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NORDRHEIN-WESTFALEN/2354: "Wehmut, Dankbarkeit, Zuversicht" (Li)


Landtag intern 8/2018
Informationen für die Bürgerinnen und Bürger

"Wehmut, Dankbarkeit, Zuversicht"

von Wibke Busch


12. September 2018 - Es war ein historischer Beschluss: 2007 verständigten sich die beiden Kohleländer Nordrhein-Westfalen und das Saarland, der Bund, der RAG-Konzern und die Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), dass 2018 die Ära der deutschen Steinkohle endet. Kurz vor dem Schließen der beiden letzten Zechen fand im Landtag ein Festakt statt, um die Verdienste dieses Industriezweigs zu würdigen und die Bergleute zu verabschieden.


Eingeladen zu dem Festakt hatten die Präsidenten der Landtage von Nordrhein-Westfalen und des Saarlands, André Kuper und Stephan Toscani. Mehr als 500 Gäste kamen im nordrhein-westfälischen Parlament zusammen - darunter eine Delegation aus dem saarländischen Landesparlament, die früheren NRW-Landtagspräsidenten Ingeborg Friebe, Regina van Dinther und Eckhard Uhlenberg, der frühere NRW-Ministerpräsident Dr. Jürgen Rüttgers, in dessen Regierungszeit die Kohleausstiegsentscheidung gefallen war, sowie die beiden früheren Regierungschefs Wolfgang Clement und Hannelore Kraft, Mitglieder der beiden aktuellen Landesregierungen aus Düsseldorf und Saarbrücken, der Vorstandsvorsitzende der RAG-Stiftung, Bernd Tönjes, weitere Spitzenvertreterinnen und -vertreter der Stiftung und des Steinkohlekonzerns RAG AG, Vertreterinnen und Vertreter von Gewerkschaften, Kirchen, Medien, Kultur, Wirtschaft und des konsularischen Korps.

Auf der Besuchertribüne des Landtags hatten 120 Bergleute aus den beiden letzten deutschen Bergwerken in Bottrop und Ibbenbüren in ihren traditionellen weißen Bergmannskitteln Platz genommen. Mit dem Schließen der Zechen Ende des Jahres ist endgültig Schicht im Schacht. Der Bergbau an der Saar war bereits 2012 eingestellt worden.

"Wehmut, Dankbarkeit, Zuversicht" - so fasste der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans in seiner Rede seine Gefühle zusammen. Diese Begriffe prägten den gesamten Festakt im Plenarsaal. Wehmut angesichts der historischen Zäsur, Dankbarkeit für die Leistung der Bergleute, aber auch Zuversicht für die Zukunft der Bergbauregionen. Und so sang der Ruhrkohle-Chor zu Beginn nicht nur ein traditionelles Bergmannslied, sondern auch "You'll never walk alone" - eine Hymne, in der es um den vertrauensvollen Blick in die Zukunft geht.

Der Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen, André Kuper, begrüßte die Gäste auch im Namen der Vizepräsidenten Carina Gödecke, Angela Freimuth und Oliver Keymis sowie aller 199 nordrhein-westfälischen Abgeordneten. Der Präsident betonte: "Wir verneigen uns vor dem Lebenswerk der Bergleute." Mit der letzten Schicht im Dezember gehe eine Ära zu Ende, die das Land Nordrhein-Westfalen geprägt habe. Der Steinkohlebergbau habe maßgeblich zum heutigen Wohlstand beigetragen. Kuper betonte, dass die Steinkohle den Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht habe und zitierte eine Zeile aus dem Lied "Bochum" von Herbert Grönemeyer: "Dein Grubengold hat uns wieder hochgeholt."


"Leidenschaftliche Debatten"

Der Präsident erinnerte auch an "große und leidenschaftliche" Debatten, die im Landtag zur Steinkohle geführt worden seien. Dabei sei es immer politischer Konsens gewesen, dass der Bergbau sozialverträglich auslaufen müsse. Kuper bat die Gäste um eine Schweigeminute für die Bergleute, die während ihrer Arbeit ums Leben gekommen waren.

Auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet blickte zurück auf die Leistung des Steinkohlebergbaus. Die Kohle sei der "Brennstoff für Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder" gewesen. Angesichts aktueller Debatten erinnerte er zugleich daran, dass aus der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl die heutige Europäische Union hervorgegangen ist. Laschet mahnte: "Dieses europäische Friedensprojekt muss erhalten bleiben."

