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SCHLESWIG-HOLSTEIN/2227: Verfassungsbeschwerde für jeden? (Der Landtag)


Der Landtag - Nr. 03 / September 2018
Die Parlamentszeitschrift für Schleswig-Holstein

Anhörung im Innenausschuss
Verfassungsbeschwerde für jeden?


Die schleswig-holsteinische Landesverfassung garantiert zahlreiche Grundrechte. So sind die ersten 20 Artikel des Grundgesetzes "Bestandteil dieser Verfassung und unmittelbar geltendes Recht". Dort sind etwa die Meinungs- und Glaubensfreiheit, das Postgeheimnis und der Eigentumsschutz verankert. Darüber hinaus nennt die Landesverfassung spezifische schleswig-holsteinische Grundrechte, etwa die gewaltfreie Erziehung, das Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit oder den Schutz der digitalen Privatsphäre.

Wer sich in den grundgesetzlich verankerten Grundrechten beeinträchtigt sieht, kann vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe ziehen. Dagegen bleibt Bürgern, die ihre Landes-Grundrechte einklagen wollen, der "Gang nach Schleswig" zum Landesverfassungsgericht bislang verwehrt. Das Recht zur Anrufung haben derzeit nur die Landesregierung, ein Drittel der Mitglieder des Landtages sowie zwei Fraktionen. Hinzu kommen Kommunen und Vertreter von Volksinitiativen, deren Vorstoß vom Landtag abgelehnt wurde.

Der SSW will nun die Verfassungsbeschwerde für jedermann einführen. In elf der 16 Bundesländer gibt es diese Möglichkeit bereits, Anfang 2019 kommt NRW dazu. SPD und Grüne äußerten Sympathie. CDU, FDP und AfD zeigten sich hingegen skeptisch. Der Innen- und Rechtsausschuss hat Stellungnahmen von Experten eingeholt.


Ja ...

"All diese Grundrechte müssen zahnlos bleiben, wenn keine Möglichkeit besteht, sie notfalls auch mit Verfassungsbeschwerde gegen Hoheitsmaßnahmen zu verteidigen", mahnt Prof. Edzard Schmidt-Jortzig. Der ehemalige FDP-Bundesjustizminister lehrt öffentliches Recht an der Uni Kiel. Das sieht Ingrid Eppert vom Verein "Mehr Demokratie" ähnlich: Die Möglichkeit zur Klage sei ein "Beitrag zu Bürgerfreundlichkeit und Rechtssicherheit" und werde das "Rechtsbewusstsein im Lande" stärken. Bernhard Flor, Präsident des Schleswig-Holsteinischen Verfassungsgerichts, hält es für "kurios", dass die Bürger im Lande zwar Grundrechte hätten, die über das Grundgesetz hinausgehen, dass sie diese aber nirgendwo einklagen könnten: "Hier hilft auch der Gang nach Karlsruhe nicht."

Der Bayrische Verfassungsgerichtshof weist darauf hin, dass der Freistaat bereits 1947 "eine umfassende Klagemöglichkeit des Einzelnen gegen verfassungswidrige Normen" eingeführt habe. In Hessen sei dies seit 1948 der Fall, schreibt der dortige Staatsgerichtshof. Das Saarländische Verfassungsgericht berichtet von 12 bis 15 Verfassungsbeschwerden pro Jahr. Dies habe "zu keinerlei Mehrkosten geführt. Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes ist weiterhin ohne wissenschaftliche Mitarbeiter tätig." In Berlin werde hingegen "reger Gebrauch" von der Klagemöglichkeit gemacht. Der dortige Verfassungsgerichtshof zählt "170 bis 200 Verfassungsbeschwerden pro Jahr" und hat sechs Mitarbeiterstellen. Sachsen Anhalt will die Rechte der Bürger zum Jahresanfang 2019 deutlich ausweiten. Nicht nur Grundrechte, sondern auch Entscheidungen von Behörden und Gerichten können dann vors Landesverfassungsgericht gebracht werden. In Rheinland-Pfalz hat der Verfassungsgerichtshof "in zahlreichen Fällen grundlegende und rasche Klärungen herbeiführen können, die nicht allein für die Bürger, sondern auch für den Landtag und die Landesregierung von Bedeutung sind".


... aber

Auch ohne Verfassungsklage gebe es keine "Rechtsschutzlücke", merkt Prof. Ino Augsberg von der Uni Kiel an. Wer wolle, könne sich jetzt schon an die Fachgerichte wenden. Es bestehe die Gefahr, so Prof. Utz Schliesky vom Lorenz-von-Stein-Institut an der Kieler Uni, dass "ein Nebeneinander, vielleicht sogar ein Wettstreit der Verfassungsbeschwerden" entsteht, wenn sowohl Schleswig als auch Karlsruhe angerufen werden können. Nur "eine sehr bescheidene Rolle" spielen Verfassungsbeschwerden beim Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern. Lediglich 125 Bürgerklagen gegen Landesgesetze seien seit 1994 eingegangen, berichten die Greifswalder Richter: "Die meisten waren unzulässig". Diese Erfahrung haben auch das Brandenburger und das Thüringer Verfassungsgericht gemacht. Große Erfolgsaussichten haben klagende Bürger in der Regel nicht, wie auch der Sächsische Verfassungsgerichtshof berichtet. Dort sind im Schnitt 5,5 Prozent der Beschwerden begründet und weitere 1,5 Prozent teilweise begründet. Sollte die Verfassungsbeschwerde kommen, könnte es teuer werden. Darauf weist der schleswig-holsteinische Verband der Verwaltungsrichter hin. Im Landeshaushalt waren 2016 rund 47.000 Euro für das ehrenamtlich arbeitende Verfassungsgericht veranschlagt. In Ländern mit Verfassungsbeschwerde waren es dagegen bis zu 843.700 Euro.

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Quelle:
Der Landtag, Nr. 03 / September 2018, S. 24
Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers:
Der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages
Schleswig-Holsteinischer Landtag
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2018

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