wenn es um die Meeresgrenzen im Mittelmeer geht, zum Beispiel in Griechenland oder mit Blick auf Spanien und Italien. Insofern sind auch Landgrenzen zu schützen. Auch hierbei wollen wir zusammenstehen. Denn auch hierbei gibt es natürlich immer wieder Probleme, die bewältigt werden müssen. Ein Grenzschutz ist ein wichtiger Teil für den Erhalt des Schengen-Raums, der uns ja so viele Freiheiten gibt.

Wir haben auch über unsere Entwicklung in der NATO gesprochen, über die Verpflichtungen, die wir in diesem Zusammenhang haben. Wir haben auch über die Situation in der Ukraine gesprochen. Wir alle wissen, dass das Normandie-Format zwar nicht so weit vorangekommen ist, wie wir es uns wünschen, dass aber der Friede und auch die Wiedergewinnung der territorialen Integrität der Ukraine für uns alle, wie wir hier stehen, ein ganz wichtiges Thema ist. Deshalb werden wir uns dem auch weiter verpflichtet fühlen. Bevor das Minsker Abkommen nicht umgesetzt ist oder wir wenigstens Fortschritte sehen, kann auch nicht darüber gesprochen werden, dass die Sanktionen aufgehoben werden.

Das waren unsere Themen. Danke für die Gastfreundschaft. Danke, dass wir die Gelegenheiten hier hatten. Noch einmal alles Gute für die nächsten hundert Jahre, dann wirklich in Unabhängigkeit.

MP Kucinskis: Liebe Damen und Herren, das heutige Treffen war in der Tat ein sehr wichtiges Treffen. Wir haben nicht nur im Rahmen der 3+1 zusammengesessen, sondern wir hatten auch bilaterale Begegnungen mit der Bundeskanzlerin, die in der Tat sehr konstruktiv waren. Erlauben Sie mir zu unterstreichen, dass die Bundesrepublik für uns ein wertvoller strategischer Partner ist. Sowohl auf der bilateralen als auch auf der europäischen Ebene, aber auch im Rahmen der NATO führen wir einen aktiven Dialog mit der Bundesrepublik. Wir sind enge Handelspartner, wir tragen gemeinsam Verantwortung für die Entwicklungen in der Ostseeregion.

Ihnen dürfte bekannt sein, dass wir regelmäßig zusammenfinden. Die drei baltischen Staaten arbeiten sehr eng mit der Bundesrepublik zusammen, auch im Rahmen des Europäischen Rates. Ich gehe sogar so weit, zu sagen, dass es ein Segen ist, dass wir uns noch vor dem informellen Rat in Salzburg in einem solchen Format wie heute zusammenfinden konnten. Für uns ist das eine große Chance gewesen, über eine Reihe von Themen zu sprechen, die für die hier vertretenen Staaten von großer Bedeutung sind. Das sind alles Anliegen, die wir gemeinsam pflegen und haben und die die Zukunft der Europäischen Union und die Sicherheitsfragen betreffen.

Vielleicht darf ich auch mit der EU beginnen. Die rechtzeitige Verabschiedung des mehrjährigen Finanzrahmens liegt uns allen am Herzen. Da müssen wir uns natürlich auch an den Zeitrahmen halten. Wir sind, was den Vorschlag der Kommission anbetrifft, nicht zufrieden, vor allem, was die Kohäsionsmittel betrifft. Wir werden keine Mittel und Wege scheuen, wenn es darum geht, dafür zu sorgen, dass die Fragen adäquat gelöst werden.

