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FINANZEN/1477: Rede des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück "Die Zähmung des Kapitalismus"


SPD-Pressemitteilung 131/13 vom 8. April 2013

Rede des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück "Die Zähmung des Kapitalismus" auf der gleichnamigen Veranstaltung der SPD in Frankfurt / Main am am 8. April 2013



- Es gilt das gesprochene Wort -


Zwei Geschichten aus der Finanzkrise

Zum Einstieg zwei Geschichten, die ich als Finanzpolitiker in der Finanzkrise erlebt habe.

1. Die eine Geschichte passierte am 6. Mai 2010. Da sackte der Dow-Jones-Index an der New Yorker Wall Street innerhalb von wenigen Minuten um fast 1000 Punkte ab. Der größte Einbruch an einem Tag innerhalb von 114 Jahren New Yorker Börse. Die Aktien von Großkonzernen fielen auf einmal in den Keller. Panik auf Handelsplätzen und Vorstandsetagen, auch in der Politik. Was war passiert? Irgendwo, man vermutet bei der CitiGroup, hatte ein einzelner Händler beim Tippen die falsche Taste erwischt. In der Sprache der Wall Street heißt das "fat finger". Er hatte auf 'B' wie Billion gedrückt statt auf 'M' wie Million und damit aus einem 16-Millionen-Dollar-Auftrag versehentlich einen 16-Milliarden-Auftrag gemacht. Das wiederum hat computergesteuerte Hochfrequenz-Handelsprogramme weltweit dazu verleitet, in Sekundenschnelle automatische Verkäufe auszulösen und eine Abwärtsspirale in Gang zu setzen. Solche Programme machen heute Schätzungen zufolge 70 Prozent des Aktienhandels an den großen Börsen aus. Ob es genau so passiert ist, ob ein fetter Finger oder böse Absicht dahinter war - auch davon gibt es genügend Fälle in dieser Krise: Man denke an den Libor-Skandal, an Bernie Madoff oder den französischen Skandal-Trader Jérôme Kerviel. Der Nachgeschmack bleibt: Wie unkontrollierbar und intransparent sind die globalen Finanzmärkte und doch wie unmittelbar hängen echte Unternehmen, Investitionen und Arbeitsplätze von ihnen ab.

2. Die andere Geschichte hingegen passierte ungefähr ein Jahr früher - Anfang 2009, als wir in der Bundesregierung dafür kämpften, dass der Super-GAU auf den Finanzmärkten möglichst wenig Kollateralschäden in der Realwirtschaft hinterlassen sollte. Für mich als Bundesfinanzminister drehte sich damals jeder Tag um Zahlen: Verlustprognosen, Risikoaufschläge, Aktienkurse, Milliardenrettungen. Nach unzähligen Krisentreffen mit der Finanzbranche hatte ich eines Tages einen Gesprächstermin mit einer Gruppe von Mittelständlern. Es ging um die drohende Kreditklemme in der Realwirtschaft. Die allererste gute Nachricht, die mir der vorsitzende Familienunternehmer überbrachte, lautete: "Ich bin stolz, dass wir bei uns keine Entlassungen hatten". Nicht etwa: Toi toi toi, wir kommen wieder in die schwarzen Zahlen? oder: Meine Auftragslage erholt sich. Sondern: Es gab keine Entlassungen. Das hat mich schwer beeindruckt.

Ich stelle diese beiden Geschichten gegenüber, um deutlich zu machen, dass es für die 'Zähmung des Kapitalismus' kein einfaches Rezept gibt. Der Kapitalismus ist kein Tiger, und ich bin weder Siegfried noch Roy. Ich werde Ihnen heute keine Schwarz-Weiß-Antworten geben. Weder glaube ich an den reinen Segen der unsichtbaren Hand und daran, dass Wachstum und Wohlstand nur dann florieren, wenn den Märkten absolut freie Bahn gelassen wird. Noch bin ich ein nostalgischer Sozialist, der glaubt, der Kampf sei erst gewonnen, wenn die Grundstoffindustrien und das Transportgewerbe endlich verstaatlicht sind.


Die Systemfrage: Leitplanken für die Märkte

Als Bändiger des Kapitalismus müssen wir uns zuerst fragen: wen eigentlich bändigen und wie? Geht es darum, das Individuum zu bändigen oder das System selbst?

Auf der Ebene des Individuums erwarte ich zwei Dinge:

- Ich wünsche mir natürlich verantwortungsvolle Unternehmerinnen und Unternehmer wie den Protagonisten meiner Geschichte zu Beginn. Und von diesen kenne ich viele - insbesondere im deutschen Mittelstand. Diese Unternehmer halten sich eben nicht nur formell an die Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft, sondern sie handeln und entscheiden auch im Geist ihrer Grundsätze.

