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EUROPA/1273: Rede von Sigmar Gabriel zur Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 13.12.2012


SPD-Pressemitteilung 465/12 vom 13. Dezember 2012

Rede des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Sigmar Gabriel im Rahmen der Debatte zur Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 13. Dezember 2012 im Deutschen Bundestag



- Es gilt das gesprochene Wort -

Es ist glaube ich ganz gut, wenn wir uns nach dieser Rede mal die Realitäten in Europa anschauen. Diese Realitäten nach 27 EU-Gipfeln und nach 27 derartiger Regierungserklärungen, wie Sie sie heute hier wieder abgegeben haben. Diese Realität sieht in schlichten Zahlen wie folgt aus:

18,2 Millionen Menschen sind zur Zeit in der Europäischen Union arbeitslos.

Das ist knapp eine halbe Million mehr als vor drei Jahren. Tendenz: steigend.

Noch schlimmer: die Jugendarbeitslosigkeit ist in den letzten drei Jahren in Europa von 18 auf fast 23 Prozent gestiegen. Das sind 240.000 junge Menschen mehr, die keine Ausbildung und Arbeit in Europa finden.

Und die Schulden in der europäischen Währungsunion sind im gleichen Zeitraum ebenfalls gestiegen: um sage und schreibe eine Billion EURO!

Das, Frau Bundeskanzlerin, ist die bittere Wahrheit in Europa - jenseits ihrer salbungsvollen Regierungserklärungen. Und das haben Sie und Ihre konservativen Freunde ganz persönlich zu verantworten!

Hinzu kommt: Im gleichen Zeitraum ist der Anteil Deutschlands an den diversen Euro-Rettungspaketen von anfangs 8,4 Milliarden Euro auf 370 Milliarden Euro und nun zusammen mit der Haftung für die gemeinsame Verschuldung über die Europäische Zentralbank auf insgesamt über 1 Billion Euro gewachsen.

Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben 27 Mal das genaue Gegenteil versprochen. Und 27 Mal ihre Versprechen gebrochen. Auch das ist ein neuer Gipfel in der deutschen Politik.

Sie haben eben die Rede von Herman van Rompuy zitiert, nach der wir alle dafür arbeiten, unseren Kindern ein besseres Europa zu hinterlassen.

Sie, Frau Bundeskanzlerin, hinterlassen unseren Kindern ein schlechteres Europa, in dem für Millionen Menschen weniger Hoffnung und Zuversicht herrscht aber dafür Frust und Unsicherheit.

Wahrlich eine "schöne Bescherung", die Sie da zu Weihnachten 2012 angerichtet haben.

Und statt nun zu sagen, was Sie gegen diese dramatische Entwicklung zu tun gedenken, was Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen beim Europäischen Rat vorschlagen wollen, halten Sie hier wolkige Reden.

Was Sie uns hier vorstellen, ist keine Regierungserklärung, denn Sie erklären ja nichts.

Die Wahrheit ist: Sie können auch nichts zu dieser dramatischen Wirtschaftsentwicklung in Europa und zur steigenden Arbeitslosigkeit erklären, sonst müssten Sie ja zugeben, dass Sie sie mit Ihrer Politik selbst herbei geführt haben.

Man muss nichts Volkswirtschaft studiert haben, um zu wissen, was passiert, wenn man 27 Staaten der Europäischen Union zeitgleich eine reine Sparpolitik verordnet.

Die Folge ist natürlich, dass die europäische Wirtschaft geradewegs in eine Rezession rauscht. Und genau da stehen wir jetzt in Europa.

Immer standen Sie, Frau Bundeskanzlerin, an der Spitze derjenigen, denen die Sparmaßnahmen und Kürzungen noch nicht weit und schnell genug gingen.

Und nur ein einziges Mal haben Sie in dieser Zeit zaghaft Vorschläge für Wachstum und Beschäftigung unterbreitet.