Es ist bereits gesagt worden, dass Deutschland ein Schlüsselpartner ist, was den Handel mit Lettland betrifft; unser Handel wächst beständig. Erlauben Sie mir aber auch herauszustreichen, dass wir noch sehr viel mehr zusammenarbeiten könnten, wenn es zum Beispiel um die sich neu herausbildenden Technologien geht oder wenn es darum geht, eine datengetriebene Verwaltung zu schaffen. Im Bereich der Volkswirtschaft Smart Energy, Smart Economy gibt es viele Bereiche, in denen das Potenzial für die Zusammenarbeit noch enorm ist. Das gilt auch für die Unternehmen, aber auch für die Universitäten und Forschungseinrichtungen. Wir freuen uns, dass die Vertreter des öffentlichen und privaten Sektors der Bundesrepublik regelmäßig in die baltischen Staaten reisen, etwa zum baltischen digitalen Forum, das ja Ende September wieder stattfinden wird. Die Ministerpräsidenten der baltischen Staaten werden sich zur Vorbereitung dieses Forums demnächst in Estland zusammenfinden.

Heute hatten wir in der Tat einen Tag der sehr konstruktiven Diskussionen und Gespräche.

MP Ratas: Frau Präsidentin Grybauskaite, Frau Bundeskanzlerin Merkel, Herr Ministerpräsident Kucinskis, meine Damen und Herren Journalisten!

Dalia, zunächst möchte ich dir sehr herzlich für die Gastfreundschaft danken. Wir haben uns hier wirklich wie Freunde gefühlt. Wir sind hierhin, nach Wilna, nach Litauen gekommen. Das tun wir ja häufiger, und das fühlt sich gut an. Ein bisschen ist das, als wäre man hier schon bei sich zu Hause, und dafür danke ich Ihnen.

Auch Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dir, Angela, möchte ich sehr herzlich danken für dieses Vierertreffen. Meiner Meinung nach ist das Ausdruck der Tatsache, dass wir doch sehr eng zusammenarbeiten, dass wir ähnliche Auffassungen haben, dass wir uns untereinander gut verständigen können ob wir nun über bilaterale Fragen, über EU-Fragen oder über NATO-Themen sprechen. Nehmen wir einmal den Verteidigungsbereich: Deutschland ist jetzt zum neunten Mal an der Air-Policing-Mission in den baltischen Staaten beteiligt. Das macht deutlich, wie wichtig der Beitrag Deutschlands für dieses Land ist, und dafür möchte ich Ihnen sehr herzlich danken.

Ich freue mich auch, dass wir die Gelegenheit hatten, vor dem informellen Rat in Salzburg über wichtige europapolitische Fragen zu sprechen, so zum Beispiel über Fragen, die im Zusammenhang mit dem Brexit stehen. Wir haben hier außerdem über wichtige Fragen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik gesprochen, so auch über Fragen, die die Unterstützung der Ukraine anbetreffen. Was den Brexit anbetrifft, so stimme ich Angela zu: Es ist sehr wichtig, über all die Themen offen zu diskutieren. Wir wollen ja enge Beziehungen und eine enge Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich, heute wie auch in der Zukunft. Bei unserem heutigen Treffen sind die Gespräche sehr angenehm verlaufen. Die internen Sicherheits- und Zollsysteme sollen auch so glatt wie möglich funktionieren, damit wir miteinander Handel treiben und Sicherheitsfragen gemeinsam lösen können.

Was die Frage der Migration anbetrifft, so ist das ein sehr schwieriges und heikles Thema. Wir können diese Menschen nicht allein ihrer Not überlassen und ihnen den Rücken zuwenden. Aber nur jene Menschen können in der EU bleiben, die auch einen Anspruch darauf haben. Deshalb sollten wir mit den Staaten Afrikas zusammenarbeiten. Sie mögen zwar geografisch weiter entfernt sein, aber in vielerlei Hinsicht sind wir dennoch enge Partner, etwa wenn es um Fragen der Migration geht oder wenn es um Fragen der Bekämpfung des Terrorismus geht. Auch im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der Innovation arbeiten wir zusammen. Letztes Jahr hatte ich das Vergnügen und die Ehre, eine Vereinbarung zum Thema E-Government zu unterzeichnen, und bei einem bilateralen Treffen mit der Bundeskanzlerin hatte ich Gelegenheit, darüber zu diskutieren, wie Estland und Deutschland digitale Brücken in Afrika bauen könnten. Eine gute Zusammenarbeit in Afrika ist für Estland nichts Neues. Unsere Verteidigungskräfte haben mit der deutschen Bundeswehr in Ländern wie zum Beispiel Mali zusammengearbeitet.

