Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

AFRIKA/1303: Tunesien - Erfolg für die "Volksfront" (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 45 vom 7. November 2014
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Erfolg für die "Volksfront"
Nach der Parlamentswahl in Tunesien stehen weitere soziale und politische Auseinandersetzungen an

von Pierre Poulain



Vieles deutet darauf hin, dass sich die Bildung einer neuen Regierung in Tunesien bis zu der für den 23. November angesetzten Neuwahl eines Staatspräsidentenverschieben wird.

Das am 29. Oktober von der unabhängigen Wahlkommission (ISIE) bekannt gegebene vorläufige amtliche Wahlergebnis der Parlamentswahl vom 26. Oktober 2014 ist zwiespältig. Es lässt sich in folgende Punkte zusammenfassen:

* Die unter religiösem Etikett angetretene islamistische Ennahda ("Wiedergeburt"), die es nach der tunesischen Revolution im Januar 2011 verstanden hatte, sich mit Hilfe von zwei bürgerlichen Hilfstruppen und gestützt auf den Einfluss moslemischer Geistlicher und der sozialen Netzwerke bei den Moscheen eine zentrale Machtposition zu verschaffen, wurde aus ihrer Spitzenstellung verdrängt. Hatte sie in der im November 2011 gewählten Verfassunggebenden Versammlung mit 90 Mandaten noch die absolute Mehrheit, so wurde sie jetzt mit 69 von 217 Abgeordneten im neuen Parlament nur noch zweistärkste Partei.

* Die zwei nicht-religiösen Steigbügelhalter für die Ennahda in der sogenannten "Troika" erlebten ein Fiasko: der "Kongress für die Republik" (CPR) wurde von 29 auf nur noch 4 Abgeordnetensitze, die sozialdemokratische Ettakol von 20 auf nur noch 1 Mandat reduziert.

* Stärkste Partei wurde diesmal die erst im April 2012 gebildete Partei Nida Tounes ("Ruf Tunesiens") mit 85 Sitzen. Sie verdankt ihren Wahlsieg vor allem dem Umstand, dass sie von vielen Wählerinnen und Wählern als der einzige aussichtsreiche nichtreligiöse Gegenpol zu den Islamisten angesehen wurde.

* Angesichts der Polarisierung des Wahlkampfs zwischen den zwei großen Blöcken Nida Tounes und Ennahda ist es als außerordentlich bemerkenswertes Ergebnis anzusehen, dass die von dem Kommunisten Hamma Hamami geführte linke "Volksfront" nun zur viertstärksten Partei im tunesischen Parlament wurde, mit 15 Abgeordnetensitzen. In einzelnen Wahlbezirken erreichte sie höhere Stimmenanteile, so im Wahlbezirk Siliana (223 000 Einwohner) 11,6 Prozent. In der Verfassunggebenden Versammlung waren die "Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens" und die "Bewegung demokratischer Patrioten", die sich nun mit anderen Linkskräften zusammengetan haben, nur mit zusammen 4 Abgeordneten vertreten.

* Erfolgreich war leider auch die von dem Großunternehmer Slim Riahi finanzierte und geführte "Freie Patriotische Partei" (UPL), der gleichzeitig Präsident des erfolgreichen Fußballvereins Club Africain in Tunis ist. Die sich wirtschaftsliberal präsentierende rechtsbürgerliche Partei kam mit einem aufwändig geführten Wahlkampf mit 16 Abgeordnetensitzen auf den dritten Platz.

* Die verbleibenden 27 Abgeordnetenmandate verteilen sich in großer Zersplitterung auf 12 weitere Parteien mit zumeist 1-3 Abgeordneten. Nur die gleichfalls "liberal" auftretende Afek Tounes ("Horizonte Tunesiens") kam noch auf acht Mandate.