Und das war, als SPD und Grüne Sie hier im Bundestag bei der Abstimmung zum Fiskalpakt dazu gezwungen haben. Nur wirklich umgesetzt haben Sie davon bislang nichts.

Im Gegenteil: Zwar haben die Staats- und Regierungschefs im Juni einen Wachstums- und Beschäftigungspakt beschlossen, aber nur ein paar Wochen später blockieren Sie das Geld dafür, weil Sie sich nicht auf einen wachstumsorientierten EU-Haushalt einigen können.

Und statt nun endlich darüber zu beraten, was ganz praktisch getan werden muss, um nicht immer mehr junge Menschen arbeitslos werden zu lassen, was getan werden muss, um wieder zu Wachstum und Beschäftigung zu kommen, irrlichtert Ihre Regierung in der Europäischen Institutionendebatte herum. Von sofortiger Volksabstimmung über Europa, den Rausschmiss Griechenlands bis hin zur Abgabe von Souveränität nach Brüssel: in Ihrer Regierung findet man auch die gegensätzlichsten Positionen.

Europa braucht jetzt keine Geisterfahrer in der Institutionendebatte, sondern es geht aktuell ganz konkret um drei Fragen:

Erstens: wie verhindern wir die Wiederholung der Finanzmarktkrise?

Zweitens: Was können wir tun, um die Wirtschaft in Europa wieder in Gang zu bekommen?

Drittens: wie soll das Europa von morgen aussehen, damit die Währungsunion endlich auch mit einer politischen Union Hand in Hand geht?

Die Antwort auf die erste Frage, als die Frage wie wir die Wiederholung der Krise verhindern, haben Herman Van Rompuy, Manuel Barroso, Jean-Claude Juncker und Mario Draghi in ihrem "Fahrplan zu einer echten Wirtschafts- und Finanzunion" ja gegeben: Alle drei fordern eine robuste Regulierung der Finanzmärkte.

Das Problem ist nur: Ausgerechnet die deutsche Bundesregierung blockiert diese Regulierung. Van Rompuy, Juncker und Draghi sagen zu Recht, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen bei weitem nicht reichen - entgegen den vollmundigen Ankündigungen des deutschen Bundesfinanzministers.

Das Handelsblatt schreibt dazu: "Auf den europäischen Wertpapiermärkten geht der Wildwuchs weiter" (7.12.2012).

- Der Schattenbankensektor ist nach wie vor unreguliert - hier kommen Sie über Absichtserklärungen nicht hinaus.

- Geschäfte mit Derivaten finden weiter großteils im rechtsfreien Raum statt.

- Die Beteiligung des Finanzsektors an den Krisenkosten - allein in Deutschland über 20 Milliarden Euro an direkten Kosten, die indirekten Kosten sind um ein Vielfaches höher - ist nicht erfolgt.

Im Übrigen ist es die deutsche Bundesregierung von CDU/CSU und FDP, die sich in der EU gegen eine wirksame Begrenzung der Gehaltsexzesse zur Wehr setzt. Erst erklären Sie diese Bankenunion als den neuen Königsweg bei der Neuordnung des europäischen Bankenwesens. Und dann stehen Sie selbst permanent auf der Bremse bei der Realisierung dieser Bankenunion. Seit heute Nacht wissen wir: sie kommt frühestens 2014 - also nach der Bundestagswahl.

Warum eigentlich?

Der Grund liegt auf der Hand:
Während hier der Deutsche Bundestag auf Antrag Ihrer eigenen Fraktion im Juni beim Fiskalpakt beschlossen hat, dass es keine direkte Bezuschussung von europäischen Banken aus dem neuen Rettungsschirm geben soll, haben Sie am gleichen Tag in Brüssel das genaue Gegenteil beschlossen.