Estland und Deutschland werden von dem allgemeinen Erfahrungsaustausch voranschreiten in den Bereich der Überlegung und Erwägung konkreter Projekte der Zusammenarbeit. Es ist schön, dass wir uns aufeinander verlassen können ob es darum geht, das Minsker Abkommen umzusetzen oder ob es um die östliche Partnerschaft geht. Ich danke Ihnen.

Frage: An die Bundeskanzlerin: Gestern hat der amerikanische Energieminister gesagt, dass die Vereinigten Staaten gegebenenfalls Sanktionen gegen das Nord-Stream-2-Projekt ergreifen könnten. Wie stehen Sie zu dieser Drohung? Frau Bundeskanzlerin, Ihre Stimme ist deutlich. Was sagen Sie angesichts der Kritik an diesem Projekt?

Merkel: Ich kenne diese Kritik; auch hier in den drei baltischen Ländern wird dieses Projekt ja sehr kontrovers diskutiert. Wir haben in Deutschland eine diversifizierte Energiepolitik: Wir beziehen Erdgas aus Russland, wir beziehen Erdgas aus Großbritannien, Norwegen und auch den Niederlanden. Angesichts der Ziele, die wir im Zusammenhang mit der Klimapolitik erreichen müssen, werden wir auch unseren Erdgasbedarf eher vergrößern. Das Nord-Stream-2-Projekt ist deshalb eines, das ich für sinnvoll halte. Es gibt eine Implikation, die mir sehr wichtig ist, nämlich dass die Ukraine auch weiter Transitland bleibt. Ich bin sehr dankbar, dass Kommissar Sefcovic an dieser Stelle auch Verhandlungen mit der Ukraine und mit Russland führt, um genau diesen Punkt zu sichern. Wir haben ja heute schon Nord Stream 1, wir werden dann gegebenenfalls Nord Stream 2 haben, und wir werden dann mit großer Wahrscheinlichkeit auch noch Turkstream haben, also den südlichen Korridor. Die Ukraine muss trotzdem ein Transitland bleiben, und darüber wird gesprochen. Das sind jetzt erst einmal die Rahmenbedingungen. Der Dissens ist nicht neu.

Grybauskaite: Wir haben uns mit diesem Thema natürlich auch in unserem bilateralen Gespräch befasst. Unsere Position dazu ist allen gut bekannt. Wir sehen es als ein geopolitisches und nicht als ein wirtschaftliches Projekt an. Für uns ist das nicht ein Energieprojekt. Unsere Position hat aber damit zu tun, dass wir hier schlechte Erfahrungen gemacht haben. Wir wissen, was es bedeutet, wenn man von einem einzigen Energielieferanten abhängt, der Russland heißt. Deshalb bemühen wir uns darum, unsere Energieversorgung zu diversifizieren. Wir haben deshalb unser eigenes Terminal für Flüssiggas eingerichtet. Deutschland arbeitet auch an einem solchen Terminal, das es demnächst eröffnen wird. Die Bundesrepublik bemüht sich auch darum, ihre Energieversorgung zu diversifizieren, damit sie nicht von einem einzigen Lieferanten abhängig wird. Unsere Position zu dieser Frage bleibt unverändert.

Ich habe mich gefreut, zu hören, dass die Bundesrepublik dafür ist, dass man die Transitroute durch die Ukraine offenhält, also die Ukraine als Transitland wahrt. Leider hängt Deutschland in dieser Frage nicht von uns ab. Unser Ansatz gegenüber diesem Projekt hat mit unseren historischen Erfahrungen zu tun, und ich glaube, wir sind ein gutes Beispiel für ganz Europa, wenn es darum geht, Energieversorgung zu diversifizieren, damit man in Energiefragen unabhängiger wird.