Das Wahlergebnis widerspiegelt einerseits eine positive Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse von den Islamisten zum bürgerlich-demokratischen weltlichen Parteienspektrum. Diese Wende kam nicht erst mit den Parlamentswahlen zustande. Sie war das Ergebnis eines monatelangen hartnäckigen Kampfes mit eindrucksvollen Massenaktionen und außerparlamentarischen Bewegungen, die im März letzten Jahres den Rücktritt der Ennahda-Regierung und deren Ersetzung durch ein "Kabinett der Fachleute" erzwangen. In konfliktreichen Auseinandersetzungen konnte die Verabschiedung einer Verfassung durchgesetzt werden, die zwar den bürgerlich-demokratischen Rahmen nicht übersteigt und auch einige Zugeständnisse an die Islamisten aufweist, aber auch von Vertretern der Linken als "echte demokratische Verfassung" beurteilt wird. Eine maßgebliche Rolle bei der Durchsetzung dieser Wende hat der tunesische Gewerkschaftsbund UGTT gespielt.

Andererseits ist derzeit aber noch kaum zuverlässig zu übersehen, wie es in Tunesien politisch weitergehen wird. Die an die Spitze gelangte Nida Tounes ist ein Gemisch aus sehr unterschiedlichen Kräften. Zu ihren Unterstützern gehören sowohl Unternehmer und Angehörige der Oberschichten wie erhebliche Teile der Mittelschichten und Gewerkschafter, aber auch ehemalige Unterstützer des gestürzten Ben-Ali-Regimes. An ihrer Spitze steht der 88-jährige bürgerliche Politiker Béji Essebsi, der schon unter Habib Bourguiba, dem Führer der tunesischen Unabhängigkeitsbewegung und ersten Staatspräsidenten Tunesiens Ministerämter innehatte. Essebsi und seine Mitstreiter verstanden es im Wahlkampf geschickt, an den Traditionen des teilweise auch "antiimperialistisch" gefärbten "Nationalismus" der Bourguiba-Ära anzuknüpfen und sich gegen eine "Zersplitterung" der Demokraten gegenüber der "Islamisten-Gefahr" in Szene zu setzen.

Da Nida Tounes nicht allein regieren kann, ist sie auf eine Koalition angewiesen. Angesichts der großen Zersplitterung des übrigen bürgerlichen Lagers ist das Erreichen einer stabilen Parlamentsmehrheit aber kein leicht zu lösendes Problem. Manche Kreise drängen unter Verweis auf die für Tunesien notwendige "wirtschaftliche und politische Stabilität" darauf, Ennahdha trotz der scharfen Konfrontation im Wahlkampf in die künftige Regierungskonstellation einzubeziehen. Dies würde allerdings für viele Unterstützer und Wähler von Nida Tounes glatter Verrat an den im Wahlkampf vertretenen Positionen bedeuten und jedenfalls nicht ohne eine starke innere Zerreißprobe machbar sein. Eben deshalb scheinen die Nida-Tounes-Führer zunächst auf ein Hinausschieben der Regierungsbildung bis nach der Präsidentenwahl im November auszugehen, bei der Essebsi als aussichtsreicher bürgerlichdemokratischer Kandidat ins Rennen gehen will.

So oder so zeichnet sich ab, dass in Tunesien zunächst ein bürgerlich-demokratisches Regime installiert wird, dessen maßgebliche Kräfte vor allem den "wirtschaftlichen Wiederaufstieg" Tunesiens zum Ziel haben und darunter vor allem die Förderung der einheimischen Unternehmer und die Einräumung noch günstigerer Konditionen für das Auslandskapital verstehen. Dass dies den Interessen der großen Mehrheit der tunesischen Bürgerinnen und Bürger nicht gerecht werden kann, ist absehbar. Die demokratischen und linken Kräfte des Landes werden also damit konfrontiert sein, dass für die Durchsetzung der ursprünglichen sozialen und gesellschaftspolitischen Anliegen und Ziele der tunesischen Revolution weitere starke soziale Bewegungen und Kampfaktionen erforderlich sind.

*

Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 46. Jahrgang, Nr. 45 vom 7. November 2014, Seite 7
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
Anschrift von Verlag und Redaktion:
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Telefon 0201 / 22 54 47
E-Mail: redaktion@unsere-zeit.de
Internet: www.unsere-zeit.de
 
Die UZ erscheint wöchentlich.
Einzelausgabe: 2,80 Euro
Jahresbezugspreise:
Inland: 126,- Euro, Ausland: 130,-
Ermäßigtes Abo: 72,- Euro
Förder-Abonnement: ab 150 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. November 2014