Während hier vollmundig versprochen wurde, dass die Steuerzahler nicht mehr für Bankenpleiten zur Kasse gebeten werden sollen, haben Sie Ihren konservativen Freunden in Spanien und Italien genau das versprochen. Sobald die Bankenunion steht, soll es Geld vom Steuerzahler direkt an Banken geben. Und weil Sie das der deutschen Öffentlichkeit lieber vor der Bundestagswahl verschweigen, blockieren Sie jetzt die Neuregelung des europäischen Bankenwesens.

Damit wir uns richtig verstehen: Mit uns wird es weder eine Haftung der Volksbanken und Sparkassen für europäische Banken geben, noch werden wir zulassen, dass Sie Ihren konservativen Freunden Bankenrekapitalisierungen versprechen, die nach dem deutschen Gesetz verboten sind. Wir wollen, dass Gläubiger und Aktionäre Verantwortung für die Rettung von Banken übernehmen und vor allem die Banken selbst einen Bankenfonds finanzieren und nicht immer wieder der Steuerzahler zur Kasse gebeten wird.

Sie tun nichts, um eine Wiederholung der Finanzmarktexzesse auszuschließen. Das ist wohl Ihr größtes europäisches Versagen in den letzten drei Jahren. Die zweite Frage lautet: wie schaffen wir wieder Wachstum und Arbeit in Europa, um darüber auch die zu hohen Staatsschulden abbauen zu können?

Auch da ist die Antwort klar:

mit den Mitteln des EU-Haushaltes,

mit den zusätzlichen Mitteln aus der Besteuerung der Finanzmärkte

mit einer wirksamen Bekämpfung der Zinsfalle, in der viele unserer Nachbarn seit drei Jahren stecken

und übrigens auch durch eine aktive Bekämpfung der Steuerhinterziehung in Deutschland und Europa.

Und was tun Sie, Frau Bundeskanzlerin?

Sie schließen einen fast faustischen Pakt mit dem britischen Premier Cameron und blockieren einen handlungsfähigen EU-Haushalt. Sie müssen bei der Finanzmarktbesteuerung nach wie vor zum Jagen getragen werden.

Und Sie wollen kriminelle Steuerhinterziehung in Europa noch vertraglich legitimieren, wie hier in Deutschland mit dem abenteuerlichen Steuerabkommen mit der Schweiz.

Wie sehr es notwendig ist, den Großbanken das Steuerhinterziehungshandwerk zu legen, haben die Aktionen der Frankfurter Staatsanwaltschaft gestern bei der Deutschen Bank mal wieder gezeigt.

Sie haben ja bislang den Deutschen vorzumachen versucht, dass ginge uns alles nichts an. Das seien Entwicklungen, die uns nicht berühren. Und die anderen Länder hätten eben nun die Konsequenzen aus den Fehlern der eigenen Politik zu tragen. Deutschland dagegen, stehe blendend da.

Die Wahrheit ist: die europäische Krise hat längst die deutsche Grenze überschritten.

Ob Ford, MAN oder Bosch: fast jeden Tag lesen wir neue Anträge auf Kurzarbeit, weil die Aufträge aus Europa in den deutschen Unternehmen wegbrechen. Es war eben immer eine Lebenslüge zu glauben, dass es Deutschland egal sein könne, wie es unseren Nachbarn geht. Wer soll unsere Produkte kaufen, wenn überall in Europa die Wirtschaft zusammenbricht?

Und wenn Sie schon in Europa nichts gegen die Wirtschaftskrise tun wollen oder können, was tun Sie eigentlich in Deutschland dagegen?

Die Bundesbank erwartet für Deutschland im Jahr 2013 nur noch ein Wachstum von 0,4 Prozent. Angesichts dieses Wirtschaftseinbruchs und der drohenden Folgen für den Arbeitsmarkt müsste man ja von einer Regierung erwarten, dass Sie vorausschauend Vorsorge trifft. Zum Beispiel indem man den Investitionshaushalt stärkt und die Binnennachfrage. Schaut man in Ihren Haushalt, so ist da praktisch Fehlanzeige.