- Auf der anderen Seite muss der, der gegen Gesetze und Spielregeln verstößt, auch bestraft werden. Nur weil die Finanzmärkte, wie ich sie in meiner ersten Geschichte beschrieben habe, so anonym, so intransparent, so unkontrollierbar geworden sind, müssen wir Wirtschaftsverbrechen trotzdem beim Namen nennen. Und die sind reihenweise geschehen - Libor, Madoff, Kerviel sind nur die Spitze des Eisberges.

- Wir haben es gerade wieder gesehen. Die Dokumente des Offshore-Leaks offenbaren die wahren Eigentümer von mehr als 120000 Briefkastenfirmen und Trusts. Jedes Jahr gehen in der EU über 1000 Milliarden Euro Steuern durch Steueroasen verloren. In manchen Steueroasen stehen Gebäude, in denen auf dem Papier bis zu 20000 Firmen residieren. Da passen noch nicht einmal so viele Briefkästen rein! So darf das nicht weiter gehen. Die Regierung von Frau Merkel hat nichts gegen Steuerhinterziehung getan. Sie hat ihren Finanzminister ein Steuerabkommen mit der Schweiz verhandeln lassen, das mehr Löcher als ein Schweizer Käse hatte. Zum Glück von den rot-grünen Bundesländern im Bundesrat gestoppt. Ihr Finanzminister hat sich öffentlich gegen das Ankauf von Steuer-CDs gewandt und die Bundesländer scharf kritisiert. Zum Glück haben sich die rot-grün geführten Bundesländer davon nicht beirren lassen. Nichts ist passiert: keine Verschärfung der Strafen für Steuerhinterzieher, keine Kündigung von Doppelbesteuerungsabkommen mit Staaten, die Steueroasen beherbergen, keine Umkehr der Beweislast für Unternehmen, die ausländische Steuerrechtsregeln nutzen, keine bundesweite Steuerfahndung - nichts ist in den letzten 4 Jahren passiert. Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit gegenüber allen Bürgern, die ihre Steuern zahlen müssen. Bei mir ist das Chefsache, ich werde eine europäische Initiative gegen Steuerhinterziehung zu einem der zentralen Schwerpunkte meiner Kanzlerschaft machen!

Auch dieses Beispiel zeigt, die Ethik des Einzelnen ist wichtig. Aber die Systemebene ist die entscheidende. Der US-Philosoph John Rawls beginnt seine bahnbrechende Theorie der Gerechtigkeit mit der Feststellung, dass die Gerechtigkeit keine Eigenschaft des Individuums, sondern von sozialen Institutionen und ihren Regeln ist.

- Das Profitmotiv ist und bleibt die ultimative Triebfeder des einzelnen Unternehmers. Das ist auch gut so. Denn aus Gewinnstreben erwachsen Mut, Risikobereitschaft, gute Ideen, Tatendrang, Innovation.

- Auf der Systemebene ist es Aufgabe des Staates, dem Markt Leitplanken zu setzen. Diese Leitplanken lenken das unternehmerische Gewinnstreben in nachhaltige und gesamtgesellschaftlich nützliche Bahnen, sie beugen konjunkturellen, sozialen oder ökologischen Krisen vor, und sie schützen diejenigen Bereiche unseres Lebens, in denen der Markt als Verteilungsprinzip nichts zu suchen hat.

- Deshalb gibt es ohne Leitplanken weder einen guten Kapitalismus noch gute Kapitalisten. Beispiel Arbeit: Aus reiner Marktsicht werden Löhne, Wochenstunden und Arbeitsbedingungen bestimmt von Angebot und Nachfrage, und die Nachfrage selbst von den gewinngetriebenen Ansprüchen des Unternehmers. Humane Arbeitsbedingungen, faire Löhne und ein Kräftegleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sind damit nicht garantiert. Der Staat muss Leitplanken setzen, damit diese Anforderungen der Gerechtigkeit erfüllt werden. Derzeit haben wir auf dem Arbeitsmarkt 800.000 Vollzeitbeschäftigte, die weniger als sechs Euro pro Stunde verdienen. 1,3 Millionen Erwerbstätige müssen sich ihr Gehalt per Hartz IV aufstocken lassen, weil es allein zum Leben nicht reicht. Frauen verdienen für gleiche Arbeit 22% weniger als Männer und Leiharbeiter bis zu 40% weniger als Stammbelegschaften. Es ist an der Zeit, die Leitplanken auf dem Arbeitsmarkt zu erneuern: durch einen gesetzlichen Mindestlohn, ein Equal-Pay-Gesetz, die Zurückdrängung prekärer Beschäftigung und die Stärkung der Mitbestimmung.