Frage: Ich hätte auch noch einmal eine Frage zu Russland. Frau Bundeskanzlerin, täuscht der Eindruck, dass es in letzter Zeit zu einer Intensivierung der Kontakte zwischen Deutschland und Russland gekommen ist? Das Thema Nord Stream kam gerade auf. Aber Russland wünscht sich beispielsweise auch Hilfe beim Wiederaufbau in Syrien.

An die baltischen Kollegen: Von Ihnen möchte ich gerne wissen, wie diese Intensivierung der Kontakte zwischen Deutschland und Russland gesehen wird.

Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie noch eine andere Frage zur Innenpolitik in Deutschland erlauben: Es gibt gerade eine sehr große Diskussion um den Verfassungsschutzchef, Herrn Maaßen. Wie ist jetzt die Lage der Großen Koalition nach dem Treffen von gestern Abend? Halten Sie Herrn Maaßen weiterhin für den richtigen Mann auf seiner Position?

Merkel: Um mit dem Zweiten zu beginnen, kann ich Ihnen sagen, dass die Gespräche am Dienstag fortgesetzt werden. Eines kann ich aber heute schon sagen: So wichtig wie die Position des Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes auch ist, so klar ist auch, dass die Koalition an der Frage des Präsidenten einer nachgeordneten Behörde nicht zerbrechen wird.

Was die Frage der Intensivierung der Kontakte mit Russland anbelangt, so haben wir immer wieder Kontakte gesucht. Ich habe immer wieder darauf geachtet, dass auch in den Zeiten der größten Kontroversen Gesprächsfähigkeit bestand. Wir haben uns auch regelmäßig mit den Kollegen im Europäischen Rat darüber ausgetauscht. Denn bestimmte Konflikte wird man, ohne miteinander zu sprechen, nicht lösen können. Das war auch die Grundlage des Minsker Abkommens, und so sind die Kontakte auch jetzt fortgesetzt worden.

In der Tat ist natürlich die Lage in Syrien ein weiteres Thema neben dem Thema der Ukraine und anderen geopolitischen Herausforderungen. Aber das bedeutet ja nicht, dass wir etwa in allen Fragen einer Meinung wären, sondern es gibt erhebliche Divergenzen, es gibt erhebliche Unterschiede. Es gibt auch gemeinsame Positionen, zum Beispiel das Verweilen im JCPoA, also in dem iranischen Nuklearabkommen.

Ansonsten muss ich leider konstatieren, dass trotz der vielen Gespräche im Minsker Prozess noch keine substanziellen Fortschritte gelungen sind, und das ist keine gute Nachricht.

Ratas: Ich bin der Auffassung, dass die Frage des Journalistin sich an die Bundeskanzlerin richtete.

Zunächst möchte ich sagen, dass wir natürlich mit Russland sprechen müssen, und ich stimme Angela Merkel auch zu in dem, was sie gesagt hat. Wir müssen im Gespräch bleiben, wenn es um Fragen geht, die wichtig für die Europäische Union sind, wie die Bundeskanzlerin das ja auch betont hat. Die Minsker Vereinbarung und das Normandie-Format sind Ansätze, wo wir ja alle letztendlich positive Fortschritte verzeichnen wollen.

Kucinskis: Ich kann ebenfalls bestätigen, dass wir heute in der Tat über all die Themen gesprochen haben, die Sie angesprochen haben. Wir haben über Syrien gesprochen, wir haben über die Ukraine gesprochen, wir haben über die Beziehung zur Ukraine gesprochen, auch im Zusammenhang mit den Sanktionen, die gegen Russland verhängt wurden. Unsere gemeinsame Position hat sich ja auch nicht verändert, sie ist unverändert, so wie von der EU dargelegt. Wir sind der Auffassung, dass die Minsker Vereinbarungen umgesetzt werden müssen, bevor Sanktionen aufgehoben werden können. Die Tatsache, dass die Bundesrepublik ihre Verhandlungen und Gespräche mit Russland fortführt, um Fortschritte in diesen Bereichen zu erzielen, ist etwas, was wir begrüßen. Jedes Land sollte sich bemühen, auf diesem Weg Fortschritte zu erzielen.