Ihre angebliche Vorsorge für die Kurzarbeit umfasst gerade mal 100 Millionen Euro im kommenden Bundeshaushalt. Nur damit Sie mal eine Relation davon bekommen, was eine wirksame Kurzarbeiterregelung tatsächlich kostet: fünf Milliarden Euro. Bei Ihnen geht es immer nur um den Schein und nie um Substanz.

Stattdessen unsinnige Steuergeschenke an Lobbyisten, abenteuerliche Ausgaben wie das Betreuungsgeld und Klientelgeschenke an Apotheker, die inzwischen offenbar das Ministerium Ihres FDP-Gesundheitsministers kontrollieren - eigentlich sollte es umgekehrt sein.

Unter Ihrer Amtsführung sind wir zur Lobbyrepublik Deutschland verkommen.

100 Milliarden Euro neue Schulden haben Sie in Deutschland in nur vier Jahren aufgetürmt. Und das in einer Zeit von wirtschaftlichem Wachstum, niedriger Zinsen und niedriger Arbeitslosigkeit. 100 Milliarden Euro, in denen kein Cent für die Eurorettung enthalten ist, sondern die nur der Befriedigung ihrer zankenden Koalitionskinder dienten. Und das, während sie anderen Staaten Sparsamkeit empfehlen. Glaubwürdigkeit in Europa sieht anders aus.

Und auch bei der dritten Frage, wie das Europa von morgen aussehen soll, bleiben sie wolkig, unkonkret und technokratisch.

Ihr Europa soll weiterhin ein Konkurrenzeuropa sein, bei dem nur genug gespart und gestrichen werden muss, dann kehr die Wettbewerbsfähigkeit eines jeden Landes quasi automatisch zurück. Frau Bundeskanzlerin, es reicht nicht, einen Sparkommissar einzusetzen und Schuldenbremsen zu vereinbaren.

Und es reicht übrigens auch nicht, nach mehr Europa zu rufen. Worum es eigentlich geht, ist ein anderes Europa zu schaffen. Ein Europa, in dem in die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit bewusst investiert wird. Nicht kurzfristig, sondern über Generationen.

Ein Europa, in dem Deutschland nicht niedrige Löhne und geringe Steuern als Waffe gegen die Wettbewerbsfähigkeit seiner Nachbarn einsetzt.

Ein Europa, das sich wieder traut, seine Gemeinwohlaufgaben durch Steuern und nicht durch Schulden zu finanzieren.

Ja, wir müssen weg vom Schuldenstaat. Der Schuldenstaat ist unsozial und ungerecht. Aber das werden wir nicht schaffen, wenn wir uns in Europa gegenseitig weiter Konkurrenz dabei machen, wer die niedrigsten Steuern und Sozialabgaben erhöht.

Ein Europa, in dem Deutschland sich nicht weigert, die Zinsspekulationen der Finanzmärkte gegen unsere Nachbarn und gegen den Euro Einhalt zu gebieten.

Und ein Europa, in dem nicht die Staats- und Regierungschefs und Bürokraten in Brüssel über die Zukunft von 500 Millionen Menschen entscheidet, sondern frei gewählte nationale Parlamente zusammen mit einem frei gewählten europäischen Parlament.

Zu all dem, haben Sie wie immer in Ihrer Regierungserklärung nichts gesagt.

Wie beschreibt Sie der "SPIEGEL" so treffend:

"Noch nie hat ein deutscher Regierungschef so leidenschaftslos nach Brüssel geblickt. (?) (Merkel) wird (?) nach Oslo fahren, wenn die Gemeinschaft den Friedensnobelpreis überreicht bekommt. Aber das ist nur ein Schauspiel für das Publikum."

Ein "Schauspiel für das Publikum", mehr war ihre Regierungserklärung auch heute nicht.

Und das, Frau Bundeskanzlerin, reicht einfach nicht.

*

Quelle:
SPD-Pressemitteilung 465/12 vom 13. Dezember 2012
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Dezember 2012