Laschet dankte den Hunderttausenden Bergleuten, die im Bergbau einen Beitrag zum Wohlstand des Landes geleistet hätten. Und er hob hervor, dass darunter viele Menschen aus anderen Ländern gewesen seien. "Auch ihnen gilt unser ganz besonderer Dank." NRW richte nun den Blick nach vorne und werde Konzepte für neue Perspektiven in den Bergbauregionen entwickeln.

Laschets saarländischer Amtskollege Tobias Hans schaute in seiner Rede zurück auf den Bergbau an der Saar und die wechselhafte Geschichte seines Bundeslandes, die eng mit der Kohle verbunden gewesen sei. Den Bergleuten sagte er: "Wir sind stolz auf Ihre Arbeit." Er bedankte sich dafür, dass mit dem vorzeitigen Ende des Bergbaus an der Saar 2012 viele Kumpel in Zechen in NRW gewechselt und dort herzlich aufgenommen worden seien.


"Ein Tag des Respekts"

Die Bergleute trügen mit Stolz den Bergbau zu Grabe, sagte der Vorsitzende der Gewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, und ergänzte: "Dies ist ein Tag des Respekts, nicht der Freude." Die Kumpel seien stolz auf das Geleistete, auf ihre Arbeit unter Extrembedingungen und auf ihre Loyalität gegenüber ihrem Land. Für den anstehenden Strukturwandel wünsche er sich, dass er auf den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften in Deutschland aufbauen werde.

"Wehmut, Dankbarkeit, Zuversicht" - unter diesem Eindruck klang der Festakt musikalisch aus. Der Ruhrkohle-Chor und der Kinder- und Jugendchor der Chorakademie Dortmund sangen die "Hymne an die Zukunft" und zum Abschluss - wie konnte es anders sein - das Steigerlied: "Glückauf, der Steiger kommt!"


DER LANGE ABSCHIED

von Thomas Becker

Für die deutsche Steinkohle gab es nach dem Zweiten Weltkrieg nur eine Richtung: bergauf. In den 1950er-Jahren bauten rund 600.000 Kumpel tonnenweise Kohle ab und spülten Milliardenbeträge in die Steuerkasse. Doch dann schwächelte das Kraftzentrum Deutschlands; es begann ein langer Abschied. Sechs Schachtanlagen mussten 1958 wegen des einbrechenden Absatzes sogenannte Feierschichten fahren und Kurzarbeit einführen. Es war der Auftakt einer unaufhaltsamen Kohlekrise, die durch billige Importkohle und eine wachsende Erdölkonkurrenz angetrieben wurde. Von 173 Bergwerken im Jahr 1957 waren elf Jahre später nur 72 Anlagen übrig, in denen 272.000 Bergleute arbeiteten.

1975 kam der "Kohlepfennig"

Begleitet wurden die Zechenschließungen von Protesten Tausender arbeitsloser Bergleute. Die Politik reagierte: Im Mai 1968 trat das "Kohlegesetz" in Kraft, mit dem u. a. die Ruhrkohle AG (RAG) in Essen gegründet wurde. Im Unternehmen schlossen sich 26 Zechenbetreiber zusammen, um die Steinkohleförderung besser koordinieren und Personalanpassungen sozialverträglich gestalten zu können. Der RAG gehörten anfangs 52 Zechen, 29 Kokereien und fünf Brikettfabriken an.

Mit dem "Kohlepfennig" wurde 1975 dann ein Aufschlag auf den Strompreis eingeführt. Mit dieser Subventionierung, die Verbraucherinnen und Verbraucher zu zahlen hatten, sollte die deutsche Kohle auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben. Der Kohlepfennig wurde 1994 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt und abgeschafft. Drei Jahre später, 1997, standen 60.000 der noch vorhandenen 85.000 Arbeitsplätze in den Zechen zur Disposition.

Wieder gab es Proteste: Im Februar 1997 reihten sich 220.000 Menschen in eine 93 Kilometer lange Menschenkette, um für den Erhalt der deutschen Steinkohle zu demonstrieren. Es war die bis dahin längste Menschenkette in der Geschichte der Bundesrepublik. Im Februar 2007 demonstrierten 13.000 Bergleute vor dem Landtag in Düsseldorf, als ein Ende des Steinkohlebergbaus schon für 2014 debattiert wurde. Kurz danach verständigten sich die Bundesregierung, Nordrhein-Westfalen, das Saarland, die RAG AG und die Gewerkschaft IG BCE darauf, den Steinkohlebergbau bis Ende 2018 sozialverträglich zu beenden und alle verbliebenen Bergwerke nach und nach zu schließen.

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Quelle:
Landtag intern 8 - 49. Jahrgang, 25.09.2018, S. 10-11
Herausgeber: Der Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2018

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