Grybauskaite: Die geopolitischen Herausforderungen, denen wir uns in der Welt gegenübersehen, sind dergestalt, dass wir uns um Gespräche mit unserem Gegner bemühen müssen. Wir können ja nicht so tun, als würden die Probleme, denen wir uns gegenübersehen, nicht existieren. Es ist wichtig, dass wir im Gespräch bleiben und das Gespräch mit den anderen suchen, denn sonst wären die Auswirkungen noch viel schwerwiegender. Wir erleben Kriege in Ländern wie Syrien und an anderen Orten der Welt, wir verstehen also nur zu gut, dass die Kommunikation notwendig ist. Und wir vertrauen der Bundesrepublik und der Bundeskanzlerin voll und ganz. Sie wird die Interessen Europas nie verraten, und sie wird immer auf eine ehrliche und ausgewogene Art und Weise die Interessen Europas und die Interessen Litauens vertreten.

Frage: Eine Frage an die Bundeskanzlerin zum Thema der Migrationspolitik Europas: Glauben Sie, dass die Entscheidungen, die bisher gefällt wurden, die Ursache für den Aufschwung, das Steigen der Unterstützung von rechtsextremen Bewegungen überall in Europa sind?

Merkel: Ich glaube, dass dies einfach eine Herausforderung ist, der wir uns stellen müssen. Und wir haben seit dem Jahr 2015, in dem besonders viele Flüchtlinge aus Syrien und Irak kamen, daraus schon sehr viel gelernt. Wir haben das Schengen-System eingeführt und uns nicht ausreichend um den Außengrenzschutz gekümmert. Die Gründung von Frontex ist eine wichtige Antwort, aber vor allen Dingen die Erkenntnis, dass wir unsere Politik mit Afrika verstärken müssen, auch das EU-Türkei-Abkommen zum Beispiel, dass wir der Türkei, die drei Millionen syrische Flüchtlinge beherbergt, finanziell helfen müssen: Das sind alles Schritte, die notwendig waren.

Ansonsten kann man solchen Herausforderungen nicht aus dem Wege gehen. Der Bürgerkrieg in Syrien ist nicht sozusagen durch uns entstanden, sondern er ist entstanden wegen einer Diktatur. Es hat sich der "Islamische Staat" herausgebildet, der musste bekämpft werden, und das hat eben viele Menschen dazu veranlasst, ihre Heimat zu verlassen. Wir wissen heute, dass wir uns besser um die Situation in den Flüchtlingslagern vor Ort kümmern müssen. Diese Lehren müssen wir beherzigen und in der Richtung auch immer weiter arbeiten.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie werden sich gleich mit den deutschen Soldaten, die im Rahmen der Enhanced Forward Presence stationiert sind, treffen. Wie real ist für Sie die Bedrohung, die Russland für die baltischen Staaten darstellt?

Merkel: Nach dem, was ich in der Ukraine erlebt habe, glaube ich, war es eine richtige Schlussfolgerung der NATO, zu sagen: Wir müssen uns wieder stärker auf die Bündnisverteidigung konzentrieren. - Und das bedeutet natürlich auch Konzentration auf alle Teile der NATO und deshalb eben auch auf die baltischen Länder. Da ist das die entsprechende Schlussfolgerung. Und da wir diese Einschätzung, dass die Bündnisverteidigung an Gewicht gewonnen hat, teilen, konnte und wollte Deutschland nicht abseits stehen, sondern ist in dieser Situation Rahmennation und ist jetzt in Litauen präsent. Deshalb gehe ich jetzt auch sehr gerne zusammen mit der Präsidentin die Soldatinnen und Soldaten besuchen. Es ist unser Beitrag dazu, dass die NATO ihre Bündnisverteidigung stärkt.

Freitag, 14. September 2018

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Quelle:
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel, der litauischen Präsidentin
Dalia Grybauskaite, dem lettischen Ministerpräsidenten Maris Kucinskis
und dem estnischen Ministerpräsidenten Jüri Ratas, 14.09.2018
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2018

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