Die Leitwerte: Sozial und Demokratisch

Da die Sozialdemokratie eine wertegeleitete Partei ist und bleibt, lautet die nächste Frage der Kapitalismus-Bändiger: Welche Werte? Die Antwort liegt im Namen unserer Partei: wir wollen eine soziale und eine demokratische Wirtschaftsordnung.

1. Leitwert 'Sozial-': Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität

Wofür steht eigentlich das "sozial" in sozialdemokratisch? Auf der samt-roten Fahne des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, den Ferdinand Lassalle vor 150 Jahren gegründet hat, standen drei Worte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Heute haben wir statt der Fahne eine 'SPD-Card' im Visa-Karten-Format und wir interpretieren diese Werte als: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Das sind die gesellschaftlichen Leitwerte der Sozialdemokratie. Was aber bedeuten sie, wenn es darum geht, die richtigen Leitplanken für den Kapitalismus zu setzen?

(1) Die Freiheit steht an erster Stelle. Willy Brandts Abschiedsrede als Parteivorsitzender 1987: "Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit.". "Im Zweifel für die Freiheit!" war Brandts Devise. Daneben gehört neben vielen anderen Freiheiten - der Meinungsfreiheit, der Religionsfreiheit, der Freiheit des persönlichen Lebens- und Familienentwurfs - auch die wirtschaftliche und unternehmerische Freiheit.

- Doch die Finanzkrise hat gezeigt: Freiheit braucht Regeln, die für alle gelten. Die kann nur der Staat setzen. Klare und verlässliche Regeln sind sogar eine Voraussetzung, dass wirtschaftliche Freiheit sich in fairen Bahnen und ohne die Bedrohung von staatlicher oder sonstiger Willkür entfalten kann.

- Denn Unternehmer brauchen Verlässlichkeit. Ohne Verlässlichkeit keine Planungssicherheit. Und ohne Planungssicherheit keine Investitionen. Genau diesen Teufelskreis haben wir in vier Jahren Schwarz-Gelb beobachtet. Ludwig Erhard hat gesagt: "Das Fußballspiel folgt bestimmten Regeln, und diese stehen von vornherein fest. Was ich mit einer marktwirtschaftlichen Politik anstrebe, das ist [...] die Ordnung des Spiels und die für dieses Spiel geltenden Regeln aufzustellen." Im Falle der derzeitigen Bundesregierung stehen die Regeln weder vor noch nach dem Spiel fest - ob in der Energiepolitik, Steuerpolitik, Europapolitik. Deshalb hat sich auf dem Spielfeld der deutschen Wirtschaft Verunsicherung breit gemacht. Planungssicherheit ist dahin. Investitionen und Innovationen gehen zurück. Mit einer Nettoinvestitionsquote von 3% ist Deutschland mittlerweile OECD-Schlusslicht.

- Ich habe im Gegenzug Anfang März mit meinen 'Siegener Thesen' deutlich gemacht, welche Spielregeln die deutschen Unternehmen von mir zu erwarten haben. Wie guter Fußball faire Regeln braucht, braucht die Wirtschaft faire Grundlagen für Unternehmergeist und Wachstum.

- Das Finanzsystem muss der realen Wertschöpfung dienen. Wertabschöpfung durch Spekulation gehört ein Riegel vorgeschoben. Deshalb will ich Genossenschaftsbanken und Sparkassen stärken, denn die allein geben fast 40% der realwirtschaftlichen Firmenkredite in Deutschland.

- Zu wirtschaftlicher Freiheit gehört auch das Prinzip, dass Risiko und Haftung einhergehen. Banken müssen scheitern können. Doch dafür darf nicht der Steuerzahler haften. Deshalb brauchen wir einen Bankenrettungsfonds, der bankenfinanziert ist, statt steuerfinanziert. Und wir brauchen eine Finanztransaktionssteuer. Denn wer verantwortlich für eine Krise ist, der muss auch dazu beitragen, sie zu beseitigen.

- Die Freiheit darf kein Erbprivileg sein! Alle jungen Menschen müssen die gleiche Chance bekommen, sich zu verwirklichen - im Wirtschaftlichen und darüber hinaus. Es kann nicht sein, dass ausgerechnet im reichen Deutschland der Bildungs- und Berufserfolg mit am stärksten von der Familie abhängen. Bildungstrichter: Während von 100 Akademikerkindern 71 an die Hochschule kommen, sind es nur 24 von 100 Arbeiterkindern. Chancengleichheit ist unser sozialdemokratischer Anspruch. Herbert Wehner 1978: "Wir ringen darum, die im Grundgesetz allen Frauen und Männern gewährleisteten gleichen staatsbürgerlichen Rechte weiterzuführen, zu transformieren, zu transformieren zur sozialen Chancengleichheit für jedermann, jede Frau und jeden Mann, gleichviel in welchen Verhältnissen sie geboren wurden." Wir sind noch nicht am Ziel.

(2) Der zweite Grundwert lautet Gerechtigkeit.

- Während das Verhältnis von Vorstandsgehältern zu durchschnittlichen Arbeiterlöhnen in deutschen Konzernen in den 80er Jahren noch bei etwa 20:1 lag, schießt es heute weit über 100:1 hinaus.

- Während sich die privaten Vermögen in Deutschland in den letzten 20 Jahren auf etwa 10 Billionen EUR verdoppelt haben, besitzt die gesamte untere Hälfte der Bevölkerung von diesem Reichtum weniger als ein Prozent.

- Zwei Drittel der Deutschen sagen, vom Wirtschaftswachstum kommt bei ihnen nichts an.

- Wir brauchen wieder Rahmenbedingungen, die dafür sorgen, dass der Wohlstand auch wirklich bei allen ankommen und dass alle gleiche Aufstiegschancen haben. Deshalb fordern wir nicht alle Steuern für alle, sondern einige Steuern für einige zu erhöhen. Das geschieht nicht zum Selbstzweck, sondern für vier Ziele:

- Schuldenbremse & Generationengerechtigkeit
- Bildung
- Wirtschaftsnahe Infrastruktur
- Solide Kommunalfinanzen

(3) Damit kommt der dritte Grundwert ins Spiel: die Solidarität.

- Weil unser eigener Erfolg und unsere eigene Freiheit immer auch am Erfolg und an der Freiheit der anderen hängen, trägt jeder von uns eine Verantwortung für den Zusammenhalt der ganzen Gesellschaft. Im fünften Buch Mose heißt es, dass du aus Brunnen trinkst, 'die du nicht gebaut hast', und von Weinbergen und Ölbäumen erntest, 'die du nicht gepflanzt hast'

- Und daher haben wir eine besondere Verpflichtung gegenüber den Schwächeren in der Gesellschaft. Der große Demokrat Franklin Delano Roosevelt hat es folgendermaßen ausgedrückt: "Der Gradmesser unseres Fortschritts ist nicht, ob wir den Überfluss derer vermehren, die viel haben, sondern ob wir die versorgen, die zu wenig haben"

2. Leitwert '-Demokratisch': Primat der Politik

Der andere Teil unseres Parteinamens ist das 'demokratisch' in sozial-demokratisch. Wir wollen, dass Menschen über Ihr Schicksal selbst bestimmen. Dass sie das Recht haben, gemeinsam die grundlegenden Entscheidungen ihres Zusammenlebens zu treffen. Und nur demokratische Institutionen schützen auf Dauer und zuverlässig die Interessen der Schwachen.

- Wir brauchen demokratische Leitplanken auch und besonders in der Wirtschaft - denn welcher andere Bereich unseres Lebens nimmt soviel unserer Zeit und Anstrengung in Anspruch?

- Wir Sozialdemokraten stehen seit 150 für die Demokratisierung der Wirtschaft im Sinne von Aufstiegs-, Chancen- und Leristungsgerechtigkeit und für die Mitbestimmung, gemeinsam mit den Gewerkschaften.

- Die soziale Partnerschaft und geregelte Konfliktlösung ist ein echter Standortvorteil der deutschen Wirtschaft: Wir haben ihn erkämpft. Beispiel: Kurzarbeit in der Krise, weltweit bewundert. Wir stehen weiterhin zu starken Gewerkschaften, die ihre volkswirtschaftliche Verantwortung wahrnehmen, und zur Mitbestimmung, durch die Belegschaften ihr Engagement und ihren Sachverstand besser einbringen können

- Eine Marktwirtschaft kann und wird nur dann funktionieren, wenn sie von der Gesellschaft getragen und akzeptiert wird. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass ein guter Kapitalismus gleichzeitig der Motor einer guten Gesellschaft ist.

- Ein Wirtschaftssystem, das von der Gesellschaft nicht getragen und akzeptiert wird, neigt zur Selbstzerstörung. Am deutlichsten wird dieser soziale Sprengstoff in den Krisenländern Südeuropas, wo aus der wirtschaftlichen Rezession, auch durch falsche Politik, längst eine gesellschaftliche Depression geworden ist.

- Auch hierzulande führt die wachsende Ungleichheit zu enormen gesellschaftlichen Fliehkräften. Privatschulen boomen, während 50.000 Jugendliche jedes Jahr ganz ohne Abschluss von der Schule gehen. Luxusviertel boomen, während die Mietexplosion Geringverdiener aus den Innenstädten vertreibt. Die Top-Einkommen boomen, während sich Millionen Vollzeitarbeiter ihren Lohn auf dem Amt aufstocken lassen müssen. Wir müssen diese Fliehkräfte bändigen. Am Hausfrieden in unserem Gesellschaftsgebäude ist uns allen gelegen. Denn auch in der Penthouse-Etage lebt es sich nur sicher, wenn in der Mitte der Putz nicht bröckelt und es von den unteren Etagen Aufstiegsmöglichkeiten nach oben gibt.

- Der Lackmustest unseres demokratischen Anspruchs ist heute, den Primat der Politik gegen die anonyme Macht der globalen Finanzmärkte zu verteidigen. Daran entscheidet sich heute, in Willy Brandts Worten, ob wir "mehr Demokratie wagen". Denn viele Menschen haben das Gefühl, die großen Banken und Finanzkonzerne sind wie die Bärenführer, die die Politiker wie am Nasenring durch die Manege zerren. Mit mir wird es das nicht geben:

- Ich werde das "Too Big Too Fail" beenden, damit die Politik nicht mehr erpressbar ist - Trennbankensystem

- Ich werde den Anspruch einlösen, dass jedes Produkt, jeder Akteur, jeder Finanzplatz unter demokratische Aufsicht und Kontrolle gehört - Regulierung Schattenbankensektor


Ökonomie der Gerechtigkeit

Diese Leitplanken sind es, die den Kapitalismus zivilisieren. Sie richten sich aus an den Leitwerten der SPD: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Demokratie.

Ich will dabei einen letzten Punkt hervorheben: Nicht alle, aber manche Gerechtigkeitsforderungen sind gleichzeitig gerecht und ökonomisch sinnvoll. In diesen Fällen sind soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Erfolg keine Gegensätze, sondern bedingen einander. So verstandene Teilhabepolitik ist Wirtschaftspolitik im besten Sinne. Wir haben uns allzu sehr gewöhnt an das neoliberale Mantra 'Man muss erst erwirtschaften, was man verteilen kann'. Doch in vielen Fällen ist soziale Gerechtigkeit keine Wohltat, die vom Wachstum abhängt, sondern eine notwendige Voraussetzung für Wirtschaftswachstum. Für diese 'Ökonomie der Gerechtigkeit' gibt es zahlreiche Beispiele:

- Ein gesetzlicher Mindestlohn ist ökonomisch richtig, weil er die Binnennachfrage stärkt und unfairen Wettbewerb auf Dumping-Basis verhindert. Ein gesetzlicher Mindestlohn ist sozial gerecht, weil jeder, der den ganzen Tag arbeitet, von seiner Hände Lohn auch leben können muss.

- Aufstiegschancen durch Bildung sind ökonomisch richtig, weil sie dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Aufstiegschancen durch Bildung sind sozial gerecht, weil es nicht sein kann, dass soziale Herkunft den Lebensweg junger Menschen vorherbestimmt.

- Die Bändigung der Finanzmärkte ist ökonomisch richtig, weil Finanzmärkte für reale Wertschöpfung und nicht zur Spekulation da sind. Die Bändigung der Finanzmärkte ist sozial gerecht, weil es nicht sein darf, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden.

- Investitionen in Infrastruktur sind ökonomisch richtig, weil sie die Grundlagen für neues Wachstum sind, aber von privaten Märkten allein nicht gestemmt werden. Investitionen in Infrastruktur sind sozial gerecht, weil sie Lebensqualität und Berufschancen für alle verbessern, auf der Stadt wie auf dem Land.

Um noch einen letzten großen Sozialdemokraten zu zitieren, möchte ich für das Verhältnis von Staat und Markt den Satz von Karl Schiller anführen: "So viel Markt wie möglich und so viel Staat wie nötig." Diese Maxime ist allemal besser als die ideologischen Verkrampfungen, mit denen uns neoliberale Modernisierer und nostalgische Sozialisten langweilen. Und sie gibt Raum für Fälle wie diese, wenn der Wachstumsdrang des Marktes und der Gerechtigkeitsdrang des Staates Hand in Hand gehen. Es sind wir Sozialdemokraten, die diese Ökonomie der Gerechtigkeit ab dem 22. September umsetzen wollen!

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Quelle:
SPD-Pressemitteilung 131/13 vom 8. April 2013
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2013